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Der Mittelalter-Forscher lehrte an der Albertina – Im Strudel der Kriegsereignisse versank die traditionsreiche Universität
Mitte 1944 endete die sechsjährige Lehrtätigkeit des Mediävisten Herbert Grundmann (1902–1970) an der Königsberger Albertus-Universität. Nur wenige Monate nach seinem Weg-gang versank die traditionsreiche Albertina im Strudel der Kriegsereignisse. Derartiges war für Grundmann sicher kaum vorstellbar gewesen, als er zum Sommersemester 1939 aus Leipzig auf den Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters an die Albertina wechselte. Der damals 37-Jährige zählte zu den wenigen Historikern, die ohne NSDAP-Mitgliedschaft auf einen Lehrstuhl berufen wurden.
Grundmann sollte sich von der ostpreußischen Hauptstadt und der umgebenden Landschaft immer wieder beeindruckt zeigen. Offenbar hatte ihm auch eine Reihe von sich ergebenden Personenkontakten das Ankommen im äußersten Nordosten des Reiches erleichtert. Sein späterer Schüler Arno Borst schrieb: „Er kam in eine Landschaft, die den Freund weiter Wasserflächen und ausdauernden Schwimmer seit früher Jugend angezogen hatte, und in eine Universität, die in diesen Jahren zahlreiche junge Gelehrte versammelte. Mit dem Germanisten Hermann Gumbel und den Historikern Alfred Heuß, Kurt von Raumer und Theodor Schieder verband ihn bald herzliche Freundschaft. Die Königsberger Gelehrte Gesellschaft nahm ihn bald als Mitglied auf; in der Kant-Gesellschaft fand er eine über den akademischen Kreis hinausgehende intensive geistige Geselligkeit [...]“.
Zwischen Lehrstuhl und Wehrmacht
Die Begegnung mit Königsberg und Ostpreußen inspirierten Grundmann zu Studien zur Orts- und Landesgeschichte, zur Ostpolitik des Mittelalters, zum Geschichtsverständnis Kants oder zur Literatur des Deutschen Ordens. Wegen seines Alters und seiner Sehschwäche hatte der Mediävistik-Ordinarius, der privat in der Probstheidastraße 8 wohnte, nach Kriegsbeginn zunächst keinen Militärdienst zu leisten gehabt. Dies änderte sich jedoch im Jahr 1941. Ab da war seine universitäre und wissenschaftliche Tätigkeit verschränkt mit Diensten und Schulungsreisen für die Wehrmacht.
1941 wurde er zur Königsberger Flak eingezogen, im Spätsommer 1942 zum Landesschützen-Ersatzbataillon 1 in Preußisch Holland/Opr. 1943 verrichtete er Schreibstubendienst bei der Division 401 in Königsberg, an der Albertina hielt er nur noch ein Seminar ab. Seinem Wehrmachtsdienst ging Grundmann nicht ohne innere Bereitschaft nach. Bis in das Jahr 1944 hinein war er der Auffassung, dass Deutschland den Krieg gewinnen müsse, und offen dafür, im Wehrmachtskontext dazu einen Beitrag zu leisten.
Der am 22. Juni 1941 begonnene Krieg gegen die Sowjetunion hatte ein Kerngebiet seiner Forschung, die mittelalterliche deutsche Ostexpansion, zu neuer Aktualität gebracht. Ergebnisse der „Ostforschung“ vor der Folie des gegenwärtigen „Ostfeldzuges“ „einzuordnen“, war Sinn und Zweck seiner Schulungsvorträge, die er vor Wehrmacht-Publikum im nordöstlichen Reichs- und Kriegsgebiet hielt. Manche der auf solidem fachlichen Wissen basierenden Publikationen und Vorträge Grundmanns aus diesen Jahren waren nicht frei von Adaptionen an die NS-Terminologie (wenn er zum Beispiel die „Rasse“ als geschichtliche Kategorie betonte), obschon er bis zu der seit 1998 in der Fachwissenschaft breiter ausgetragenen Debatte um die NS-Vergangenheit führender bundesdeutscher Geschichts-Lehrstuhlinhaber als „unbelastet“ galt.
Zur Innensicht Grundmanns auf seine Zeit in Königsberg steht wichtiges Quellenmaterial erst seit dem Ablauf von Privatkorrespondenz-Sperrfristen zur Verfügung. Hier ist insbesondere auf den umfangreichen Briefwechsel mit seinem Kollegen Hermann Heimpel zu verweisen, der sich in den Universitätsarchiven von Leipzig und Göttingen befindet. Insgesamt exponierte sich Grundmann weniger als andere in der „Ostforschung“ tätige Kollegen im Sinne des Nationalsozialismus. 1943 widerstand er einer Avance, der SS beizutreten. Im Sande verliefen auch Anfang 1944 innerhalb der SS-Forschungseinrichtung „Ahnenerbe“ bestehende Überlegungen, ihn für eine Tätigkeit in der niederländischen – das heißt deutsch besetzten – Universitätsstadt Leiden zu optieren. Grundmann blieb in Königsberg.
Das Vorlesungsverzeichnis der Albertina wies für das Sommersemester 1944 vier von ihm angebotene Veranstaltungen aus. Hauptereignis seines letzten Semesters in Königsberg war die 400-Jahr-Feier der Universität im Juli 1944. Diese Feier stand unter einem zweifach ungünstigen Stern: Zum einen war die Ostfront bereits an die Grenze Ostpreußens herangerückt. Der Rektor der Albertina hatte deswegen auch für eine Absage der Feier plädiert. Vom ostpreußischen Gauleiter Erich Koch war jedoch ein ostentatives Stattfinden der Feierlichkeiten entschieden und deren Ablauf vorgegeben worden.
Grundmann hatte aus Anlass des Jubiläums eine Würdigung der Universitätsgeschichte verfasst, deren Text in der „Preußischen Zeitung“ vom 7. Juli 1944 abgedruckt wurde. Er gab darin – die Albertina eingangs als eine der 29 Universitäten vorstellend, „die heute im Großdeutschen Reich auch und gerade inmitten des härtesten Krieges als Waffenschmieden deutscher Wissenschaft forschend und lehrend wirken“ – einen Abriss der Universitätsgeschichte und ihrer herausragenden Gelehrten und stellte dabei den von 1770 bis 1797 an der Albertina lehrenden Philosophen Immanuel Kant besonders heraus. Er schloss mit dem Ausblick, die Albertina sehe sich angesichts des gegenwärtigen Krieges „als Ostuniversität wie auf Vorposten gestellt [...] gegen die Widersacher des deutschen und europäischen Geistes“. Dass sie „in diesem verpflichtenden, anspornenden Bewußtsein in ein neues Jahrhundert ihres Schaffens“ eintrete, verbinde sie „noch über ihre Anfänge zurück mit der Aufgabe und Leistung des Deutschen Ordensstaates, dessen letzter Hochmeister ihr Gründer wurde“.
Auf die Feierlichkeiten blickte Grundmann später nur ungern zurück. 1968, um einen Beitrag zur 750-Jahr-Feier gebeten, äußerte er: „[...] mir ist die Erinnerung daran makaber und bedrückend, fast beschämend, da auch ich geschwiegen habe. Wie könnte ich jetzt nach Ihrem Wunsch das rühmen, was ich schon damals als unwürdig empfand.“ Von den Jubiläumsfeierlichkeiten scheint er seinem Kollegen Heimpel damals nicht berichtet zu haben. Im nächsten Brief an diesen vom 18. Juli 1944 heißt es:
„Hier ist eine ziemliche Unruhe ausgebrochen, weil man sich, seit die Russen näherkommen, noch östlicher vorkommt als sonst. Wer kann, bringt die Kinder weg. [...] Alles was Beine hat bis zu den betagtesten Kollegen wird aufgeboten zu Befestigungsarbeiten an der Grenze. [...] Man will mich, wie Sie vielleicht schon gehört haben, nach Münster holen [...]. Es tut mir in mancher Beziehung leid, aus Ostpreußen und Königsberg wegzugehen, da ich mich in diesem Lande sehr wohl fühlte, weniger allerdings in dieser Universität und Fakultät, das erleichtert mir den Weggang.“
Der in diesem Brief erwähnte Ruf nach Münster machte einen Umzug nach Westfalen erforderlich, der in den folgenden Tagen zunächst von Grundmanns Frau Annelies mit den drei (in Königsberg geborenen) Kindern vorgenommen wurde. Auch das Gros des Wohnungsinventars aus der Prostheidastraße gelangte so in den vorläufigen neuen Wohnort Lengerich/ Westfalen. Bald darauf, Ende August 1944, wurden bei zwei verheerenden Bombenangriffen der Royal Air Force auf Königsberg die Innenstadt und damit die meisten Gebäude der Albertina zerstört, darunter auch der Gebäudekomplex Theaterplatz 3-5 mit dem Historischen Seminar. Grundmann selbst standen vor dem Wechsel nach Münster noch nachhaltige Erfahrungen als Soldat in Ostpreußen bevor:
Im Herbst 1944 wurde er zur Kraftfahr-Ersatz- und Ausbildungs-Abteilung 1 nach Osterode/Opr. eingezogen. Dieser Einheit hatte 1941/42 – als Fahrlehrer – bereits sein Königsberger Universitäts-Kollege, der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, angehört. Grundmann scheiterte bei der Osteroder Einheit an der Fahrprüfung. In der Folge wurde er als Gefreiter zu einem Reserveoffiziersbewerrber-Lehrgang bei der Fahrersatz- und Ausbildungs-Abteilung 1 nach Bartenstein versetzt. Dieser Lehrgang erhielt im Februar 1945 eine Abkommandierung zu den Kampfhandlungen im Kessel von Heiligenbeil. Hier erlitt Grundmann am 10. Februar 1945 eine Schussverletzung. Er schaffte es, mit der Verletzung nach Pillau auf ein Evakuierungs-Schiff der Kriegsmarine zu kommen. Mit diesem gelangte er nach Güstrow und geriet anschließend in britische Kriegsgefangenschaft, die bis Juli 1945 andauerte.
Unterdessen hatte Grundmanns Straßburger Kollege Heimpel im Wintersemester 1944/45 an der Universität Göttingen die Vertretung des Mediävistik-Lehrstuhls übernommen.
Göttingen und das Erbe der Albertina
Die Göttinger Georg-August-Universität verpflichtete sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf die Pflege der Tradition der untergegangenen Albertina. Ausgangspunkt dieser Verbindung war die von dem vormaligen Albertina-Kurator Friedrich Hoffmann veranlasste Verlegung der zentralen „Meldestelle“ für Angehörige der Königsberger Universität in die von Kriegszerstörungen weitgehend verschont gebliebenen Leinestadt. In der Folge gelangten auch die geretteten 30 Prozent der Bestände des Königsberger Staatsarchivs in die niedersächsische Universitätsstadt, wo sie (bis 1979) im Archivlager in der Merkelstraße 3 verwahrt wurden. Ebenso fanden nach dem Krieg die geretteten Reste der Bernsteinsammlung der Albertina in Göttingen eine neue Bleibe: Die rund 18.000 Einzelstücke sind heute Teil des Geowissenschaftlichen Museums der Universität.
Vom ehemaligen Personal der Albertina setzte eine ganze Reihe von Professoren und Dozenten ihre akademische Tätigkeit in Göttingen fort. In der Anfangszeit versuchte in mehreren Funktionen nicht zuletzt Götz von Selle die Erinnerung an die Albertus-Universität im wissenschaftlichen Kontext Göttingens wachzuhalten. Selle hatte von 1924 bis 1939 im Dienst der Göttinger Universitätsbibliothek gestanden und war anschließend in Königsberg als Professor für Bildungs- und Geistesgeschichte und stellvertretender Direktor der dortigen Staats- und Universitätsbibliothek tätig. Zum 400. Jubiläum verfasste er die offizielle „Geschichte der Albertus-Universität“. Grundmanns Kollege und Korrespondenzpartner Heimpel lehrte bis 1955 an der Göttinger Universität und baute in der Folge vor Ort das Max-Planck-Institut für Geschichte auf.
Der 1946 überwiegend von Wissenschaftlern mit Bezug zu Ostpreußen und Königsberg gegründete „Göttinger Arbeitskreis“ gab von 1951 bis 1994 das Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. heraus. Erster Präsident des „Arbeitskreises“ war der vormalige Königsberger Universitäts-Kurator Friedrich Hoffmann. Nach dessen Tod (1951) übernahm der von 1920 bis 1928 an der Albertina tätige Völkerrechtler Herbert Kraus, der 1937 bis 1945 aus politischen Gründen in Göttingen Lehrverbot hatte, das Amt. Nicht mehr Zeuge des Neuanfangs der Königsberger Personals in der niedersächsischen Universitätsstadt wurde einer der bedeutendsten dort lehrenden Wissenschaftler, der Mathematiker David Hilbert. Er war 1895 von der Albertina auf einen Lehrstuhl nach Göttingen gewechselt, das damals zu einem Zentrum der Naturwissenschaften wurde und bis 1933 in diesem Bereich Weltgeltung erlangen sollte. Hilbert, 1862 in Königsberg geboren, verstarb 1943 in Göttingen. Einer der letzten später in Göttingen lehrenden Professoren der Albertina war der Althistoriker Alfred Heuß: Er hielt noch bis in die 1980er Jahre Vorlesungen an der Universität.
Ein Erinnerungsort anderer Art mit Bezug zur Königsberger Universität ist in Göttingen das „Collegium Albertinum“, ein 1964 fertiggestelltes Studentenwohnheim im Bonhoefferweg 2 im Stadtteil Klausberg. Teil des Baus ist ein Veranstaltungssaal, der häufig auch für Ostpreußen-bezogene Vorträge und Veranstaltungen genutzt wird. Die Trägergesellschaft des „Collegiums“ vergibt seit 1966 eine Verdienstplakette, die nach Simon Dach benannt ist.
Dieser hatte ab 1639 zwei Jahrzehnte als Professor für Poesie an der Albertina gewirkt. Zu Nachruhm gelangte er vor allem als Text-Verfasser der „ostpreußischen Nationalhymne“ „Ännchen von Tharau“. Bei der Einweihung des Wohnheims hatte auch Theodor Schieder, der letzte Dekan der Philosophischen Fakultät der Albertina und Direktor des Historischen Seminars, zu den Rednern gehört. Seine Erinnerungen an die Königsberger Universität wurden 1972 vom Göttinger „Institut für den wissenschaftlichen Film“ aufgezeichnet.
Neuanfang in Münster
Grundmann trat nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Sommer 1945 seine Professur in Münster an. Als einer der führenden Mittelalter-Forscher in der neuentstandenen Bundesrepublik lehrte er bis 1958 an der Wilhelms-Universität. Von 1959 bis 1970 war er Präsident der Mittelalter-Forschungseinrichtung „Monumenta Germaniae Historica“ in München. Zu seinem umfassenden weiteren Tätigkeitsfeld gehörte bis 1970 die Neuausgabe (8. und 9. Auflage) des „Handbuchs der deutschen Geschichte“ („Gebhardt“). Für den Schlussband der Propyläen-Weltgeschichte schrieb er 1965 den Essay „Über die Welt des Mittelalters“, der „gleichsam eine Summe seines gelehrten Lebensweges“ (Klaus Schreiner) darstellte. Grundmann verstarb am 20. März 1970 im Alter von 68 Jahren in München. Die Trauerrede auf dem Münchener Ostfriedhof hielt sein Kollege Hermann Heimpel.