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Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“, C.H. Beck Verlag, München 2022, gebunden, 280 Seiten, 22 Euro
Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“, C.H. Beck Verlag, München 2022, gebunden, 280 Seiten, 22 Euro

Östlich von Oder und Neiße

Von der Oder ins Egerland

Nach 75 Jahren folgte die Berliner stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung Christiane Hoffman dem Fluchtweg ihres Vaters

Norbert Matern
07.04.2022

Als die Artilleriegeschosse der Roten Armee schon über die Oder flogen, erlaubte die NSDAP am 22. Januar 1945 um 17 Uhr endlich die Flucht. 50 Gespanne mit etwa 300 Einwohnern verließen bei 20 Grad Minus das schlesische Rosenthal [Rozyna] in Richtung Westen. Christiane Hoffmanns Vater Adolf/Walter war neun Jahre alt. Wegen der Kälte saß man nicht lange auf dem Wagen, den die Mutter kutschierte, sondern ging hinter ihm, eingehüllt in eine Pferdedecke. 550 Kilometer in 40 Tagen sollten es werden bis nach Eger (Cheb). Eine Karte mit dem genauen Fluchtweg und den Übernachtungsstationen nach jeweils etwa 14 Tageskilometern schließt das Buch ab.

Das wurde die „Urszene“ der Familiengeschichte. Mehrmals war die Slawistin, Journalistin bei „FAZ“ und „Spiegel“ sowie amtierende Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung Christiane Hoffmann seitdem mit dem Auto in dem kleinen Dorf ihrer väterlichen Vorfahren. Die Familie ihrer Mutter stammte aus Ostpreußen. Rosenthal liegt gut einen Kilometer von der Oder entfernt. Die Hoffmanns lebten dort als Bauern ab dem Jahre 1238. In ihrem Haus wohnen nun Vertriebene aus der Westukraine – ebenfalls mit einem schrecklichen Schicksal. Hoffmann wird daher freundlich aufgenommen. Sie ist, so ein Herausgeber der „FAZ“, beim Einstellungsgespräch, von Herkunft und Studium „ein östlicher Mensch“.

Zu Fuß bei Eis und Schnee

Die Autorin begnügt sich nicht damit, die von Gretel Kosok aus dem Treck aufgezeichneten Ereignisse und ihren eigenen Weg ab dem 22. Januar 2020 bei Eis und Schnee durch Wälder und Felder zu schildern. Sie „läuft durch die Albträume ihrer Kindheit“. Es gibt die Wiedergabe von Gesprächen mit den heute in Niederschlesien angesiedelten, nicht freiwillig gekommenen Polen und Reflexionen über die deutsch-polnische Geschichte. „Die deutschen Schlesier haben Schlesien immer nur als verloren angesehen, aber die Polen haben Schlesien nicht gewollt, man hat es ihnen zugewiesen auf fernen Konferenzen. Die Polen nahmen das ungeliebte Land mit einer Geschichte, die nicht ihre war“.

Während sie zunächst möglichst zügig voranschritt, weckt im unzerstörten Reichenbach [Dzierzoniow] eine große Synagoge ihr Interesse. Dorthin kamen nach Kriegsende 18.000 Juden, die aber im Laufe der Zeit nach Israel auswanderten. So ist das Gotteshaus verschlossen, im Museum hofft sie mehr darüber zu erfahren, wie es 1938 die Pogromnacht überstanden hat, und warum die Juden nach Kriegsende nicht geblieben waren. „Es ist ein Museum der verbotenen Dinge, voller Zeug, das die Deutschen zurückließen. Alles ist mit Sorgfalt gesammelt und liebevoll ausgestellt. Das Museum ist ein Bekenntnis: Wir nehmen das Land als unseres an. Ein Foto zeigt, wie die Deutschen mit Handwagen und Koffern über den Marktplatz ziehen, um abtransportiert zu werden.“

Mühsam: „Vielleicht bin ich Euch gerade nahe, weil ich im endlosen Gehen genauso dumpf werde wie Ihr es damals wart, weil ich anfange, zu verstehen, warum Du Dich an nichts erinnern konntest.“ Dumpfheit aber hört auf bei abendlichen Gesprächen. Es fehlt nicht an kritischen Bemerkungen über die deutsch-polnische Vergangenheit mit polnischen Empfindungen, in der EU nicht richtig gewürdigt und von den Deutschen nicht entsprechend entschädigt worden zu sein.

Kurz vor Greiffenberg [Gryfow Slaski] unterbricht Hoffmann Mitte Februar ihre anstrengende Wanderung, um nach Berlin zu Mann und Kindern zu fahren. Als sie Ende Juni zurück in Greiffenberg ist, hat sich Corona in Europa ausgebreitet. Die Autorin setzt ihren Weg fort, sie beschreibt ihn, aber auch viele Gespräche mit Tschechen. Es geht um Arbeitslosigkeit, das schwierige Verhältnis zur EU, das Bewahren der eigenen Währung. „Es wimmelt von Hobbyhistorikern.“ Ich gehe durch Europa, in jedem Dorf steht ein Denkmal“ an vergangene Kriege. In Aussig [Usti nad Labem] wird das an „Unsere Deutschen“ erinnernde Museum besucht. In Klein Priesen [Male Brezno] trifft Hoffmann die einzige Zeugin des Rosenthaler Flüchtlingstrecks.

Sommermorgen im Böhmerwald, eine Märchenlandschaft und an der Elbe notierte Gretel: „Wir bewunderten die herrlichen Burgen, was uns Schlesiern neu war. Wenn nur nicht die Zeit so schwer und traurig gewesen wäre, die Heimat wurde immer weiter entfernt“. Ins Gedächtnis gerufen wird sie besonders auf einem Treffen der Rosenthaler 2005 in Görlitz. Der Russe hat sie nicht eingeholt, als sie am 2. März 1945 nach 550 Kilometern den Treck auflösen. Die Flüchtlinge werden im Egerland, in Klinghardt [Krizovatka] auf die umliegenden Orte verteilt. Menschen und Pferde sind abgemagert und zu Tode erschöpft.

Bevor sie am Ende noch einmal auf die Familiengeschichte zu sprechen kommt, zieht Hoffmann ein Fazit: „Dieses Buch ist Dein Testament. Ich will Deine Geschichte bewahren, damit unsere Kinder sich erinnern können. Ich bin Deinen Weg gegangen, meine Beine wissen nun wie weit er war, ich habe erlebt, wie schwer es immer noch ist, über den Krieg und das Jahr 1945 zu sprechen.“


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Kommentare

Magda Seitz am 19.06.23, 20:41 Uhr

Die beiden Sätze, dass die Polen Schlesien nicht gewollt haben und sie das ungeliebte Land genommen haben mit einer Geschichte, die nicht ihre war, ist ein Schlag ins Gesicht von allen Schlesiern, die von Polen brutal aus dem eigenen Haus vertrieben wurde !
So, wie es meiner Familie passiert ist.
Die meisten der Beiträge hier über Schlesien vermitteln den Eindruck als ob die Polen das Land das sie den Schlesiern geraubt und besetzt haben, nun mit viel Liebe hegen und pflegen. Der eigentliche Hintergrund dieser plötzlichen Liebe zu Schlesien ist wohl eher die Aussicht mit Tourismus Geld zu machen. Die Forderung Polens vom 3. Oktober 2022 auf Reparationszahlung aus Deutschland über 1,3 Billionen Euro spricht wohl für sich selbst und zeigt das Doppelspiel das Polen mit Deutschland treibt.

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