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Länderporträt

Von Krakau bis nach Lemberg

Der Germanist Marcin Wiatr nimmt seine Leser mit auf eine Entdeckungsreise durch Galizien

Karlheinz Lau
06.05.2023

Galizien zählt zu den Regionen, die uns Deutschen nicht sehr vertraut sind. Es ist eine Landschaft nord-nordöstlich des lang gestreckten Gebirgszuges der Karpaten, eine Region mit einer äußerst wechselvollen Geschichte. Heute gehört der westliche Teil Galiziens mit seiner bedeutendsten Stadt Krakau zur Republik Polen, Ostgalizien mit Lemberg zur Ukraine.

Der Autor des Buches „Literarischer Reiseführer Galizien“, Marcin Wiatr, in der Republik Polen geboren, studierte Germanistik und deutsche Geschichte an den Universitäten Krakau, Kiel und Oppeln. Heute arbeitet er am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig, wo er unter anderem die deutsch-polnische Schulbuchkommission leitet. Er nennt sein Buch einen Literarischen Reiseführer, das heißt, neben seinen eigenen Texten über Städte, Denkmäler, Industrieanlagen, Landschaften oder Persönlichkeiten der jeweiligen Orte zitiert er zeitgenössische Dichter, Literaten, Reisende und Zeitgenossen in erstaunlich großer Zahl.

Die Quellen stammen von Angehörigen verschiedener Völker beziehungsweise Volksgruppen, die eine Beziehung zu Galizien haben, dort lebten oder leben. Es sind Polen, Ukrainer, Russen, Österreicher und Deutsche. Der bekannteste ist Alfred Döblin mit seinem Buch „Reise in Polen“. Diese vielfältigen Aussagen und Zeugnisse der unterschiedlichsten Persönlichkeiten schaffen zusammen mit den Texten des Autors und zahlreichen Fotos in Schwarz-Weiß und Farbe ein eindrucksvolles Bild von sehr unterschiedlichen Landschaften mit einer traditionell gewachsenen Kultur. Dies wird verstärkt durch die Tatsache, dass der Autor für jeden besuchten Ort auch dessen Entstehung und Geschichte bis in die Gegenwart nachzeichnet.

Wiatr hat sich für seine Erkundungen vier Schwerpunkte ausgesucht, von denen er meint, sie seien trotz aller Unterschiedlichkeit charakteristisch für Galizien. Bei seinen Beschreibungen ist es für den Leser sehr hilfreich, dass die Beiträge jeweils mit farbigen Plänen der Zentren der Orte und Städte mit Besichtigungsvorschlägen eingeleitet werden. Er beginnt seine Tour in der Bergregion der Hohen Tatra mit dem heutigen Kurort und Zentrum des Wintersports Zakopane, es folgt das jüdische Galizien mit den Orten der nationalsozialistischen Vernichtung vornehmlich der europäischen Juden. Es sind die Namen Belzec, Auschwitz und Birkenau.

Charakteristische Schwerpunkte
Die westlich orientierten Metropolen Krakau und Lemberg sind weitere Stationen, um nordöstlich von Lemberg das Industriegebiet mit beachtlicher Förderung von Erdöl um Brody als letzte Station die Rundreise abzuschließen. Die Vielfalt kultureller Wurzeln drückt sich auch darin aus, dass neben slawischen, jüdischen, polnischen und ukrainischen auch deutsche Spuren das Land prägen. Auch sind Volksgruppen wie die Golanen, Ruthenen oder Huzulen zu nennen.

Die deutschen Spuren gehen zurück bis zur mittelalterlichen Ostsiedlung. Bäuerliche Ansiedlungen sowie Handwerker und Kaufleute waren die Träger. Viele städtische Siedlungen wurden nach dem Magdeburger Recht gegründet. Am deutlichsten wird der deutsche Charakter in Krakau sichtbar, wo mehrheitlich Angehörige der Mittelschicht wie Handwerker und Kaufleute lebten, während bäuerliche Siedlungen im Schatten der Karpaten zu finden sind. Ein entscheidender Einschnitt für die Geschichte dieser Region wurde die erste polnische Teilung 1772, Galizien wurde als Kronland der Habsburger Monarchie zugesprochen. Dieser Zustand endete erst 1918. Natürlich verstärkten sich in dieser Epoche deutsch geprägte Einflüsse in dem Kronland.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte Galiziens das jüdische Element mit der eigenen Sprache Jiddisch. Die Juden leben verteilt in ganz Galizien, aber auch in städtischen Zentren wie Tarnow östlich von Krakau oder in kleineren Siedlungen. Hier entstand der Begriff des Schtetl, eines Freiraums für jüdische Menschen – nicht zu verwechseln mit einem Ghetto. Die Quellen von Zeitgenossen zeichnen ein deprimierendes Bild von den Lebensverhältnissen vieler Juden, das nicht nur für den Bezirk um Tarnow gilt. Die jüdische Bevölkerung war aufgeteilt zwischen einer städtischen bürgerlichen Mittelschicht und der Masse der Juden, die oft in kaum zu beschreibenden Verhältnissen leben mussten.

Auch für Nachgeborene müssen die Passagen über die Vernichtungslager der Deutschen in Polen Ungläubigkeit und tiefe Erschütterung hervorrufen, so besonders die Aufzeichnungen von zwei Betroffenen, Tadeusz Borowski und Salmen Gradowski. Deutlich wird: Es ist die Grenze des Fassbaren überschritten.

Das Kapitel Krakau und Lemberg nennt der Autor „Zwischen Glanz und Schatten. Galiziens Metropolen der Moderne“. Diese Charakterisierung bezieht sich bei Krakau auf die besonderen Höhepunkte wie die Marienkirche mit dem Hochaltar von Veit Stoß, das Königsschloss auf dem Wavel oder das alte jüdische Viertel Kazimierz. In Lemberg hat der Ukrainekrieg erhebliche Spuren hinterlassen, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Der bekannte österreichische Schriftsteller Joseph Roth, ein bekannter Titel ist sein Buch „Radetzkymarsch“, ist in Brody, im äußersten Nordosten Galiziens geboren. In dieser Grenzstadt kreuzen sich habsburger, galizische, polnische, russische und jüdische Traditionslinien. Diese Vielfalt prägt die Menschen, aber auch die Architektur der Stadt, die einst ein wichtiger Verkehrs- und Handelsknotenpunkt war.

Zweihundert Kilometer südwestlich von Brody liegt das kleine Dorf Boryslau. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden hier Erdöllagerstätten entdeckt, die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung weckten. Immerhin war die Habsburger Monarchie 1912 nach den USA und Russland das drittgrößte Förderland. Das ist eine überraschende Tatsache. Die angeführten Berichte bieten allerdings ein ernüchterndes Bild über den Wohlstand für die Menschen.

Die Fülle der ausgewählten Quellen, bei der Lektüre begegnet man zahlreichen Dichtern und Schriftstellern, und Wiatrs eigene fundierten Texte bieten Informationen und Eindrücke über die lokalen und historischen Gegebenheiten seiner Entdeckungstour durch Galizien. Hinzu kommen technische Hilfen wie eine Übersichtskarte des gesamten Raumes auf der Innenseite des Einbandes sowie eine genaue Geschichtsübersicht mit den wichtigsten Daten vom 9. Jahrhundert bis 2022. Es ist ein sehr anspruchsvoller und anregender Einstieg in das Thema Galizien.


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