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Vor 100 Jahren wurde der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger ermordet, weil er 1918 den Waffenstillstand unterzeichnete – Wie verhalten sich Staat und Gesellschaft am Jahrestag?
In einem 2002 veröffentlichten biographischen Porträt konstatierte der Historiker Peter Grupp noch, obwohl Matthias Erzberger „ohne jeden Zweifel zu den wichtigsten Gründervätern der Weimarer Republik und zu den Ahnherrn des deutschen Staates“ zähle, „steht er seltsam im Schatten, erfährt recht wenig öffentliche Ehrungen durch Gedenkstätten, Festschriften, Fernsehsendungen oder Ausstellungen“. In diesem Monat jährt sich das Attentat, welches auf Erzberger am 26. August 1921 von seinen politischen Gegnern verübt wurde, zum 100. Mal. Davon, dass das erinnernde Gedenken an den prägenden, aber auch sehr umstrittenen Politiker vernachlässigt werde, kann seit einiger Zeit nicht mehr die Rede sein.
Der im September 1875 auf der Schwäbischen Alb geborene Erzberger arbeitete zunächst als Volksschullehrer, war aber bald Redakteur, engagierte sich in der Zentrumspartei und im katholischen Verbandswesen. 1903 wurde er als jüngster Abgeordneter im Alter von 27 Jahren in den Reichstag gewählt. Er hatte sich beachtliche finanz-, wirtschafts- und militärpolitische Sachkenntnisse angeeignet, war ehrgeizig und gilt als einer der ersten Berufspolitiker.
Tucholskys Spott
Kontrastiert wurde seine Begabung durch immer wieder zur Schau gestellte Besserwisserei, die ihm auch Feindschaft in den eigenen Reihen eintrug. Er schätzte Gegner gering, galt als oberflächlich, vulgär und aufdringlich, wie selbst ihm wohlgesonnene, moderne Forschungsarbeiten anmerken. Erzberger prangerte Missstände in der Kolonialverwaltung an, was 1907 zu vorzeitigen Neuwahlen führte, wobei er die Kolonialpolitik an sich guthieß. Er entwarf nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges „ein Kriegszielprogramm, das den Phantasien der rabiatesten Alldeutschen in nichts nachstand“, so Grupp.
Später erfolgte ein Sinneswandel, die Friedensresolution des deutschen Reichstages vom Juli 1917 ging wesentlich auf ihn zurück. Für die Parlamentarisierung machte er sich stark, am 11. November 1918 unterzeichnete er für das Reich den Waffenstillstand und setzte sich für die Annahme des Versailler Friedens ein, den er für alternativlos hielt. 1920 wurde er Minister und führte die mit seinem Namen verbundene große Finanzreform durch.
Sein Zeitgenosse Harry Graf Kessler zeigte sich in einem Tagebucheintrag beeindruckt von Erzbergers Fähigkeit, als Redner die Stimmung zu seinen Gunsten zu wenden, kam aber nicht umhin, ihn als „fetten, schwitzenden, unsympathischen, kleinbürgerlichen Kerl“ zu beschreiben. Kurt Tucholsky verfasste 1919 ein Gedicht mit dem Titel „Erzberger“, in dem es heißt: „Was bist du alles schon gewesen! / Ein wilder Weltannexionist / (man kann es leider heut noch lesen) / dann, als es schief ging, Pazifist.“
Erzbergers politische Linie hatte starken Widerspruch und Anfeindungen zur Folge. In einem Beleidigungsprozess setzte er sich zur Wehr, etwa gegen die Beschuldigung, private finanzielle Interessen nicht von seiner politischen Arbeit getrennt zu haben. Das Gericht entschied letztlich zu seinen Gunsten.
Erzberger fühlte sich aber durch die Art der Verhandlung vorgeführt. Der beklagte DNVP-Politiker Karl Helfferich hatte zudem nur eine geringe Geldstrafe zu zahlen. Erzberger, dem die Zentrumspartei kaum Rückhalt gab, trat im März 1920 als Minister zurück. Er betrieb seine Rehabilitation, im Sommer des Folgejahres. Kurz vor seiner geplanten Rückkehr in die aktive Politik wurde er von zwei Mitgliedern der Organisation Consul erschossen. Historikern gilt er heute als das „meistgehasste Opfer nationalistischer Mordhetze gegen vermeintliche ‚Novemberverbrecher' und ‚Volksverräter'“.
Anlässlich seines 50. Todestages erklärte der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg Anfang der 1970er Jahre, dass es sich bei Erzberger um „eine der wenigen Märtyrergestalten in der deutschen Geschichte vor der Hitlerdiktatur“ handle. Anlässlich des 80. Todestages sprach unter anderem Wolfgang Schäuble. Der heutige Bundestagspräsident ist bis heute regelmäßiger Gast bei Erzberger-Gedenkveranstaltungen.
Berlin bekennt sich zum Patrioten
2004 eröffnete in Erzbergers Geburtshaus im baden-württembergischen Buttenhausen eine Erinnerungsstätte. Einer von zwei Teilen der 2007 produzierten Fernsehdokumentation „Verschwörung gegen die Republik“ ist dem Zentrumspolitiker gewidmet. Mit seinem 90. Todestag wurden die Dimensionen der Erinnerung deutlich erweitert. Damals erklärte das Stuttgarter Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2011 zum „Erzberger-Jahr“. Es fanden zahlreiche Veranstaltungen statt mit Titeln wie „Ein Demokrat im Zeitalter des Hasses“.
Im selben Jahr wurde der Festsaal im Bundesfinanzministerium nach ihm benannt. Ein vom Bundestag genutztes Gebäude in der deutschen Hauptstadt heißt seit 2017 „Matthias-Erzberger-Haus“. Der Journalist Robert Leicht schrieb in der „Zeit“, dank dem – damaligen – Bundestagspräsidenten Norbert Lammert bekenne sich Berlin nun „öffentlich zu dem
Patrioten“.
In der Verlagswerbung zu einer soeben erschienen Biographie ist zu lesen, Erzberger „beendete mit seiner Unterschrift unter den Waffenstillstandsvertrag den Ersten Weltkrieg“ (Benjamin Dürr, „Erzberger – Der gehasste Versöhner. Biografie eines Weimarer Politikers“, Ch. Links Verlag, 25 Euro). Man ist versucht zu fragen: Ganz allein?
Parallelen zum Mord in Kassel
Das gerade stattfindende, abermals vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg ausgerufene „Erzberger-Jahr 2021“ lenkt den Blick mit einem umfangreichen Programm nicht nur indirekt stark auf die Gegenwart. Das Ganze steht unter dem Titel „Kampf und Tod für die Demokratie“. Angeboten wird beispielsweise die Podiumsdiskussion „Bedrohungen, Hetze, Mord. Die Ermordung Erzbergers im Kontext heutiger Angriffe auf Politiker/innen“. Hier wird in der Ankündigung ausdrücklich Bezug auf den 2019 erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke genommen. Vorträge, die Erzberger in den Mittelpunkt stellen, sind überschrieben mit „Hass, Hetze, Mord“, „Rechter Terror gegen die Demokratie“, oder „Mörder, Unterstützer, Sympathisanten“.
An Erzbergers Todestag im August findet, neben einer Gedenkveranstaltung, ein ökumenischer Gedenkgottesdienst für ihn statt, Anfang Dezember sucht ein Konzert „den musikalischen Zugang zu Person und Zeit“. Dass der Name Matthias Erzberger in Vergessenheit geraten könnte, steht gegenwärtig nicht zu befürchten. Schon eher, dass bezüglich seiner Person der Anspruch eines kritisch-reflektierten Geschichtsverständnisses einer offensichtlichen Stilisierung bis hin zur Verklärung oder gar einer Instrumentalisierungsabsicht immer weiter weicht.