Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Vor 70 Jahren – am 24. August 1950 – verstarb der ostpreußische Schriftsteller Ernst Wiechert. Gedanken über einen zeitlosen Klassiker
Der ostpreußische Schriftsteller Ernst Wiechert (18. Mai 1887 bis 24. August 1950) zählt zu den Klassikern der deutschen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In den Jahren ihrer Erstveröffentlichung wurden einige seiner Bücher zu „Bestsellern“. Seine Dichtungen, die auch zur Schullektüre gehörten, spielten im kulturellen Leben Deutschlands eine bedeutende Rolle und wurden infolge von Übersetzungen in zahlreiche Sprachen nicht nur im deutschen Sprachraum gelesen.
Auch heute noch vermögen Ernst Wiecherts Bücher Brücken zu bauen zwischen den Völkern und Kulturen und können der Verständigung mit Menschen in Polen und Russland, wo die Erinnerung an wesentliche frühe Lebensstationen des Dichters gepflegt wird, dienen. Wiecherts Sehnsucht nach Stille und Zurückgezogenheit hat ihn nicht daran gehindert, in mutigen Reden 1933 und 1935 versteckt und offen Kritik am nationalsozialistischen System zu üben. Er musste seinen Bekennermut 1938 mit Lagerhaft im Konzentrationslager Buchenwald büßen. Auch danach blieb der empfindsame Dichter ein unbequemer Zeitgenosse. 1945/46 bezog er in redlicher Absicht Stellung zu aktuellen Fragen, wurde mehrfach missverstanden, in der Öffentlichkeit verunglimpft und zog 1948 aus der selbstgewählten „inneren Emigration“ während des Nationalsozialismus eine bittere Konsequenz und emigrierte in die Schweiz.
Wiecherts Romane und Erzählungen setzen auf die Kraft des aus dem Schweigen geborenen Wortes. Ungeschwächt bleibt ihre Aussagekraft zu spüren, weil des Dichters Humanität, seine Liebe zur Natur und seine Gesten der Versöhnung dem Leser Trost und Zuversicht vermitteln.
„Melodie des Leids“
Ernst Wiechert zählt sicher nicht zur Weltliteratur. Diese Erkenntnis wird übrigens vom Dichter selbst geteilt. Man kann sie in „Jahre und Zeiten“ nachlesen. Aber in seiner Art ist Ernst Wiechert eine einzigartige Erscheinung in der deutschen Literatur.
Sich mit ihm zu beschäftigen, öffnet immer wieder neue Tore der Erkenntnis und der Menschlichkeit. Und auch in diesem Sinne ist er ein unbekannter Dichter, dem man immer wieder neue Einblicke abgewinnen kann, je älter, erfahrener, reifer der Leser wird. Gerade auch dem älteren Menschen erschließt sich die Fülle der Weisheit, die aus dem Werk dieses Dichters spricht. Das hängt damit zusammen, dass Wiecherts Leben in ungewöhnlicher Weise von Leid und Tod geprägt gewesen ist und dass er diese Erfahrungen in seinem Werk verarbeitet und auch überwunden hat.
Schwermut und Tod begleiten das Leben des Dichters:
• mitten in die unbeschwerte, ja paradiesische Kinderzeit in den ostpreußischen Wäldern um Kleinort fällt der Tod seines jüngeren Bruders;
• von 1907 bis zu seinem Tode 1937, 30 Jahre lang, quält sich nach einem Unfall der arbeitsunfähige Vater durch sein Leben;
• Wiecherts schwermütige Mutter begeht 1912 Selbstmord, seine erste Frau Meta nimmt sich 1929 das Leben;
• sein einziger Sohn stirbt einen Tag nach der Geburt 1917, während Wiechert als Soldat im Felde steht;
• tiefe Wirkungen hinterlassen die schrecklichen Erfahrungen des Krieges (1914–1918), des Aufenthalts im KZ Buchenwald (1938), der Gestapoaufsicht (1938–1945);
• am Ende seines Lebens zieht sich Wiechert in die Schweiz auf den Rütihof am Zürichsee zurück; es ist die Rückkehr in ein Paradies, aber als unheilbar Kranker, den baldigen Tod vor Augen.
Dies alles sollte man nicht ausklammern oder verheimlichen, wenn man die Kraft des Trostes ermessen will, die aus dem Werk des Dichters spricht.
Das soll nun aber nicht so interpretiert werden, als bildeten Leben und Werk Ernst Wiecherts eine unauflösliche Einheit. Zwar wird diese These vertreten, aber ebenso viel spricht für eine Interpretation des Werkes aus sich selbst heraus, aus seinen Elementen und Zusammenhängen, aus seinen Themen und Schwerpunkten. Die folgenden vier Punkte sollen hier genannt werden:
• die Landschaft und die Natur, vor allem die ostpreußische Landschaft Masurens mit ihren Wäldern und Seen. Beispielhaft sei hier der bekannteste Roman Ernst Wiecherts „Das einfache Leben“ erwähnt;
• die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Nächstenliebe, die Mitmenschlichkeit, Hilfe und Trost; „Die Majorin“ und „Die Jeromin-Kinder“ sind hier insbesondere zu nennen;
• die Suche nach Gott, das ständige Ringen um den Sinn des Lebens, das Gespräch über das Verständnis der Zeit. Hierzu gehört auch der Themenkreis Pfarrer, Kirche, Bibel, der seinen Höhepunkt im Roman „Missa sine nomine“ findet;
• die verantwortete Zeitgenossenschaft Ernst Wiecherts, trotz aller Kritik, er sei nur ein unpolitischer Schriftsteller, ein Vertreter der deutschen Innerlichkeit gewesen. „Der weiße Büffel“, sein Bericht „Der Totenwald“ und seine mutigen Reden von 1933, 1935 und 1945 verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung, ebenso viele seiner vierzig Märchen.
Das sind die Hauptansatzpunkte für die Interpretation des Werkes von Ernst Wiechert, wie sie sich aus dem Werk selbst ergeben, auch ohne Rückgriff auf seine Biographie. Es sind eigenständige, immer wiederkehrende Elemente und Zusammenhänge.
Mensch und Natur Masurens
Ein erfülltes Leben ist für den Menschen bei Wiechert nur im großen Kreislauf der Natur möglich; sie wird als gütige Mutter verstanden, in deren Schoß allein der Mensch aufgehoben ist. Genau diesem Standpunkt entspringt die große Bedeutung, die Wiechert dem Ackermotiv zumisst, denn die Vorgänge des Pflügens, Säens und Erntens entsprechen dem Rhythmus der Natur und sind – so der Dichter – im wahrsten Sinne die natürlichen Tätigkeiten des Menschen.
Das ländliche Leben aber ist per definitionem ein einfaches Leben, dessen Schlichtheit sich in der ostpreußischen Landschaft wie nirgends sonst spiegelt. Die Landschaft Masurens ist keine spektakuläre Landschaft – sie entbehrt des Extremen, das etwa alpine Gegenden, Wüsten oder die Küsten des Nordens auszeichnet, aber auch des Üppigen und Idyllischen; sie ist eine einfache und karge Landschaft.
Das einzige Herausragende an ihr sind ihre Weiträumigkeit und ihre Stille, die Unmittelbarkeit erzeugen. Die Menschen bei Wiechert sind so verwachsen mit dieser Landschaft, dass sie selber die Wesenszüge der Heimat tragen: „Man geht anders, wenn man aus dem Walde kommt. Man hat auch andere Augen.“
Die Wälder, Moore und ärmlichen Felder Ostpreußens bilden einen eigenen Bereich jenseits des Lauten und Ruhelosen der Städte; die Menschen darin werden zum Bestandteil der Landschaft, „sie ruhen im Ursprünglichen“.
So zieht sich auch Thomas von Orla, des ziellosen Treibens der Stadtmenschen überdrüssig, auf der Suche nach dem einfachen Leben in die weiten Räume des Ostens zurück, die ihm ein „Bild von immer gleicher Kraft und Tröstlichkeit“ bieten, wo die „Ruhe der Landschaft“ die Voraussetzung für ein sinnvolles Leben herstellt.
So wächst der Sinn der Landschaft über das rein Malerische oder die autobiographische Note weit hinaus, indem Wald und Acker die Handlung mit gestalten, und erwirbt Symbolgehalt auf einer höheren Ebene. Zur Wiedergabe des Unangetasteten und Unverdorbenen eignet sich aber gerade der geographische Ort Ostpreußen – das hat Ernst Wiechert erkannt und in seinen Werken gestaltet – durch seine Beschaffenheit am besten.
Bleibende Bedeutung
Der 125. Geburtstag Ernst Wiecherts am 18. Mai 2012 war den großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen keine Zeile wert, ganz zu schweigen von öffentlich-rechtlichen oder privaten Rundfunk- und Fernsehanstalten. Und das, trotz dieser unabweisbaren Tatsachen: Dem ostpreußischen Dichter ist mit seinem 1945 erstmals veröffentlichten Bericht „Der Totenwald“ über seine Inhaftierung im KZ Buchenwald (Suhrkamp 2008) der erste literarische Versuch einer Annäherung an den Holocaust gelungen, und er hat nach seinen großen Werken „Das einfache Leben“ (1939) und „Die Jerominkinder“ (1945/47) mit dem Roman „Missa sine nomine“ (1950) die erste und bisher einzige angemessene Würdigung des millionenfachen Vertreibungsschicksals geschaffen. Seine Erinnerungen „Jahre und Zeiten“ hat er 1949 dem ebenfalls in die Vergessenheit gebannten Schweizer Philosophen Max Picard (1888–1965) gewidmet, der ihm zuvor seine „Welt des Schweigens“ 1948 dediziert hatte.
Dass Persönlichkeiten wie Picard und Wiechert keine Medienereignisse mehr sind und in dem „Amüsierbetrieb der gegenwärtigen Kultur“ keinen Platz mehr haben, hat kein geringerer als der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa in seinem Buch „La civilización del espectáculo“ einleuchtend erklärt. Darin beschreibt er „eine kulturelle Szenerie, die sich vom stillen Raum (dem Buch, der Reflexion, der Kunstbetrachtung in der Museumshalle) auf die Bretter der öffentlichen und um Öffentlichkeit buhlenden Darbietung verlegt hat. Gemeint sind also Bühne, Unterhaltungsshow, Videowand, Fernsehstudio und YouTube, Klatschen, die Herrschaft der Rampensau und das Bruhaha des zerstreuungslüsternen Publikums.“
In der Tat, in dieser Szenerie würde Ernst Wiechert sich nicht wohlfühlen. Seine Stimme, die unter der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten noch ein Millionenpublikum erreichte, hören heute nur noch diejenigen, denen Natur und Stille, Menschlichkeit und Liebe, die Zukunft der Jugend und die Wahrheit der Sprache Herzensanliegen geblieben sind.
• Klaus Weigelt ist Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg e.V. und stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft.
Der Text ist ein Vorabdruck von Auszügen aus dem Buch „Schweigen und Sprache. Literarische Begegnungen mit Ernst Wiechert“ (Quintus-Verlag). Das Buch ist ab dem 25. August im Handel.
Klaus Weigelt
Schweigen und Sprache. Literarische Begegnungen mit Ernst Wiechert
Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft
Band 7, 224 Seiten,
ISBN: 978-3-947215-76-8, 25,00 Euro
sitra achra am 16.08.20, 18:42 Uhr
Wie schön, dass einer meiner Lieblingsschriftsteller an dieser Stelle gewürdigt wird.
Leider ist die Stille, von der in der Rezension die Rede ist, aus Masuren vertrieben. Es ist kein Rückzugsgebiet mehr, wie übrigens auch weltweit festzustellen.
Touristischer Kommerz, verbunden mit Radau, vertreibt die letzten Illusionen.
Da ist höchstens noch mein Garten ein beschaulicher Rückzugsort, ein Ort, an dem man relaxen und zum Nachdenken kommen kann.