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Über die Lage auf dem Schlachtfeld in der Ukraine, die geopolitischen Auswirkungen des Krieges – und erste Schritte auf dem Weg zu einem Frieden – Teil 7 der PAZ-Sommerinterviews 2023
Anderthalb Jahre nach Ausbruch des Ukrainekriegs scheint das Geschehen auf den Schlachtfeldern festgefahren zu sein. Umso wichtiger sind die politischen Perspektiven. Fragen an einen Experten, der die ukrainische und die russische Armee ebenso kennt wie die Situation der NATO-Staaten und ihrer Streitkräfte.
Herr Kujat, seit unserem letzten Gespräch Anfang Juni ist viel geschehen. Die Ukraine hat ihre lange erwartete Offensive gestartet, und Russland wurde durch einen ominösen Putschversuch der Gruppe „Wagner“ erschüttert. Deren Kopf Jewgenij Prigoschin wiederum wurde vor wenigen Tagen Opfer eines Flugzeugabsturzes. Und im Westen halten die Debatten an, welche Waffen der Ukraine am besten helfen würden. Lassen Sie uns zunächst über die Lage im Kriegsgebiet sprechen. Wie steht es um die ukrainische Offensive?
Die Offensive war vorab mehrfach angekündigt und verschoben worden und hat schließlich am 4. Juni begonnen. Die Voraussetzungen dafür waren nicht schlecht. Es standen zwölf gut ausgerüstete Brigaden bereit, so dass die Ukraine durchaus einen starken Vorstoß hätte unternehmen können. Allerdings hat sich die ukrainische Führung dazu entschlossen, die Angriffe in kleineren Kontingenten durchzuführen, vermutlich aus Sorge vor der Luftüberlegenheit der Russen, für die ein breit aufgestelltes Kontingent ein leichtes Angriffsziel gewesen wäre.
Gleichwohl hat die Ukraine zunächst mit relativ starken Kräften angegriffen, dabei allerdings auch erhebliche Verluste erlitten. Dann kam eine Phase mit Vorstößen kleiner Kontingente an mehreren Orten gleichzeitig. Dabei sind punktuell einige Geländegewinne erzielt worden. Inzwischen werden wieder größere Angriffsformationen eingesetzt.
Allerdings sind die eigentlichen Verteidigungsstellungen der Russen an keiner Stelle durchbrochen worden. Denn die Verteidigungsanlagen an der gesamten Front sind sehr tief gestaffelt. Vorgelagert ist eine Überwachungszone von 15 bis 20 Kilometern Tiefe. Dahinter kommt ein stark befestigtes Gelände mit großen Minenfeldern, und erst dann folgen die ersten ausgebauten Verteidigungsstellungen, danach in einigem Abstand die zweiten. Und dahinter stehen schwere Waffen, mit denen die Russen in die Überwachungszone hineinwirken können. Die bisherigen Gefechte fanden also nur in der Überwachungszone statt.
Wie haben sich die Ukrainer in den bisherigen Kämpfen geschlagen?
Da sich ein Angreifer offen im Gelände exponieren muss und der Verteidiger von ausgebauten Stellungen aus mit seinen Waffen wirken kann, sind Verluste in einer Offensive generell höher als in der Defensive. Dies ist auch hier der Fall, weshalb die Ukraine extrem hohe Verluste erlitten hat. Hinzu kommt, dass die Russen wegen der Lufthoheit über dem Kampfgebiet ihre Kampfhubschrauber uneingeschränkt einsetzen können. Deshalb hat die Ukraine ihr erklärtes Ziel, die Landbrücke zwischen Russland und der Krim zu erreichen und damit die russischen Streitkräfte von ihrer logistischen Drehscheibe abzuschneiden, bisher nicht erreicht. Und es ist zweifelhaft, ob sie dieses Ziel erreichen wird.
Als Alternative haben die Ukrainer zuletzt weitere Waffensysteme gefordert, neben F16-Kampfflugzeugen auch „Taurus“-Marschflugköper, die sowohl eine große Reichweite als auch eine enorme Durchschlagskraft haben und nur schwer zu bekämpfen sind. Außerdem hat die Ukraine vermehrt Drohnenangriffe in der Tiefe des russischen Raumes, insbesondere in Moskau und gegen Verbindungswege zur Krim unternommen sowie angekündigt, auch Schiffsbewegungen im Schwarzen Meer und die dortigen russischen Häfen anzugreifen. Wörtlich sagte der ukrainische Präsident Selenskyj: „Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück in seine symbolischen Zentren und Militärstützpunkte.“ Der Luft-Boden-Marschflugkörper „Taurus“ ist für diesen Zweck besonders gut geeignet, erhöht jedoch gerade deshalb das Eskalationsrisiko – und exponiert Deutschland in besonderer Weise.
Hat sich mit dem Stopp der Bodenoffensive auch das Kampfgeschehen insgesamt – wie im Ersten Weltkrieg – festgefahren?
Der Vergleich zum Ersten Weltkrieg wird oft gezogen. Auch damals, heißt es, sei der Bewegungskrieg stagniert und in einen Stellungskrieg übergegangen, bei dem alle Seiten nur noch kleinere Erfolge erzielen konnten. Doch diesen Verlauf sehe ich in der Ukraine nicht.
Mein Eindruck ist vielmehr, dass wir hier eine asymmetrische Kriegführung sehen. Die Ukraine will, um ihre Standfestigkeit und Handlungsfähigkeit gegenüber dem Westen zu demonstrieren, die ja Voraussetzung dafür ist, dass sie weitere Unterstützung erhält, verlorenes Gelände zurückerobern. Deswegen werden auch kleinere Gewinne wie ein Vorstoß von hundert oder zweihundert Metern als Fortschritt gemeldet.
Allerdings verkennen diese Meldungen die Strategie der Russen. Diese haben sich vor einigen Monaten zu einer strategischen Defensive entschlossen. Ihr Interesse ist derzeit, die ukrainischen Streitkräfte so weit wie möglich abzunutzen und so – um den Clausewitzschen Begriff zu gebrauchen – den Gegner wehrlos zu machen.
Meine Vermutung ist, dass sie dann, wenn die ukrainischen Streitkräfte genug geschwächt sind, zu einem Angriff ansetzen werden, um bis an die Grenzen der Verwaltungsgebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja vorzustoßen und damit das Gebiet, das sie am 30. September letzten Jahres annektiert haben, zu konsolidieren. Möglich ist, dass auch Odessa mit eingeschlossen wird, da es eine alte russische Stadt ist.
Käme es so, könnte Russland erklären, dass das Ziel seiner „militärischen Spezialoperation“ erreicht ist. Die Ukrainer stünden dann mit ihren Unterstützern vor der Frage, ob es sinnvoller ist, auf Verhandlungen oder auf eine Fortsetzung des Abnutzungskrieges zu setzen ...
... bei dem die Ukrainer jedoch kaum Chancen auf Erfolg hätten, die Russen allerdings warten könnten, bis ihnen die Kräfte ausgehen.
Das ist der entscheidende Punkt. Je länger der Krieg dauert und je höher damit die Abnutzung der Ukrainer ist, desto größer sind die Chancen der Russen, ihre Ziele durchzusetzen. Und desto geringer sind die Aussichten der Ukraine, die strategische Gesamtlage zu ihren Gunsten zu verändern.
Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die personellen Verluste auf der ukrainischen Seite enorm sind. Dies wird oft ausgeblendet, dabei entscheiden über Sieg und Niederlage in einem Krieg nicht die Waffen, sondern die Soldaten, die sie bedienen. Personelle Verluste können durch Waffensysteme allein nicht ausgeglichen werden. Und da der Westen erklärtermaßen keine eigenen Truppen in die Ukraine schicken will, geht den ukrainischen Streitkräften früher oder später die entscheidende Ressource aus, während die Russen in der Region gerade eine neue Armee aufstellen.
Aber dass die Russen den Krieg – jenseits der vier Verwaltungsgebiete – gewinnen können, erscheint auch nicht realistisch.
Diesen Krieg gewinnt niemand. Einen Krieg zu gewinnen heißt, die politischen Ziele, deretwegen man ihn führt, zu erreichen. Dies wird jedoch keiner Partei gelingen: Russland wollte eine NATO-Erweiterung verhindern und muss nun zusehen, dass Finnland und Schweden dem Bündnis beitreten. Die Ukraine wollte Mitglied der NATO werden und das gesamte seit 2014 verlorene Gebiet zurückerobern, und muss nun erkennen, dass beides Illusion ist.
Anders sieht es aus, wenn wir über Sieg oder Niederlage im engeren militärischen Sinn sprechen. Russland könnte nach der Eroberung des gesamten Gebiets, das Putin am 30. September 2022 zu russischem Staatsgebiet erklärt hat, also die genannten vier Regionen, durchaus von einem militärischen Sieg sprechen. Bereits seit einigen Tagen hat die russische Armee im Norden der Front, bei Kupjansk und Lyman, ihre Angriffe verstärkt. Bei schnellen Fortschritten könnte es sogar gelingen, ukrainische Kräfte, die im Süden den Durchbruch versuchen, einzukesseln.
Aus militärischer Sicht kann man außerdem nicht völlig ausschließen, dass die russischen Streitkräfte beabsichtigen, auch Gebiete westlich des Dnjepr zu erobern, denn sie haben die Brücken über den Fluss bisher nicht zerstört, obwohl dies gegenwärtig ein großer Vorteil wäre.
Zur Aufnahme von Verhandlungen heißt es auf westlicher Seite meist, dass Russland dafür Vorbedingungen nennt, die für die Ukraine nicht annehmbar sind.
Es haben ja bereits Ende März 2022 Verhandlungen stattgefunden, die aus meiner Sicht ein positives Ergebnis für die Ukraine brachten. Als unlängst einige afrikanische Staats- und Regierungschefs bei Putin waren, hielt dieser ein Papier in die Kameras und sagte, dass dies jene Vereinbarung sei, die beide Seiten kurz nach Kriegsbeginn erzielt hätten, dass sich jedoch die Ukraine anschließend auf Druck des Westens davon distanziert habe.
Vorbedingungen haben beide Seiten aufgestellt. Deshalb möchte ich an das chinesische Positionspapier vom Februar dieses Jahres erinnern. Darin fordern die Chinesen nicht, Verhandlungen aufzunehmen, sondern sie sprechen von: „resume peace talks“ – also von der Fortsetzung bei dem Stand, den sie erreicht hatten, bevor sie abgebrochen wurden. Diese Formel finde ich sehr gut.
Wenn sich beide Seiten darauf einigen könnten, ohne Vorbedingungen in Gespräche zu gehen, sehe ich eine Chance. Dass die elementaren Forderungen dann im Verlaufe der eigentlichen Verhandlungen auf den Tisch kommen, steht außer Frage.
Wie schätzen Sie die innere Lage der Russen ein? Dort hatte der Anführer der Gruppe „Wagner“, Jewgenij Prigoschin, am 23. Juni einen Marsch auf Moskau gestartet und diesen einen Tag später kurz vor den Toren der russischen Hauptstadt gestoppt. In der vergangenen Woche dann kam er unter mysteriösen Umständen ums Leben. Welchen Einfluss kann dies auf den weiteren Kriegsverlauf haben? Immerhin haben die „Wagner“-Söldner mit der Eroberung Bachmuts einen der wenigen offensiven Erfolge der Russen in jüngster Zeit erzielt.
Zu den innerrussischen Auswirkungen der Causa Prigoschin vermag ich nichts zu sagen.
Was „Wagners“ militärische Rolle angeht, hatte ich nicht den Eindruck, dass diese Gruppe wieder in der Ukraine eingesetzt werden sollte. Es gab einfach vor dem Putschversuch im Juni zu viele Auseinandersetzungen zwischen Prigoschin und der Führung des russischen Verteidigungsministeriums. Bachmut war wegen der örtlichen Bedingungen ein Sonderfall. Für die derzeitigen militärischen Operationen der russischen Streitkräfte sind die „Wagner“-Söldner nicht erforderlich, zumal es jetzt wichtig ist, das Prinzip Einheit der Führung zu wahren. Die Indizien verstärken sich offenbar, dass das Flugzeug nicht abgeschossen wurde, wie vorschnell behauptet wurde, sondern der Absturz durch eine Bombe an Bord verursacht wurde.
Lassen Sie uns nochmal zurückkommen zur Frage der Waffenlieferungen. Viele der bisher gelieferten Systeme, zum Beispiel die Mehrfachraketenwerfer HIMARS oder die Kampfpanzer Leopard 2, wurden vorab als „Game Changer“ gepriesen. Allerdings konnte bislang nichts die Lage tatsächlich verändern. Trotzdem haben wir nun die Debatte über die Lieferung von F16-Kampfjets und „Taurus“-Marschflugkörpern.
Zunächst einmal stimmt es, dass bisher jede neue Waffenkategorie als „Game Changer“ – also als ein System, dass die strategische Lage zugunsten der Ukraine verändern würde – angekündigt worden ist. Doch nichts davon ist eingetreten.
Ich erwarte auch, dass die F16-Kampfflugzeuge – die übrigens nur von den Europäern geliefert werden, während die US-Amerikaner erklärt haben, keine zu liefern – kein „Game Changer“ sein werden. Denn erstens erfordert die Ausbildung der Piloten einige Zeit, so dass die Flugzeuge gar nicht schnell zum Einsatz kommen. Und zweitens ist die russische integrierte Luftverteidigung äußerst wirksam. Der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Jake Sullivan, sagte darum auch vor wenigen Tagen: „Die amerikanischen militärischen Befehlshaber zweifeln daran, dass die F16 überhaupt eine entscheidende Rolle in dieser Offensive spielen würden.“
Woher kommen dann immer wieder diese Diskussionen dazu?
Zum Beispiel daher, dass die Ukrainer in ihrer misslichen Lage überlegen, welche westlichen Waffensysteme ihnen noch helfen könnten. Leider verstehen die meisten Journalisten und auch Politiker, die sich diesen Forderungen anschließen, nicht, worum es wirklich geht. Sie glauben, wenn wir mehr und leistungsfähigere Waffen liefern, könnte das doch noch dazu führen, dass die Ukraine einen militärischen Sieg erringt. Der US-amerikanische Generalstabschef Mark A. Milley hat jedoch schon Anfang November zu Verhandlungen aufgefordert, weil die ukrainischen Streitkräfte erreicht hätten, wozu sie in der Lage wären. Seitdem ist die militärische Lage der ukrainischen Streitkräfte immer kritischer geworden.
Auffallend ist, dass die Ukraine in jüngster Zeit in deutschen Medien etwas differenzierter betrachtet wird. So wurde wiederholt über das enorme Problem der Korruption bis in höchste Kiewer Kreise hinein berichtet.
Auch ich habe den Eindruck, dass die Berichte zur Ukraine weniger heroisierend sind. In den Vereinigten Staaten wird schon seit geraumer Zeit – und zwar auch von Spitzenpolitikern und Spitzenmilitärs – sehr viel offener über die Ukraine, den Krieg und seine Folgen für den Westen diskutiert.
Offensichtlich schwappt diese Diskussion jetzt ein bisschen zu uns herüber. Dabei spielt neben den Berichten über die Korruption auch die Erkenntnis eine Rolle, dass die überschwängliche Würdigung selbst kleinster ukrainischer Erfolge und die Behauptungen, dass die Lage des russischen Militärs völlig desaströs sei, nicht dazu geführt haben, dass sich die tatsächliche Lage der Ukraine verbesserte.
Sie sagten eben, dass keine Seite diesen Krieg gewinnen wird. Allerdings gibt es Stimmen, die meinen, dass die USA durchaus ein Gewinner des Krieges seien, weil sie zum Beispiel nun in großen Mengen ihr teures Flüssiggas nach Europa liefern können, da russisches Erdgas nicht mehr verfügbar ist. Andere Stimmen meinen dagegen, dass die Amerikaner durch ihr verstärktes Engagement in Europa in ihrem Hauptkonflikt mit China geschwächt wären. Wie bewerten Sie diese Frage?
Der Ukrainekrieg hat dazu beigetragen, dass das Entstehen einer neuen multipolaren Weltordnung an Dynamik gewonnen hat. Um China und Russland entsteht mit der BRICS-Gruppe ein neues politisches, wirtschaftliches und militärisches Machtzentrum, dessen Ziel es ist, die USA als führende Weltmacht abzulösen und die wirtschaftliche und finanzielle Dominanz des US-Dollars als Weltleitwährung zu beenden.
China treibt die Bildung einer rohstoffbasierten Reservewährung als Konkurrenz zum Petrodollar voran und stockt seit Monaten die Goldreserven auf. Vor wenigen Tagen erst ist die Gruppe um sechs Mitglieder erweitert worden, zahlreiche weitere Staaten streben entweder in diese Gruppe oder in die ebenfalls von China, Russland und Indien dominierte Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ).
Dass diese Allianz ernst zu nehmen ist, zeigt sich daran, dass ihr nun auch der alte US-Verbündete Saudi-Arabien angehört. China und Saudi-Arabien arbeiten eng auf dem globalen Ölmarkt und in der Nukleartechnologie zusammen, und der Handel wird in der jeweiligen Landeswährung und nicht mehr auf Dollarbasis abgewickelt. Besonders kritisch ist für die USA die Tatsache, dass eine Reihe südamerikanischer Staaten und zwei NATO-Staaten – Griechenland und die Türkei – der BRICS-Gruppe beitreten möchten.
Die USA versuchen, mit den Europäern durch die NATO und durch eine Stärkung der Allianz mit Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan ein geopolitisches Gegengewicht zu bilden. Es bilden sich also zwei antagonistische geopolitische Blöcke. In der US-Sicherheitsstrategie ist China der Hauptgegner, da nur die Chinesen in der Lage wären, die Rolle der Vereinigten Staaten als führende Weltmacht zu gefährden. Zudem soll in Europa durch die Integration der Ukraine in die westliche Gemeinschaft das geostrategische Gleichgewicht mit Russland zugunsten der NATO verändert und Russland als militärischen Machtfaktor soweit geschwächt werden, dass die USA ihre militärischen Kräfte stärker auf die möglicherweise wegen der Taiwan-Frage zu erwartende Auseinandersetzung mit China konzentrieren können.
Allerdings werden die USA ihr Ziel, Russland durch eine Niederlage gegen die Ukraine strategisch zu schwächen, nicht erreichen, zumal Russlands Status als gleichwertige nuklearstrategische Supermacht durch den Krieg in keiner Weise gefährdet ist.
Recht haben Sie allerdings insofern, als es den Amerikanern gerade gelingt, nicht nur ihr Gas nach Europa zu liefern, sondern auch, zahlreiche europäische, vor allem deutsche, Firmen zur Ansiedelung in den USA zu bewegen. Wie überhaupt im Ukrainekrieg wirtschaftliche Aspekte eine große Rolle spielen.
Kann man Letzteres den Amerikanern vorwerfen? Ist es nicht vielmehr die eigene Schuld der Europäer, wenn sie ihre Interessen nicht vertreten – und sich scheuen, diese im Zweifel auch gegen den Verbündeten USA durchzusetzen?
Die Schwäche Europas ist eine Folge der Schwäche Deutschlands. Global hat die Europäische Union sowohl politisch als auch wirtschaftlich enorm an Einfluss verloren.
Ich habe deshalb meine Hoffnung lange auf das Tandem Deutschland-Frankreich gesetzt. Frankreichs Präsident Macron tritt da ganz anders auf. So hat er klar gesagt, Europa müsse sich selbst behaupten können, und zwar sowohl gegenüber Russland und China als auch gegenüber den USA. Andererseits ist Macrons Kurs nicht immer klar zu erkennen.
Die Politik der Bundesregierung, das zeigt die anhaltende Unfähigkeit der Bundeswehr, gemäß ihrem Verfassungsauftrag einen angemessenen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten, schwächt auch unseren Einfluss in der Allianz. Das Gegenbeispiel ist Polen, das die stärkste europäische Armee aufbauen will, und eine führende Rolle in Europa anstrebt.
Früher war das anders: Als zum Beispiel die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre ihre SS-20-Raketen aufstellte, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, wir können uns nicht gefallen lassen, dass die Amerikaner mit den Russen über interkontinental-strategische Abrüstung verhandeln und ihnen die russischen Raketen gegen Europa egal sind. Er verbündete sich mit dem französischen Präsidenten Giscard d'Estaing und dem britischen Premierminister Callaghan und gemeinsam trafen sie am 7. Januar 1979 auf Guadeloupe US-Präsidenten Carter, um ihm klarzumachen, dass er mit Moskau auch die Sicherheit der Europäer verhandeln müsse, denn die Sicherheit des Bündnisses sei unteilbar.
Heute hingegen ist das völlig undenkbar.
Das heißt aber, wenn Deutschland seine Interessen klar vertreten würde, könnte es diese auch durchsetzen?
So ist es. Dazu müssten wir jedoch bereit und in der Lage sein, um nur ein Beispiel zu nennen, wie unsere Verbündeten unsere nationalen Interessen in die gemeinsame Sicherheitspolitik der Allianz einzubringen und diese mitzugestalten. Wir schwimmen jedoch lediglich im Geleitzug „kollektiver Westen“ mit. Der Mangel an Eigenständigkeit, Initiative und Gestaltungskraft deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist ein Ärgernis.
Sie haben dargelegt, dass es im Interesse aller Beteiligten liegt, eine Verhandlungslösung anzustreben. Doch wie könnte ein Szenario aussehen, um zumindest zu ersten Gesprächen zu kommen? Vor einigen Monaten hatten Sie dazu bereits einen Vorschlag unterbreitet.
Richtig. Ich habe das Papier inzwischen gemeinsam mit den Professoren Peter Brandt, Hajo Funke und Horst Teltschik an die jüngsten Entwicklungen angepasst und in der Schweizer Zeitschrift „Zeitgeschichte im Focus“ veröffentlicht.
Entscheidend ist zunächst, dass beide Seiten ihre Vorbedingungen zurückstellen, damit es überhaupt Gespräche geben kann. Dann schlagen wir einen überwachten Waffenstillstand vor. Dazu sollten die Vereinten Nationen eine Sicherheitszone von jeweils 50 Kilometern Entfernung zur ukrainisch-russischen Grenze einrichten und eine Friedenstruppe zur Einhaltung des Waffenstillstands in den bisher von Russland besetzten Gebieten einsetzen.
Bei den Friedensverhandlungen würde ich den Stand der Gespräche Ende März 2022 zugrunde legen. Zu den Kernpunkten eines Friedensvertrags müsste gehören, dass die Ukraine sich als neutral erklärt und ihre Ambitionen auf einen NATO-Beitritt aufgibt (der in absehbarer Zeit ohnehin nicht realistisch ist, weil dem Land wesentliche Voraussetzungen dazu fehlen) sowie keine Stationierung von Streitkräften oder militärischer Infrastruktur fremder Mächte auf ihrem Territorium erlaubt. Russland müsste seine Truppen abziehen. Die Zukunft der vier annektierten Gebiete könnte in bilateralen Verhandlungen oder durch ein Referendum unter Kontrolle der UNO geregelt werden. Nicht zuletzt gehört auch eine internationale Konferenz zur Finanzierung des Wiederaufbaus dazu.
Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Zunächst einmal muss es zu Gesprächen kommen. Ansonsten wird dieser Krieg noch lange dauern, immer mehr Opfer fordern – und die Gefahr einer Eskalation und Ausweitung des Krieges wird steigen.
Das Interview führte René Nehring.
General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
Michael Holz am 08.09.23, 16:10 Uhr
@ Gregor Scharf : Naja, prinzipiell schreiben Sie schon etwas Richtiges. Dennoch ist Ihr Beitrag recht einseitig. Glauben Sie, die russischen Opfer im Donbass sind fröhlich für Mütterchen Russland gestorben? Oder der "Zar Wladimir" ist grundlos in den Donbass eingefallen? Woher kommen die etwa 15.000 tote Zivilisten? Sind diese alle von Putin gemeuchelt worden? Wer setzt Streubomben und mit Uran angereicherte Munition ein? Putin?
Herr Scharf, lösen Sie sich von Ihrer Einseitigkeit!
Gehrhard Quednau am 07.09.23, 19:51 Uhr
Die Ukraïner kämpfen um ihre Existenz, um ihr Land.
Ich verstehe das, ich bin auf ihrer Seite, weil ich mich auch mit der russischen Besatzung unserer Heimat niemals abfinden und auch niemals die Verräterpartei Putins in Deutschland akzeptieren werde.
Wieviele unserer Familien wurden von Russen ermordet - Tausende, die irgendwo in ostpreußischer Erde verscharrt liegen - und wir wissen bis heute nicht wo.
Die Gustloff, die Goya, die Steuben, das Massaker von Nemmersdorf, die von Stalin befohlenen Massenvergewaltigungen in jeder Kleinstadt von Nimmersatt bis Graudenz, geschändete und zerstörte Kirchen, entführte Landsleute - haben wir das alles schon vergessen?
Es widert an, die Grußbotschaften der AfD an die Russen ertragen, ihre Kriecherei vor den Mördern tausender deutscher Landsleute tagtäglich neu ansehen zu müssen. Das ist Moskaus Fünfte Kolonne in unserem Lande!
Wir Ostpreußen sollten am allerbesten wissen, was der Russe im Land bedeutet. Wir sollten klar und deutlich Stellung beziehen - gegen russische Machtbestrebungen auch in unserem Land.
Michael Holz am 03.09.23, 15:23 Uhr
"Dazu sollten die Vereinten Nationen eine Sicherheitszone von jeweils 50 Kilometern Entfernung zur ukrainisch-russischen Grenze einrichten und eine Friedenstruppe zur Einhaltung des Waffenstillstands in den bisher von Russland besetzten Gebieten einsetzen."
Sind Sie vergesslich Herr General? Haben Sie Minsk I und II wirklich vergessen? Die Russen wären dumm, der überwiegend US-hörigen UNO zu vertrauen.
Gregor Scharf am 03.09.23, 09:58 Uhr
Der Krieg ist die Fortsetzung der historisch begründeten Feindschaft zwischen Ukrainern und Russen. Die Propaganda spricht für sich.
Welche Wahl haben die Ukrainer, wenn man ihnen mit Vernichtung droht?
Welche Verantwortung trägt die Weltgemeinschaft, wenn sie Völkermord zulässt?
Die geopolitischen Spielchen von „Lord Tischchen“ gleichen Sandkastenspielen von Kleinkindern. Weil die Anderen nicht mehr mit mir spielen wollen, mache ich die Sandburgen kaputt und nehme ihnen die Spielsachen weg.
Den Preis dafür zahlt die Weltgemeinschaft. Die Teilung in zwei Machtblöcke, die sich gegenseitig bekämpfen, ist ein Beweis für die Kleingeistigkeit und Unfähigkeit ihrer Anführer. An Frieden ist vor diesem Hintergrund in den nächsten Jahrzehnten überhaupt nicht zu denken. Die Ukraine ist erst der Anfang.
Die angesprochene Allianz mit Frankreich wird doch nicht konsequent betrieben. In Frankreich hetzt LePen dagegen. Wo sitzt deren Gönner?
Was uns wirklich behindert: dumme Menschen an den Schalthebeln der Macht, die die Auswirkungen ihrer Entscheidungen nicht tragen müssen.
Das „Unternehmen Zitadelle“ wurde mit gewaltiger Luftunterstützung geführt. Sein Ausgang steht in den Geschichtsbüchern. Zahlen und Statistiken. Das Leid wird als Selbstverständnis hingenommen. Damals wie heute falsche Entscheidungen, Verbrecher an der Macht, die sich hinter kleinen Jungs mit Waffen verstecken. Zitat: „ Krieg ist Euer Freund. Krieg ist Zukunft“. Wessen Zukunft?
Das Zitat stammt von einer Doku zweier Journalistinnen über ihre Heimat Russland.
Prost Mahlzeit!
Die USA sind auch nur noch ein Schatten ihrer selbst und die Außenpolitik ein Desaster.