23.11.2024

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Ukrainekrieg

Viktor Orbán in Kiew und Moskau

Ungarns Ministerpräsident wagt einen ersten Vermittlungsversuch zwischen den Kriegsparteien

Bence Bauer
06.07.2024

Der Auftakt der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft gelang fulminant. Noch am Montag übernahm der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in Brüssel offiziell von seinem belgischen Kollegen Alexander De Croo symbolisch den Vorsitz der EU-Präsidentschaft, unmittelbar darauf reiste er für viele Beobachter völlig überraschend von Brüssel nach Kiew.

Der Besuch war von den beiden Staatsmännern spontan wenige Tage zuvor auf dem EU-Gipfel ausgemacht worden. Was wie ein lässiger Zweistundenflug aussieht, war in Wahrheit eine nächtliche Autofahrt vom ostungarischen Debrecen (dem letzten Flughafen) direkt nach Kiew zu Präsident Wolodymyr Selenskyj, wo Orbán drei Stunden mit dem ukrainischen Präsidenten sprach. Danach ging es ohne Umschweife zurück, in der Summe 2100 Kilometer in etwa 24 Stunden. Gegessen wurde unterwegs an der Tankstelle.

Am Mittwoch dann tagte das ungarische Kabinett mit der Generalsekretärin des Europarates, bevor Orbán der eigentliche Überraschungscoup gelang. Nach seinem wöchentlichen Interview mit dem ungarischen Rundfunk am Freitagmorgen machte er sich sodann auf den Weg nach Moskau, wo er eine längere Unterredung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Rahmen eines Mittagessens abhielt. Auch dieser – mit der NATO zuvor abgesprochene – Besuch Orbáns wurde gerade einmal 48 Stunden vorher arrangiert – auf Ersuchen der ungarischen Seite. Diese Reise war noch spontaner, überraschender und ein echter Paukenschlag, doch hagelte es international Kritik – aber auch Zustimmung. 

Der Standpunkt der Ungarn

Immer wieder seit Ausbruch des Ukrainekrieges hatte der ungarische Ministerpräsident betont, dass der Konflikt nur mit einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden zu beenden sei. Europa müsse die Initiative ergreifen, um seine Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Außerdem verlören die Europäer bei diesem kriegerischen Konflikt sehr viel und würden den Preis des Krieges in Form von Waffenlieferungen, Flüchtlingsaufnahme und allgemeiner Teuerung bezahlen. Die Lebensgrundlagen der Menschen seien durch Inflation, Migration und die Gefahr einer Ausdehnung des Krieges bedroht, es gelte, dem Einhalt zu gebieten so Orbán. 

Zudem kritisierte Orbán mehrfach, dass europäische Spitzenpolitiker zu wenig für den Frieden tun würden. Stattdessen würden sie durch Waffenlieferungen auf eine Perpetuierung des Konflikts hinarbeiten und gebetsmühlenartig das Wunschdenken verbreiten, dass die Ukraine gewinnen müsse. In Wahrheit jedoch könne keine Seite den Krieg für sich entscheiden, daher seien Verhandlungen der beste Weg für eine Beendigung des Kriegstreibens, so die Argumentation der Ungarn. Jüngste Erhebungen, nach denen immer mehr Europäer die Beendigung dieses Waffengangs befürworten, stützen diese Position. 

Besuch in Kiew 

In Kiew lotete der ungarische Ministerpräsident nach eigenem Bekunden aus, welche rote Linien es für die ukrainische Führung derzeit gebe. Er wollte den Präsidenten nicht zu irgendetwas überreden, sondern ihn bitten, seinen Standpunkt zu überdenken. Vielleicht müsse man die Reihenfolge verdrehen, erst Feuerpause, dann Friedensverhandlungen. Das Auftreten der EU nach außen hänge von den großen Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien ab, so Orbán. Aus diesem Grunde habe er in diesen Ländern in den letzten Tagen von den Regierungschefs ihren Standpunkt eingeholt, um diesen zu verstehen und transportieren zu können. 

Orbán gestand ein, dass der ukrainische Präsident etwas reserviert auf die vorgeschlagene Waffenruhe reagiert hätte, sich dem Ansinnen jedoch nicht ganz verschlossen habe. Die bilateralen Unterredungen waren aber erfolgreich in der Hinsicht, dass die ukrainisch-ungarischen Beziehungen sich zum Besseren wenden. Unter anderem sagte Orbán auf der gemeinsamen Pressekonferenz zu, eine ukrainische Schule für Flüchtlingskinder in Ungarn zu finanzieren. Auch auf ukrainischer Seite gab es Bewegung in den strittigen Minderheitenfragen. 

Verhandlungen in Moskau 

Ebenso kritisch verlief der Besuch von Viktor Orbán bei Wladimir Putin im Kreml. Der ungarische Ministerpräsident erklärte, dass Ungarn langsam das einzige Land sei, dass sowohl mit Russland als auch der Ukraine einen Gesprächsfaden hätte. Jedoch seien die Standpunkte der beiden Kriegsparteien noch weit voneinander entfernt.

Auch Putin lehnte eine Feuerpause zunächst einmal ab, weil diese in seinen Augen die Ukraine für weitere Aufrüstung missbrauchen würde, die „Sponsoren“ des Landes würden es ausnutzen und zum Opfer machen, so Putin. Der russische Präsident wertete die Reise Orbáns nicht nur als bilateralen Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten, sondern auch als Reise des Landes, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Der ungarische Ministerpräsident betonte, dass diese Reise seine 14. Besprechung mit Putin sei, zugleich auch die wichtigste. Noch unmittelbar vor dem Besuch wurde von ungarischer Seite ein Kommuniqué herausgegeben, das den bilateralen Charakter der Visite unterstrich. 

Reaktionen 

Vielsagend waren die internationalen Reaktionen auf diese Vermittlungstour. Während der Besuch in Kiew positiv rezipiert wurde, überschlugen sich europäische Spitzenpolitiker mit heftigen Kritiken an Ungarns Regierungschef. EU-Ratspräsident Charles Michel ließ verlautbaren, Ungarn hätte kein Mandat für die EU zu sprechen, der Außenbeauftragte Josep Borrell betonte, die Angelegenheit sei bilateral, da die EU offiziell keinen Kontakt zu Russland unterhalte. Kommissionspräsidentin von der Leyen warnte, „Appeasement“ führe zu gar nichts. 

Jedoch gab es auch positive Reaktionen. Der ehemalige französische Staatschef Nicholas Sarkozy erklärte, Viktor Orbán würde richtig handeln. „Der russisch-ukrainische Krieg kennt keine militärische Lösung. Frieden kann nur durch diplomatische Verhandlungen erreicht werden. Dies wird am Ende des Tages eine Entscheidung der Kriegsparteien sein. Aber als ersten Schritt müssen die Kommunikationskanäle wieder errichtet werden. Der ungarische Ministerpräsident handelt richtig, wenn er hieran arbeitet“, so Sarkozy. Auch der ehemalige österreichische Kanzler Sebastian Kurz stellte sich auf die Seite Orbáns. „Die russische Aggression gegen die Ukraine bringt unglaubliches Leid. Unser erstes Ziel muss es sein, das Blutvergießen zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dies kann nur durch die Diplomatie und offene Kommunikation geschehen. Die Bemühungen von Viktor Orbán und der EU-Ratspräsidentschaft eröffnen eine Möglichkeit, in die richtige Richtung zu gehen, aber am Ende müssen die Kriegsparteien eine Lösung finden“, so Kurz.

Auch der slowakische Ministerpräsident Robert Fico sprach am Freitag anlässlich seines ersten öffentlichen Auftritts nach dem Attentat voller Bewunderung von Orbán, den er gern nach Kiew und Moskau begleitet hätte, doch habe dies sein Gesundheitszustand vereitelt. Ebenso pflichtete Sahra Wagenknecht dem ungarischen Ministerpräsidenten bei, das richtige zu tun. „Es ist schon traurig, dass erst der vielgescholtene Viktor Orbán EU-Ratspräsident werden musste, ehe die EU endlich mal was Vernünftiges macht. Sich darum zu bemühen, diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine mit Friedensgesprächen und einem Waffenstillstand zu beenden“, so die Spitzenpolitikerin des BSW. 

• Bence Bauer ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts am Mathias-Corvinus-Collegium in Budapest. Vor Kurzem erschien „Ungarn ist anders“ (MCC Press 2024).
www.mcc.hu
https://magyarnemetintezet.hu/de/


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