13.12.2024

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Ortsgeschichte

Unter Nussknackern und Lichterengeln

Vor 700 Jahren wurde das Spielzeugdorf Seiffen im Erzgebirge gegründet – Zahlreiche Veranstaltungen zum Jubiläum

Veit-Mario Thiede
21.07.2024

Am 26. Juli anno 1324 schloss Friedrich II., Landgraf von Thüringen und Markgraf zu Meißen, mit dem Brüderpaar von Bergowe einen Lehnsvertrag, in dem erstmals der in einem Tal des östlichen Erzgebirges gelegene Flecken „Cynsifen“ erwähnt wird. Der nun 700 Jahre alte Ort nennt sich heute „Spielzeugdorf Seiffen“. Der Ortsname leitet sich ab von der Arbeitstechnik des „Zinnseifens“. Bei der wird zinnhaltige Erde in Bäche geworfen, die dank Dämmen aus Geäst langsam fließen, so dass sich die Zinngraupen von den anderen Stoffen trennen und auf den Grund des Baches sinken. Ab dem 15. Jahrhundert war der Bergbau auf Zinn, Eisen und Kupfer die Haupterwerbsquelle der Seiffener. Relikt des damaligen steinbruchartigen Abbaus ist die 34 Meter tiefe „Binge Geyerin“, die heute als Freilichtbühne genutzt wird. Holz verarbeiteten die Seiffener zunächst nur im Nebenerwerb. Vor 175 Jahren schloss das letzte Bergwerk. Da war die kunstvolle Holzbearbeitung längst zum Hauptgeschäft der Seiffener geworden – und ist es in der 2000-Seelen-Gemeinde neben dem Tourismus bis heute geblieben.

Erzgebirgisches Spielzeugmuseum
Eines der größten Bauwerke Seiffens ist das mintgrün verputzte Erzgebirgische Spielzeugmuseum. Das täglich geöffnete Museum führt zunächst in die Ortsgeschichte ein, stellt kurz den Bergbau sowie die in Seiffen hergestellten Waren aus Zinn und Glas vor. Und dann geht es in aller Ausführlichkeit um den Werkstoff Holz. Zunächst stand das Flechten von Spankörben sowie das Drechseln von Hausrat wie Tellern und Schalen im Vordergrund. Im späten 18. Jahrhundert begann die Spielzeugherstellung, veranlasst von Verlegern, welche die Waren auf den Märkten in Leipzig und Nürnberg absetzten. Bald darauf begann der Überseehandel. Exportschlager war „Noahs Arche“, bestückt mit acht Menschenfiguren und denen von zahlreichen Tieren. Museumsleiterin Sybille Gluch erzählt: „Vor allem in strenggläubigen Familien Amerikas und Englands gehörte sie zu den wenigen erlaubten Sonntags-Spielzeugen.“ Und zwar, weil sie sich auf das Alte Testament bezieht. Beim Rundgang durch die drei Ausstellungsetagen werden neben Werkzeugen und Maschinen mehrere tausend hölzerne Spielsachen sowie Oster- und Weihnachtsdekorationen präsentiert. Im Zentrum steht eine über sechs Meter hohe Drehpyramide aus den 1930er Jahren. Um sie herum sind in Vitrinen und verglasten Wandschränken auf mehreren Ebenen Ritterburgen, Puppenstuben und Kaufmannsläden, heimische und exotische Tiere mit und ohne Räder, Hampelmänner und Bauklötze ausgestellt. Eine besondere Spezialität der Seiffener Spielzeugmacher sind Miniaturobjekte in der Streichholzschachtel. In die passt etwa eine Kleinstadt oder ein Kinderchor hinein.

Weihnachtsdekorationen
Berühmt ist Seiffen für seine seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Weihnachtsdekorationen. Sie sind im Spielzeugmuseum reich vertreten. Viele Stücke beziehen sich auf den Bergbau und die große Bedeutung des Lichts, das für den Bergmann unter Tage überlebenswichtig war. Der in jeder Hand eine Kerze haltende Bergmann in Paradeuniform symbolisiert die beschwerliche und gefahrvolle Arbeit. Der neben ihm stehende Schutzengel im taillierten langen Gewand, ebenfalls mit Kerzen in den Händen, bringt Segen und verheißt die Hoffnung auf das jenseitige Leben. In vielen Größen und mit bis zu sechs Drehtellern, auf denen zum Beispiel Tiere oder die Figuren der Weihnachtsgeschichte aufgestellt sind, gibt es Weihnachts-Pyramiden zu bestaunen. Ihr eigentlich durch die aufsteigende Wärme brennender Kerzen angetriebenes Flügelrad steht still, da offenes Feuer im Museum verboten ist. Die Schwibbögen müssen mit aufgepflanzten elektrischen Kerzen auskommen. Die Bögen überspannen je nach Lust und Laune des Kunsthandwerkers ganz unterschiedliche Figuren und Objekte. Traditionsgestalten sind Bergleute, Kurrendesänger, Spinnerinnen, Spielzeugmacher und Engel. Oft steht die Seiffener Bergkirche im Zentrum. Grimmig schauen die Nussknacker drein. Zum Beispiel als Musketier, Wachtmeister oder König verkörpern sie die Obrigkeit, welcher der „einfache Mann“ so manche harte Nuss zu knacken gibt. Die mit Pfeife im Mundloch ausgerüsteten, hohlgedrechselten Räuchermännchen gehören ebenso zum Sortiment wie die Seiffener Spanbäume, bei denen der Kunsthandwerker von der konischen Holzspindel mit dem Stecheisen gelockte Späne abgehoben hat. Erfunden hat die um 1920 Alwin Seifert, der Direktor der örtlichen Fachschule. Heute ist sie bundesweit die einzige, die Holzspielzeugmacher und Drechsler ausbildet.

Die Fachschule residiert seit 1904 im weitläufigen Gebäude an der Hauptstraße. Geht man diese ortsauswärts weiter, gelangt man zum Freilichtmuseum. Hier wird eine weitere nur in Seiffen und der näheren Umgebung kultivierte Technik vorgeführt: das Reifendrehen. Der Drechsler stattet den Holzreifen mit Profilen aus. Sodann wird der Reifen in 40 bis 60 gleiche Teile aufgespalten. Die haben die Form von Tieren, Figuren oder Häusern, die durch Beschnitzen und Bemalen vollendet werden. Die nur noch von wenigen Handwerkern beherrschte Technik des Reifendrehens wird in der Werkstatt des 1758 bis 1760 erbauten Wasserkraft-Drehwerks gezeigt. Um dieses in situ erhaltene Bauwerk gruppieren sich die 14 weiteren Gebäude des Freilichtmuseums. Das Spielzeugmacherhaus, das Bergmannswohnhaus, das Waldarbeiterwohnhaus, das Dorfspritzenhaus, die Umspannstation oder das Wasserkraftsägewerk wurden aus unterschiedlichen Orten des Erzgebirges hierher versetzt. Alle Häuser sind eingerichtet, und man kann sich in ihnen umsehen, oder mit den dort tätigen Kunsthandwerkern ins Gespräch kommen.

Auch in Seiffen selbst gibt es viel zu sehen. In zwei Schauwerkstätten wird gehobelt, gesägt, gefräst, gedrechselt, gebohrt, geschliffen, bemalt und montiert. Wer will, kann mitmachen und so unter Anleitung sein Seiffener Souvenir selber herstellen. Es gibt im Ort rund 100 Handwerksbetriebe. Beim Rundgang durch die hügelige Streusiedlung, für die schiefergedeckte Häuser mit holzverkleideten Obergeschossen charakteristisch sind, trifft man auf mehr als 50 Geschäfte, die Kunsthandwerk aus Holz anbieten. Neben denen mit breitem Sortiment gibt es viele, die sich spezialisiert haben. Da hat sich jemand auf Sterne für Baum und Busch sowie Fensterbilder aus feinsten Holzspänen verlegt, ein anderer auf Miniaturen für die Streichholzschachtel, das Stüblmachen, Spanbäume in vielen Größen, das Blumendrechseln oder die Herstellung von Nussknackern, die den unterschiedlichsten Berufsgruppen angehören. Der Nussknacker in Form eines schwarzhäutigen Weihnachtsmanns wird übrigens als „Auslaufmodell“ bezeichnet. „Neu und exklusiv“ wird in einem anderen Geschäft Thomas Gottschalk als Räuchermann im rosa Glitzerjackett angeboten. Auch das Schwibbogenhaus, das Pyramidenhaus, das Reifendrehwerk, die Räuchermannstube, das Adventshaus und das Weihnachtshaus zeichnen sich durch ein besonderes Sortiment aus. Das Seiffener Jahr kennt keinen Ruhetag. Die Geschäfte sind auch sonn- und feiertags geöffnet. Und wer erst nach Ladenschluss einen Nussknacker oder Lichterengel kaufen will, der muss nur klingeln – und schon bald wird ihm freundlich der Laden geöffnet.

Seiffener Spanbäume
Vor vielen Häusern befinden sich lebensgroße Puppen in Arbeits- oder Freizeitkleidung. Sie weisen auf den Beruf des Hausbesitzers hin oder machen es sich stellvertretend für ihn im Vorgarten gemütlich. Auch mehrere Weihnachtsmänner dösen so vor sich hin. Der Weihnachtsmann hat in Seiffen eine besonders lange Saison vor sich. Im September wird er in der öffentlichen Vorführung „Seiffen weckt den Weihnachtsmann“ leibhaftig aus dem Bett geholt. Bereits im Oktober beginnt der bis zum Jahresende laufende festliche Sternenmarkt. Am ersten Advent startet die mit 40 Ständen ausgestattete „Seiffener Weihnacht“, während welcher der Weihnachtsmann auf dem Motorrad durch die Dorfstraßen knattert, wenn nicht gerade eine Bergparade, ein Lichterzug oder Chorgesang stattfindet. Bereits jetzt läuft am Eckhaus, vor dem von der Hauptstraße die Seitenstraße hinauf zur Bergkirche abzweigt, die weihnachtliche Rückwärtsuhr. Ihr digitaler Countdown zeigt die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zur Christmette am Heiligabend in der Bergkirche an.

Feierliche Gottesdienste
Die auf einer Anhöhe stehende Kirche überragt mit ihrer mit Kreuz und Bergmann ausgestatteten Spitze alle anderen Gebäude und auch alle Baumwipfel des Spielzeugdorfes. Sie ist Seiffens in aller Welt verbreitetes Wahrzeichen. Und das millionenfach. Pfarrer Michael Harzer hat 30 Hersteller gezählt, die Holzmodelle seiner Kirche produzieren. Eines davon steht sogar auf dem Kanzelaltar der 1776 bis 1779 nach dem Vorbild der Dresdener Frauenkirche erbauten Bergkirche. Der Zentralbau auf achteckigem Grundriss ist gelb und weiß verputzt. Vor jeder zweiten Außenwand steht ein quadratischer Anbau, dessen Treppen zu den Emporen führen. Den Gottesdiensten können jeweils 500 Besucher beiwohnen. Pfarrer Harzer erzählt, dass die in der Weihnachtszeit besonders feierlich sind, da sie im Schein von 160 echten Kerzen stattfinden. Aber ausgerechnet der Lichterengel und der Bergmann, die links und rechts des Ausgangs montiert sind, spielen da nicht mit. Sie verabschieden die Kirchgänger nämlich mit elektrischem Kerzenlicht.

Informationen über beide Museen: www.spielzeugmuseum-seiffen.de, über die Bergkirche: https://seiffen.de/ort/bergkirche-seiffen/, über das Spielzeugdorf: www.seiffen.de. Reisetipps: www.erzgebirge-tourismus.de. Die „Festschrift Kurort Seiffen 2024“ kostet in der im Spielzeugmuseum angesiedelten Touristinformation 14,95 Euro.


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