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Nicht nur Gelehrte haben Spaß daran, frei Erfundenes in die Welt zu setzen. Manchmal wird sogar erheblicher Aufwand betrieben
Was haben P.D.Q. Bach, Friedrich Gottlob Nagelmann und die Säugetierordnung der Nasenschreitlinge (Lat.: Rhinogradentia) gemeinsam? Sie verfügen über ein stattliche Reihe von Anhängern, die ihr Andenken liebevoll pflegen – und sie haben niemals existiert.
Diese und eine Vielzahl ähnlich gearteter Erscheinungsformen gehören in das Reich des sogenannten wissenschaftlichen Witzes. Unter „wissenschaftlichem Witz“ – die Bezeichnung ist nicht in jedem Fall ganz glücklich – versteht man frei Erfundenes, das durch die Art und Weise seiner Behandlung in wissenschaftlicher Sprache Eingang in Fachpublikationen und Lexika gefunden hat oder in Zusammenhängen auftaucht, in denen es zumindest auf den ersten Blick ernstgenommen wird.
Der Aspekt des Betrugs – worum es sich streng genommen handelt – spielt beim „wissenschaftlichem Witz“ keine Rolle. Unterhaltungswert, Austesten von Grenzen, Satire, Lust am Karikieren des Wissenschaftsbetriebes und die Freude daran, Zeitgenossen aufs Glatteis zu führen oder gar handfest zu blamieren, sind bestimmende Motive. Einiges ist sehr schnell als Scherz erkennbar. Anderes wird übernommen und erst viel später als Fiktion erkannt.
Dass nicht jeder den entsprechenden Sinn für Humor besitzt, erfuhr seinerzeit Mischa Meier, heute Professor für Alte Geschichte in Tübingen. Zum Standardnachschlagewerk „Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike“ hatte er mehrere Beiträge verfasst. Der Artikel zum Stichwort „Apopudobalia“, in dem eine „antike Form des neuzeitlichen Fußballspiels“ beschrieben wird, war ein reines Phantasieprodukt. Meier führte als Gewährsmann einen ebenfalls frei erfundenen alten Griechen namens Achilleus Taktikos an und verwies, hier noch dicker auftragend, als weiterführende Literatur auf eine fiktive „Festschrift“ für den damaligen deutschen Nationalspieler Matthias Sammer.
Die Gemeine Steuer-Zecke
All dies wurde im Manuskript übersehen. Als das Werk 1996 im Druck vorlag, kam es zunächst zu Kritik wegen der unstimmigen Wortbildung von „Apopudobalia“. Erst dann wurde offenbar, dass es sich bei dem Artikel von vorn bis hinten um Unsinn handelte. Der Verlag J.B. Metzler, nur mäßig amüsiert, beabsichtigte zunächst, Meier die Kosten für das Einstampfen in Rechnung zu stellen. Letztendlich blieb „Der Neue Pauly“ in dieser Form erhalten, die Aktion war unter Historikern auf positive Resonanz gestoßen.
„Brockhaus“ hingegen veranlasste fingierte Artikel in seinen großen Nachschlagewerken selbst. So findet sich in der 20. Auflage der Enzyklopädie aus dem Jahr 1999 unter dem Stichwort „Zecken“ (Lat.: Ixodida) nach einigen Ausführungen über diese Milbenordnung ein Hinweis auf die „ausschließlich am Menschen saugende Gemeine Steuer-Z. (Ixodes fiscalis)“.
Angeregt von einem Gedicht Christian Morgensterns über das „Nasobēm“, hatte sich der Zoologe Gerolf Steiner auf eine zwar lediglich geistige, aber dennoch sehr ertragreiche Forschungsreise begeben, die zur „Entdeckung“ der bereits ausgestorbenen Nasenschreitlinge (Lat.: Rhinogradentia) führte. Wie der Name nahelegt, waren die Tiere in der Lage, sich mittels ihrer Nase fortzubewegen, überhaupt spielte die Nase in ihrem Leben eine große Rolle.
Steiner verfasste unter dem Pseudonym Harald Stümpke eine umfangreichere Abhandlung über „Bau und Leben der Rhinogradentia“, die 1961 im renommierten Fachverlag Gustav Fischer erschien. Das Buch wurde mehrfach aufgelegt und übersetzt. Dass es sich hier lediglich um eine, wenn auch äußerst aufwendige, Spielerei handelt, war nicht sofort jedem klar, zumal der Autor als Wissenschaftler mit den Formen einer entsprechenden Präsentation vertraut war.
Einen einfacher durchschaubaren „wissenschaftlichen Witz“ stellt die „Dunkelbirne“ dar. Sie ist ebenfalls durch ein Morgenstern-Gedicht inspiriert und nützlich, sofern man Dunkelheit erzeugen möchte. Sie taucht zumeist im Zusammenhang mit dem genialen „Erfinder“, dem Entenhausener Ingenieur Daniel Düsentrieb auf.
An einem Frosch erstickt
Im Gegensatz zu diesem handelt es sich bei Jürgen Mittelstraß um eine höchst reale Person. Der Philosophieprofessor hat es sich allerdings nicht nehmen lassen, in der von ihm herausgegebenen „Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaftstheorie“ einen Artikel über den von ihm erfundenen „Unzufriedenheitssatz“ einzufügen, den er dort auf den vorsokratischen Denker Heraklit zurückführt. Aufsehen erregte Anfang der 1960er Jahre der vor allem als Maler und Cartoonist bekannte Hans Traxler mit dem Buch „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“. Die Ausführungen über die Grabungen am Hexenhaus und damit der historischen Grundlage des Märchens erschien zunächst vielen als realistische Darstellung, in einer weiteren Auflage wurde dann eigens vermerkt, dass es sich um eine Parodie handelt.
Inzwischen unüberschaubar dürfte die Anzahl der erfundenen und auch in seriösen Werken weiter kolportierten historischen Personen sein. Bekanntes Beispiel ist P.D.Q. Bach, angeblich jüngster Sohn von Johann Sebastian Bach und ebenfalls Komponist. Friedrich Gottlob Nagelmann wiederum ist inzwischen ein Kosmos für sich. Die „Lebensgeschichte“ des fiktiven Juristen wurde von vielen „Experten“, die Freude daran haben, fortgeschrieben.
Danach erstickte der aus dem ostpreußischen Insterburg stammende Nagelmann am 29. Februar 1994 – den Tag gab es nicht – im Alter von 104 Jahren an einem Frosch, der ihm im Hals stecken geblieben war. Sogar Roman Herzog hielt eine Trauerrede auf ihn. Nagelmann war am „Erschöpfungsbeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts „beteiligt“ und „veröffentlichte“ etwa über die Frage der Haftung bei „Steinlaus-Schäden“ – womit die Brücke zur „Steinlaus“, einen auf Loriot zurückgehenden Scherzbeitrag für ein medizinisches Wörterbuch, geschlagen wurde.
Nagelmann gilt zudem als Fernschachpartner und Mentor des SPD-Bundestagshinterbänklers Jakob Maria Mierscheid und stand in Kontakt mit dem Diplomaten Edmund Friedemann Dräcker und dem Psychologen Ernst August Dölle. Ebenso wie bei Nagelmann handelt es sich um völlig frei erfundene Personen. Von ihren Verehrern werden deren Namen jedoch immer wieder in die verschiedensten Zusammenhänge eingebracht, womit ihr Fortleben gesichert sein dürfte.
Thomas Marx am 26.08.20, 06:33 Uhr
Nicht zu vergessen: Lindsay J; Boyle P: The conceptual Penis as social construct", ein frei erfundener Hoax-Artikle in "Cogent Social Sciences" Mai 2017, "Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity (Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation)" von Alan Sokal, einem Physiker, der zum Spaß die gesamte Quantenphysik als "soziales Konstrukt" "entlarvte" und die "Sokal-Affäre" der Geisteswissenschaften verursachte, und "Sokal Squared", wo 20 reine Phantasieartikel in "wissenschaftlichen" Zeitschriften der Gender Studies eingereicht wurden, zehn davon wurden angenommen.