Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Veranstaltung „Vor 80 Jahren. Flucht über das Haff in Ostpreußen“ vor ausverkauftem Haus
Ostpreußen – was fällt jungen Menschen ohne familiäre Bezüge ein, wenn man sie nach Deutschlands östlichster Provinz befragt? In aller Regel sind es nicht Elche, Trakehner oder Bernstein, nicht Kant, Kollwitz oder Kopernikus, sondern die dramatischen Fluchtereignisse 1945 durch Schnee und Eis, die sich tief im kollektiven Gedächtnis unseres Landes verankert haben.
An diesem 13. Januar jährte sich zum 80. Mal der Tag, an dem „das Wecken aller Schulkinder von Masuren bis an die Memel die russische Artillerie [besorgte]. Sie rollte mit ihrem Donner im Nordosten auf Tilsit, Gumbinnen und Insterburg zu.“ So erinnert sich der Schriftsteller Arno Surminski in seinem autobiographisch geprägten Erstlingswerk „Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland“. Ostpreußen wurde in den Folgewochen von der Roten Armee überrannt, Hunderttausende gingen auf die Flucht, um den Kämpfen und der zu erwartenden Rache der Sowjets nach jahrelangen deutschen Verbrechen gerade an der Ostfront zu entgehen. Es waren vor allem Alte, Frauen und Kinder, die wehrfähigen Männer waren längst eingezogen.
Zigtausende sollten die Strapazen, die Kälte und die Kampfhandlungen, darunter gezielte Attacken der Roten Armee auf die Flüchtlingstrecks, nicht überleben. Keine Region in Deutschland wurde so von Krieg und Zerstörung getroffen wie Ostpreußen, zumal hier nach Eroberung und Kriegsende noch Besatzungswillkür, Deportationen und Vertreibung folgten.
Übernachtung auf dem Eis
Der Weg über das zugefrorene Haff gehört zu den schrecklichsten Eindrücken all derjenigen, welche die Flucht überlebten und ihre Erfahrungen niederschreiben oder an die Kinder und Enkel berichten konnten. Auf den von der Wehrmacht eingerichteten, etwa acht Kilometer langen, parallel vom Festland zur Nehrung verlaufenden „Eisstraßen“ waren die Trecks Artillerie- und Tieffliegerangriffen schutzlos ausgesetzt.
Immer wieder wurden Bomben abgeworfen und so die Eisdecke zerstört, sodass die schweren Wagen mit Mensch und Pferden oft in wenigen Momenten versanken – ohne Hoffnung auf Rettung, denn niemand durfte sich dem brüchigen Eis nähern. Kein Wunder, dass die Wagen und Fußgänger kaum vorankamen. Oft dauerte die Passage mehr als einen Tag, es musste vielfach auf dem Eis übernachtet werden. Teilweise war dann das Betreten der mit Wagen verstopften Nehrung nicht möglich oder wurde verwehrt, sodass parallel zum sicheren Land weiter auf dem Eis getreckt werden musste.
Notwendig geworden war dieser schreckliche Umweg nach einem raschen, von Süden kommenden sowjetischen Vorstoß auf Elbing, Frauenburg und Tolkemit, womit der Landweg nach Westen den Flüchtlingszügen versperrt war. Die wenige Hundert Meter schmale und etwa 70 Kilometer lange Nehrung war allerdings noch frei und bot Hoffnung auf Rettung, in das zunächst noch von der Wehrmacht gehaltene Danzig oder zum ebenfalls noch freien Pillau für eine Schiffspassage über die Ostsee zu gelangen.
Diesem Schrecken vor 80 Jahren war ein Themenabend gewidmet, den am 16. Januar das Lüneburger Ostpreußische Landesmuseum (OLM) gemeinsam mit seiner Partnereinrichtung ausrichtete, dem Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen (KOE). Er sollte die Toten und Überlebenden würdigen und erinnern an die Opfer, an die Leidtragenden und an die, welche damals über sich hinauswuchsen.
Mahnung und Auftrag zugleich
Vor ausverkauften Reihen begrüßte der amtierende Museumsdirektor die Gäste und erinnerte an den auf den Tag genau vor 90 Jahren geborenen Erfolgs-Fußballtrainer Udo Lattek, der wie so viele mit seiner Mutter und Schwester als Zehnjähriger über das zugefrorene Haff fliehen musste. Klaus Mika, Vorstandsvorsitzender der Ostpreußischen Kulturstiftung (OKS, Trägerin beider Einrichtungen) und Initiator dieses Abends, erinnerte daran, dass zu lange von Frieden in Europa ausgegangen wurde; die Ereignisse vor 80 Jahren sollten auch den heute Verantwortlichen Mahnung und Auftrag sein.
Im Anschluss wurde das Publikum eingestimmt auf das Grauen auf dem Eis des Frischen Haffs. Die Schauspielerin Isabel Arlt las aus Tagebüchern und Erinnerungen, die sich in den Archiven des Landesmuseums und des Kulturzentrums finden, und die zeitnah nach Kriegsende entstanden, mithin als besonders authentisch anzusehen sind. Man hätte eine Nadel fallen hören können, so waren die Zuhörer von den eindringlich vorgetragenen Texten gepackt.
Unterbrochen wurde die Lesung von einem glänzenden Vortrag des Lüneburger Kurators für Flucht und Vertreibung, Eike Eckert, der die Ereignisse kontextualisierte und detailreich und faktensatt das Fluchtgeschehen 1944/45 vorstellte – von der Bombardierung Königsbergs durch die britische Royal Air Force im August 1944, der noch geordnet verlaufenden Evakuierung der nordöstlichen ostpreußischen Kreise in den Folgewochen, den ersten Einbrüchen der Roten Armee auf deutschen Boden (Nemmersdorf) bis hin zum Versagen der NS-Behörden unter Gauleiter Erich Koch, der Zivilbevölkerung rechtzeitig die Möglichkeit einzuräumen, vor der Front und den Gewaltexzessen der Eroberer evakuiert zu werden.
Auch wer sich schon länger mit dem Thema beschäftigt hat, lernte hier viele neue Details kennen. Überraschend, wie wichtig die Eisstraßen auch für Zehntausende verwundete Soldaten waren, die aus dem Heiligenbeiler Kessel noch ausgeschifft werden sollten; auch, dass ein Eisbrecher eine 40 Meter breite Schneise parallel zur Nehrung freihielt, um Torpedobooten und Munitionstransporten vom eingeschlossenen Elbing den Weg nach Pillau zu ermöglichen, dafür aber den Flüchtlingen für mehrere Tage das Weiterkommen verwehrte, bis Pioniere auf dem nachgefrierenden Haffwasser eine schwankende Bohlenbrücke errichten konnten.
Diskussion über schwierige Quellenlage
Den Abschluss des Abends bildete eine Podiumsdiskussion mit Experten.
Mähnert richtete verschiedene Fragen an Gunter Dehnert, Direktor des Kulturzentrums Ostpreußen, und Christopher Spatz, der über das Schicksal der Wolfskinder promoviert hat. Diskutiert wurde die schwierige Quellenlage und fehlendes oder durch Propaganda beeinflusstes Bildmaterial.
Spatz gab Literatur- und Filmempfehlungen und erzählte, wie er damit umging, über Jahre sich mit kaum erträglichen menschlichen Schicksalen beschäftigen zu müssen. Dehnert ging auf die unterschiedlichen Erfahrungen ein, welche die Ostpreußen anders als die Deutschen in den westlichen Reichsgebieten machen mussten – mehr Gewalt und Zerstörung schon bei der Eroberung und ein Kriegsende im Mai 1945, das für die Ostpreußen keinen Frieden brachte. Der Abend klang aus mit Spekulationen, wie wohl der 90. Jahrestag erinnert werden wird, wenn Zeitzeugen erstmals nicht mehr berichten können.
Ein Team des NDR war den ganzen Abend dabei und interviewte im Anschluss noch einige anwesenden Zeitzeugen oder deren Nachkommen. Zwei Stunden zog sich der Abend hin – aber das Publikum war bis Ende hoch konzentriert dabei. Langer Beifall zeigte – es war eine gelungene, vor allem aber eine wichtige Veranstaltung.