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Schlesien

Versöhner im Geiste der Wahrhaftigkeit

Am 8. August 2022 feiert der emeritierte Bischof von Oppeln, Alfons Nossol, seinen 90. Geburtstag. Gedanken zum Jubiläum einer selten gewürdigten Jahrhundertfigur

Michael Hirschfeld
01.08.2022

„Wahre und vollkommene Aus- und Versöhnung ist zutiefst an drei wesentliche christliche Bedingungen gebunden: 1. Überwindung von Vorurteilen, 2. Entgiftung von Gedanken, 3. Heilung von Erinnerungen.“

Diese Worte von Erzbischof Alfons Nossol, gesprochen bei der 60. Wallfahrt der Oberschlesier zum westfälischen Annaberg bei Haltern am 31. Juli 2005, greifen nicht nur seinen bischöflichen Wahlspruch „Die Wahrheit in Liebe tun“ auf. Sie umreißen auch das zentrale Anliegen des Bischofs von Oppeln, nämlich die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen in dieser Wahrheit und Liebe zu erreichen. Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht verwundern, dass Nossol die EU-Osterweiterung ein Jahr zuvor euphorisch begrüßt hat. Ob bei Vertriebenen- und Aussiedlerwallfahrten im Westen oder Begegnungen in seiner oberschlesischen Heimat, ob unter Bergarbeitern oder Universitätsprofessoren: Nossol wird nicht müde, sein Programm in Anlehnung an die von Papst Johannes Paul II. geprägte Sentenz von der „Zivilisation der Liebe“ zu verkünden.

Dabei geht es ihm niemals um eine Versöhnung nur um des Versöhnens willen, die lediglich „in caritate“, also aus reiner Nächstenliebe heraus, geschieht. Alfons Nossol versteht vielmehr Versöhnung getreu seinem dem Brief des Apostels Paulus an die Epheser (4,16) entnommenen bischöflichen Wahlspruch immer mit dem Zusatz des „veritatem facere“, also in Wahrheit handeln. Und zur Wahrheit gehört die Aufrichtigkeit, die Problematik des deutsch-polnischen Miteinanders stets von beiden Seiten zu sehen.

Als deutscher Geistlicher im kommunistischen Schlesien

In Zeiten des kommunistischen Regimes in Polen hätte dies einen gewichtigen Hinderungsgrund für die Berufung ins Bischofsamt bedeutet, zumal Nossol aus seiner deutschen Herkunft schon damals keinen Hehl machte.

Als ihn 1977 der damalige Primas Stefan Kardinal Wyszynski zu sich rief, um ihm seine anstehende Ernennung zum Bischof von Oppeln und jüngsten polnischen Bischof mitzuteilen, wehrte er mit dem Argument ab, dass Deutsch die Sprache seines Herzens sei und er als Oberschlesier die Sorgen und Nöte der polnischen Diözesanangehörigen nicht angemessen vertreten könne. Der polnische Primas habe ihm darauf entgegnet, wenn er nicht auf polnische Weise Bischof sein könne, solle er es doch auf Oppelner Weise sein.

Das Oppelner Schlesien umfasst den oberschlesischen Teil des früheren deutschen Erzbistums Breslau, in dem im Gegensatz zu Niederschlesien besonders viele Deutsche zurückgeblieben waren, deren Sprache und Kultur hingegen systematisch ausgemerzt worden war. Zwar hatte im kirchlichen Bereich die Einrichtung einer eigenen Apostolischen Administratur 1945 und nicht zuletzt die Bistumserhebung 1972 in Folge der Ostverträge die Eigenidentität dieser Region gestärkt, als deutsch betrachtete schlesische Traditionen hingegen blieben auch und gerade im kirchlichen Leben ein Tabu. Und um „auf Oppelner Weise“ Bischof zu sein, musste Nossol an diesem Tabu rühren, was er gründlich tat, indem er zum Brückenbauer zwischen Deutschen und Polen in seiner Diözese wurde.

Wahrhaftiger Brückenbauer

Insbesondere seit der politischen Wende 1989 konfrontierte er die Menschen in seiner Diözese unablässig und radikal mit der Geschichte und Tradition ihres Lebensraums. Überaus geschickt verstand er es, beiden Seiten gerecht zu werden, indem er die Vorstellung von den zwei beziehungsweise drei Herzen in seiner Brust propagierte, jene Idee vom deutschen und polnischen, ergänzt um den mährischen Kulturkreis, die in Oberschlesien eine gelungene Symbiose eingehen, wenn die Christen sich der Wahrheit in Liebe stellen und ihr „Christsein als radikales Füreinander“ begreifen, wie es der Titel einer Festschrift zum 40-jährigen Priesterjubiläum Nossols 1997 treffend vor Augen führt.

Vielleicht ist der Begriff von der Glaubensradikalität als Heilmittel des Hasses und der Angst unter den Bewohnern Oberschlesiens im westlichen Verständnis ein wenig pejorativ besetzt, dennoch versinnbildlicht er die Intention des Oppelner Oberhirten, die Wurzel (lat. radix) des Problems zu erfassen, indem er nicht allein auf Toleranz baut, sondern zugleich und weitergehend auf Akzeptanz setzt. Er selbst habe stets „Glück in der Liebe“ gehabt, so der Titel eines Interview-Bandes mit Nossols Lebenserinnerungen, der auf die Liebe zu Gott als Ausgangspunkt und Richtschnur seines menschenzugewandten und begeisternden Auftretens verweist.

1980 ermöglichte Bischof Nossol dem Augsburger Oberhirten Josef Stimpfle, die erste deutsche Predigt der Nachkriegszeit auf dem oberschlesischen Wallfahrtsort St. Annaberg zu halten. An diesem symbolträchtigen Ort gewährte er seit dem 4. Juni 1989 die ersten deutschsprachigen Gottesdienste in Oberschlesien, die nach und nach in vielen Pfarreien angeboten wurden. Oft musste sich der Bischof in der Realisierung dieses pastoralen Anliegens, den Menschen Gottesdienste in der „Sprache ihres Herzens“ zu ermöglichen, gegen erbitterten Widerstand bei Klerus und Laien durchsetzen, die ihn des Chauvinismus beziehungsweise Nationalismus bezichtigten. Dazu gehörten Mut und Standfestigkeit, die der wortgewandte Bischof immer wieder beweisen musste.

So sehr Nossol sich auch innerhalb seines Bistums der Kritik aussetzte, so sehr schlug in diesem Klima der Wende seine große Stunde als Identitätsfigur im deutsch-polnischen Dialog. Seine Zweisprachigkeit, seine Erfahrungen und nicht zuletzt seine Eloquenz und sein gewinnendes Auftreten trugen maßgeblich dazu bei, dass Oberschlesien ein „pars pro toto“ für die deutsch-polnischen Beziehungen insgesamt wurde. Zwar fand die anlässlich des Treffens von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki am 12. November 1989 geplante Messe letztlich nicht auf dem von Emotionen beider Seiten behafteten Annaberg, sondern auf dem einstigen Gut des deutschen Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke im niederschlesischen Kreisau statt, jedoch zelebrierte diesen Gottesdienst kein anderer als Bischof Nossol, der auch der Initiator dieser Versöhnungsmesse war.

Welches Motto wäre für seine Predigt geeigneter gewesen als sein Wahlspruch „Veritatem facere in caritate“, der ihm einmal mehr in Kreisau als Ausgangspunkt für seinen Aufruf nach der Untrennbarkeit von Menschenrechten und Christenrechten diente? Nur ein christliches Europa, dessen Bevölkerung in Frieden und Freiheit leben könne, vermöge eine „Zivilisation der Liebe“ zu garantieren, welcher die im Kommunismus und Nationalsozialismus propagierte „Zivilisation des Todes“ entgegenstehe.

Angesehener Theologe und Bischof

Trotz dieser sich seither immer deutlicher öffentlich artikulierenden europäischen Dimension im Denken Nossols gilt das Hauptaugenmerk des profilierten Bischofs zweifelsohne seiner oberschlesischen Heimat. Hier, in der Nähe von Krappitz, wurde er am 8. August 1932 in Broschütz, das im Zuge der Germanisierung von Ortsnamen während der NS-Zeit Schobersfelde hieß, als Sohn der Eheleute Alfons und Hedwig Nossol geboren. Hier studierte er nach dem Besuch der deutschen und der polnischen Schule in seinem Heimatdorf sowie dem 1952 in Neisse abgelegten Abitur am Priesterseminar in Neisse Theologie und erhielt am 23. Juni 1957 durch den Apostolischen Administrator in Oppeln, Bischof Franciscek Jop, in der Prokathedrale Heilig Kreuz in Oppeln die Priesterweihe.

Hier in dieser Kirche ist er am 17. August 1977 auch zum Bischof geweiht worden, nachdem er als junger Priester zunächst eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte. So war der junge Kaplan Alfons Nossol zum Weiterstudium an der Katholischen Universität in Lublin freigestellt worden, wo er 1961 promoviert wurde und wohin er nach einer Zwischenstation in Neisse 1968 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Lehrstuhl für Dogmatik zurückkehrte, 1976 habilitiert wurde und über Jahrzehnte – seit 1982 mit dem Titel eines außerordentlichen Professors versehen – seine wissenschaftliche Heimat hatte.

Daher verwundert es nicht, dass Nossol an der maßgeblich seinem Einfluss zu verdankenden Gründung einer Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Oppeln ab 1994 die Leitung des Dogmatik-Lehrstuhls übernahm.

Seine öffentliche Ausstrahlungskraft weit über das kirchliche und öffentliche Leben seiner Diözese Oppeln hinaus verdankt er jedoch seinem 32-jährigen Wirken als Bischof. Ausdruck dieses Einsatzes war nicht zuletzt die 2003 erfolgte Ehrung mit dem Titel „Schlesier des Jahres“ durch die polnische „Gesellschaft der Freunde Schlesiens“ sowie eine Vielzahl an Ehrungen, die ihm gerade im Umfeld seiner 2009 erfolgten Emeritierung zuteilgeworden sind. Allen voran steht die Verleihung des persönlichen Titels eines Erzbischofs durch den Papst am 12. November 1999.

Als Nossol zum Bischof ernannt wurde, nahm er gerade eine Gastprofessur in Mainz wahr. Weil er schon in den 1970er Jahren Schlupflöcher im damals noch dichten „Eisernen Vorhang“ fand, wurde er von der westeuropäischen Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanum nachhaltig geprägt und trug neue theologische Ansätze nach Polen hinein.

Dialog auf wissenschaftlicher Basis

Sein wissenschaftliches Wirken, das er auch nach seiner Ernennung zum Bischof von Oppeln fortsetzte, prädestinierte ihn zugleich für eine zweite Ebene der Versöhnung, nämlich für den Dialog auf wissenschaftlicher Basis, und dies nicht nur innerhalb katholisch-theologischer Fakultäten Deutschlands und Polens, sondern ebenso mit den protestantischen Kirchen. Immer wieder betonte er, dass die Kirche der Gegenwart und Zukunft die Dimensionen aller drei christlichen Konfessionen benötige, nämlich die katholische Weite, die evangelische Tiefe des Wortes und die orthodoxe Dynamik. Etwa ein Dutzend Bücher und weit mehr als 200 Aufsätze sind nur das schriftliche Resultat dieser Komponente des Oppelner Bischofs.

Aufgrund seiner Erfahrung und Kompetenz wählte ihn die Polnische Bischofskonferenz in ihren Ständigen Rat sowie zum Vorsitzenden ihres Wissenschaftsrates und ihrer Ökumenekommission und berief ihn Papst Johannes Paul II. unter anderem in den Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen sowie in die gemischte Kommission für den Dialog mit Orthodoxen und Lutheranern. Es ist nicht zuletzt seiner Bedeutung als Wissenschaftler zu verdanken, dass 1994 eine staatliche Universität in Oppeln gegründet werden konnte. Dabei blieb Nossol nicht nur der spiritus rector, der ein Jahr später als Dank die Ehrendoktorwürde dieser Universität erhielt und „seiner“ Fakultät sowie dem Bistum einige Jahre darauf auf dem mit gewaltigem Aufwand wiederhergestellten Schloss Groß Stein ein nobles Tagungshaus schaffen ließ, sondern er verstand es, das neu aufblühende wissenschaftliche Leben in seiner Diözese auch mit Substanz zu füllen.

Auch auf diese Weise lässt sich für Erzbischof Nossol zum einen Schlesien nach Europa holen, zum anderen aber auch Europa ein wenig von der oberschlesischen Grundsubstanz einer christlichen Seele vermitteln, die diesem Erdteil in seinen Augen immer stärker fehlt.

• Prof. Dr. Michael Hirschfeld ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Vechta sowie ordentliches Mitglied der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen sowie der Historischen Kommission für Schlesien. Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Artikels für die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen.
www.kulturstiftung.org


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Kommentare

sitra achra am 01.08.22, 17:31 Uhr

Voilà quel homme! Leider geht die christliche Prägung Europas immer mehr verloren, sodass satanische Einflüsse überhand nehmen. Vielen Dank für Ihren Einsatz, Bischof Nossol, und alle guten Wünsche zu Ihrem Geburtstag (Namenstag 1.August)!

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