Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Das bewegte Leben einer ostpreußischen Bauerntochter, die im kommunistischen Polen eine Pension in Masuren gründete – und die anders als die meisten Landsleute ihre Heimat nicht verlassen hat
Sie ist eine der letzten Zeitgenossen, die das alte Ostpreußen noch vor seinem Untergang, vor Diktatur und Krieg sowie vor Flucht und Vertreibung kennengelernt haben. Und sie ist eine von jenen, die auch danach immer in der Heimat geblieben sind. Ein Gespräch mit einer Ostpreußin, die in über neun Jahrzehnten viel gesehen und erlebt hat.
Frau Nosek, Sie wurden am 10. November 1931 im masurischen Gehland als Brigitte Syska geboren. Was ist die am längsten zurückliegende Begebenheit Ihrer Kindheit, an die Sie sich noch erinnern können?
Ich habe ein vages Bild vor Augen, wo Pferdekutschen vom Hof fuhren und ich fürchterlich geweint habe, weil meine Mutter mit dabei gewesen ist. Erst später habe ich herausbekommen, dass die Mutter damals zur Hochzeit ihrer Schwester gefahren ist. Da war ich etwa vier Jahre alt.
Aus jener Zeit habe ich auch das Bild vor mir, wie mein Großvater sich auf das Bett setzte und meiner kleinen Schwester die Wiege geschaukelt hat. Da meine Schwester im September 1935 geboren wurde und mein Opa im April 1936 gestorben ist, muss ich da auch ungefähr vier Jahre alt gewesen sein.
Was haben Sie sonst noch für Erinnerungen an Ihre Kinderzeit.
Wälder, Felder und der See. Wobei ich bis zur Schulzeit vom See wenig gesehen habe, weil unser elterlicher Hof etwa einen Kilometer davon entfernt war. Damals kamen die Menschen, und erst recht ein kleines Kind, viel weniger herum als heute. Erst in der Schule kam ich mit dem See richtig in Verbindung.
Als Sie etwas mehr als ein Jahr waren, veränderte sich Deutschland und damit auch Ostpreußen grundlegend. Die Nationalsozialisten übernahmen die Macht. Wie war Ihre Kindheit in Zeiten der Diktatur?
Vor der Schule habe ich eigentlich nicht mitbekommen, dass wir in einer Diktatur lebten. Wie gesagt, war ich bis dahin kaum vom elterlichen Hof weggekommen. Woran ich mich noch gut erinnern kann ist, wie meine Mutter eines Tages zu uns ins Zimmer kam und sagte: „Ihr braucht heute nicht aufzustehen, der Krieg hat angefangen“ – und wie sie dann weinend hinausging.
Wo etwas von den neuen Zeiten zu bemerken war, das war die Schule. Bei unserem Lehrer mussten wir mit „Heil Hitler“ grüßen. Und wenn ich am Nachmittag in den Kaufmannsladen ging, um Besorgungen für meine Mutter zu erledigen, und dabei den Lehrer traf, gab es Ärger, wenn ich ihn nicht noch einmal mit „Heil Hitler!“ grüßte. Wenn ich ihm dann sagte, dass ich ihn doch schon in der Schule gegrüßt hätte, sagte er, dass das egal sei.
Wie hat sich der Krieg, von dem Sie erstmals durch Ihre Mutter hörten, in Ihrem Alltag ausgewirkt?
Anfangs haben wir nicht viel gemerkt. Unser Dorf lag ja noch ein Stück von der Grenze zu Polen entfernt, sodass wir von den Kämpfen nichts mitbekommen haben. Wir haben nur den Durchmarsch der Soldaten miterlebt, Arno Surminski beschreibt das ja in seinem Roman „Jokehnen“. Dafür wurden wir von der Schule befreit und sollten den Soldaten applaudieren. Das haben wir auch gemacht. Später bekamen wir dann Kinder aus dem Westen, aus Düsseldorf einquartiert, die hier vor dem Bombenkrieg geschützt wurden.
Und ich erinnere mich, dass wir manchmal Kräuter sammeln und Socken stricken mussten oder auch Schals und Mützen und so weiter. Eine schöne Erinnerung ist, dass mein Vater anfangs nicht beim Militär dienen musste, weil er magenkrank war. Dass der Krieg natürlich nicht an uns vorbeizog, zeigten die Nachrichten über die Gefallenen aus unserem Dorf und den Nachbarorten, die mit der Zeit immer häufiger kamen.
Eines Tages brachte mein Vater einen jungen polnischen Landarbeiter mit nach Hause. Da die meisten unserer Männer im Krieg waren, konnten die Bauern auf dem Arbeitsamt kriegsgefangene Franzosen, Russen oder Polen als Arbeiter anwerben. Mein Vater sprach dann einen jungen Polen an und fragte ihn, ob er mitkommen wolle.
Er hat den Arbeiter direkt gefragt, also nicht mit dem Amt verhandelt?
Richtig. Mein Vater konnte noch das alte Masurisch, das dem Polnischen ähnlich ist, und konnte sich so in einem Kauderwelsch mit dem Arbeiter, Peter war sein Name, unterhalten. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Vater ihn mitbrachte, wir uns zum Abendbrot hingesetzt haben und er mit uns zusammen gegessen hat.
Seit jenem Tag aß Peter immer mit uns – obwohl das eigentlich nicht erlaubt war. Aber der Peter blieb bei uns am Tisch. Wir hatten ja Hunde, die anschlugen, wenn sich jemand unserem Hof näherte. Und Vater sagte, wenn jemand kommen würde, könnte Peter immer noch schnell aufstehen. Aber ich erinnere mich nicht, dass er jemals aufstehen oder wegrennen musste. Er war bei uns auf sicherem Grund.
Ich bin der Meinung: Kriege hat es immer gegeben. Aber jeder Einzelne hat die Möglichkeit, ein bisschen Menschlichkeit zu zeigen. Dann wäre vieles nicht so schlimm.
Woran können Sie sich noch erinnern?
Vor allem an die Feldarbeit. Die Kindheit war kurz, und schon früh galt es für uns, auf dem elterlichen Hof mit anzupacken. Wir waren vier Schwestern, ein Bruder war früh verstorben, was vor allem der Vater bedauert hat. Deshalb mussten wir Mädchen auch bei Arbeiten mithelfen, die sonst eher den Jungs vorbehalten waren. Was ich nicht mochte, das war die große Ernte, wo die Männer mit Sensen voranschritten und wir hinterher gehen und Garben binden mussten. Das war schrecklich in der sommerlichen Hitze. Am liebsten mochte ich die Kartoffelernte und auch die Rübenernte. Mit mir wollte jeder Kartoffeln sammeln, weil ich flink war und immer Freude daran hatte.
Nach einigen Jahren kam der Krieg nach Ostpreußen zurück, und zwar durch fremde Truppen. Wie haben Sie dies erlebt?
Ich kann mich daran erinnern, dass mein Vater, der später doch eingezogen worden war, aber nur zum Dienst in der Schreibstube, Ende November 1944 aus Norwegen schrieb, dass er nach Hause kommen würde. Doch dann hörten wir lange nichts mehr von ihm, sodass wir schon fürchteten, dass sein Schiff untergegangen sein könnte.
Aber dann kam er. Und schon bald begannen die Vorbereitungen für eine Flucht. Die Russen standen ja seit Herbst '44 an den ostpreußischen Grenzen. Ich habe noch das Bild vor Augen, wie meine Eltern über die Weide gingen und meine Mutter weinte. Wie sollte man vom Bauernhof weggehen – und alle Pferde, Kühe, Schweine, Hühner, Enten, aber auch die Vorräte, all das eingemachte Gemüse, das Fleisch und nicht zuletzt den ganzen Hof zurücklassen? Und wohin sollten wir selbst dann gehen?
Unser Peter hat dann früh damit begonnen, einen Fluchtwagen einzurüsten. Weil das eigentlich verboten war, hat er es heimlich auf der Tenne gemacht. Hitler und seine Genossen haben noch zu Weihnachten und Neujahr von Wundern und Wunderwaffen gefaselt, und dass kein Russe in Ostpreußen einmarschieren würde.
Ende Januar 1945 sind wir dann auf die Flucht gegangen. Vater war wieder nach Norwegen geschickt worden. Auch Peter war nicht dabei, weil er inzwischen eine Verlobte hatte, die ein Kind von ihm erwartete. Er hat uns dann aber noch zu unseren Großeltern gebracht, acht Kilometer von uns entfernt, das waren die Eltern von meiner Mutter. Und mit denen sind wir dann ungefähr drei Tage später geflüchtet.
Wie weit ist Ihre Familie gekommen?
Nur ein paar Tage weit, aber fragen Sie nicht, bis wo genau. Viele Erinnerungen gehen hier durcheinander. Ich weiß jedoch, wie mein Großvater kurz hinter einem Dorf, dass wir gerade passiert hatten, sagte, dass wir wenden müssten, weil die Pferde krank werden.
Auf den Straßen war eine Seite für die Flüchtlinge, die andere fürs Militär. Und gerade, als Opa wendete, kam ein deutsches Offiziersauto. Einer der Herren hat uns angeschrien, das sei Sabotage, und meinem Opa gedroht, ihn zu erschießen. Opa ist dann mit den Pferden ein bisschen in den Graben hinein, damit die Soldaten durchfahren konnten.
In dem Dorf, das wir gerade hinter uns gelassen hatten, ist meine Mutter dann mit uns – meine jüngste Schwester war gerade zwei Jahre alt – in ein Haus gegangen. Da waren so viele Menschen, die wollten uns gar nicht hineinlassen. Aber meine Mutter wollte etwas Warmes für die Kleine machen, und dann bekamen wir ein Zimmer zugewiesen, das wir aber natürlich nicht allein für uns hatten. Mit dabei war auch Onkel Albert, der Mann der Schwester meiner Mutter. Er hatte seine Frau mit ihren vier Kindern schon früher mit dem Zug nach Westen geschickt und sich zu Hause um seinen Kolonialwarenladen gekümmert.
Ich erinnere mich gut, wie die beiden Männer, der Opa und der Onkel, noch in unser Zimmer reinschauten und sagten, dass sie nach den Pferden sehen wollten. Kurz nachdem sie gegangen waren, ist ein Schuss gefallen. Und dann hat jemand gesagt: „Die Russen sind da!“ Von meinem Onkel weiß ich, dass er sich bis zu deutschen Soldaten durchschlagen konnte und so den Krieg überlebte. Von unserem Großvater haben wir nie wieder etwas gehört. Wir vermuten, dass ihn die Russen erschossen haben.
Die Russen haben uns dann auch alles genommen, was wir hatten. Unser Wagen wurde geplündert, selbst die kranken Pferde nahmen sie mit. Zum Glück hatten meine Oma und meine Mama einen Schlitten, auf dem sie unsere kleine Schwester, die Zweijährige, transportieren konnten. So sind wir dann nach Hause zurück. Diesmal zu Fuß. Aber immerhin hatten wir noch ein Zuhause.
Wie war das Leben in Masuren, als der Krieg kurze Zeit darauf vorbei war?
Na ja, die Russen waren im Land. Wir waren nur immer in Angst vor denen, vor Plünderungen und anderen Übergriffen. Wir Kinder saßen oben auf dem Boden und haben rundum geguckt. Und wenn sie kamen, haben wir geschrien: „Die Russen kommen“. Und dann saßen wir alle und haben gezittert vor dem, was kommt.
Wie lange blieben die Russen?
Bis Oktober 1945. Dann kamen die Polen. Wobei die eigentlich schon im Dorf gewesen waren, nur hatten wir sie bis dahin auf unserem Hof nicht bemerkt. Zuvor kamen noch einmal Russen mit deutschen Mädels, die sich mit ihnen eingelassen haben. Die durften sich alles von uns, was sie noch haben wollten, einfach mitnehmen. Als die Russen abgezogen waren, haben die Polen auch noch mal geplündert, obwohl es kaum noch etwas zu holen gab.
Für mich bedeutete die neue Zeit, dass ich für ein Jahr in eine polnische Schule gehen musste, um auf Polnisch Lesen und Schreiben zu lernen. Als Abgangszeugnis bekamen wir eine Bescheinigung, obwohl wir kaum ein Wort konnten. Und im Frühjahr 1946 wurden diejenigen Jugendlichen, die noch in der Heimat geblieben waren, konfirmiert.
Gab es noch viele deutsche Familien in jener Zeit in Masuren?
Ja, sehr viele sogar. Weil sie alle nicht mehr rechtzeitig flüchten konnten. Fast alle Bauernfamilien waren wie wir zurück auf ihren Grundstücken. Doch bei manchen kamen die Polen und sagten: „Raus jetzt hier!“ Da mussten die ostpreußischen Bauern ihre Häuser räumen und fortan in Scheunen oder im Hühnerstall wohnen. Manche durften auch im Haus bleiben, konnten dann aber nur noch ein Zimmer bewohnen.
Als mein Vater aus Norwegen zurückkam, war er zunächst in Kriegsgefangenschaft geraten und nach Westdeutschland entlassen worden. Von dort ist er zu Fuß nach Ostpreußen gelaufen. Bis dahin wussten wir nicht, wo er geblieben war.
Papas Heimkehr und seine Schilderungen über die Lage im Westen haben dann bewirkt, dass die Bauern, die noch auf ihren Höfen waren, sich zusammensetzten und berieten, was sie machen sollen – rausfahren oder hier bleiben? Wer bleiben wollte, musste für Polen optieren. Wer das nicht tat, wurde schikaniert. Da sind schreckliche Sachen noch passiert. Aber mein Vater hat gesagt: „Immerhin haben wir hier ein Dach über dem Kopf. Und das Land wird uns ernähren. Da ist es egal, wer regiert, also bleiben wir hier. Wenn wir in den Westen gehen, haben wir nichts.“
Später, in den sechziger Jahren, sind meine Eltern dann doch noch ausgewandert, nach Hamburg.
Sie sind aber immer geblieben?
Ich bin geblieben und habe Masuren nicht verlassen. Das hing natürlich auch damit zusammen, dass ich einen polnischen Mann geheiratet habe. Als mein Ehemann hätte er natürlich mitkommen können, wenn ich ausgewandert wäre, aber er hätte sich unter lauter Deutschen nie zurechtfinden können. So sind wir beide geblieben.
Wann haben Sie Ihren Mann geheiratet, und woher kam er?
Das war 1956, und er war in Warschau geboren, aber seine Ahnen stammten aus Ostrołęka, gleich hinter der polnischen Grenze. Von Beruf war er Chauffeur mit Leib und Seele. Er konnte wunderbar Autos fahren.
Im 20. Jahrhundert gab es bekanntermaßen große Nationalitätenkonflikte zwischen Deutschen und Polen. Hat das für Ihre Ehe eine Rolle gespielt?
Also, ich kann mich nicht beklagen. Allerdings waren mein Mann und ich sechs Jahre befreundet, bevor wir heirateten, weil er befürchtete, dass unsere Ehe von seiner Familie nicht anerkannt würde, weil ich eine Deutsche bin. Zwei Onkel meines Mannes waren in Auschwitz, einer ist umgekommen, einer hat es krank nach Hause geschafft. Ein anderer Onkel war katholischer Mönch, da war an eine Ehe mit einer Protestantin nicht zu denken.
Wir haben dann trotzdem geheiratet. Aber ich habe ihm von Beginn an gesagt, dass ich niemals katholisch werde. Ich habe nichts gegen die katholische Kirche, aber ich bin nun mal evangelisch. Und ich habe auch festgelegt, dass meine Beerdigung ganz nach evangelischem Ritus erfolgen soll. Ich möchte zum Beispiel keinen Rosenkranz in meine Hände gelegt bekommen.
Ansonsten hatte ich aber kaum Schwierigkeiten. Mein Mann und ich hatten viele deutsche und polnische Freunde. Und gearbeitet habe ich auf dem Finanzamt in Sensburg mit neun Frauen in einem Zimmer. Da haben wir über vieles diskutiert, aber Ärger gab es nie. Zumindest im persönlichen Bereich.
In der Öffentlichkeit war die deutsche Sprache jedoch verboten. Wenn ich mich zum Beispiel auf dem Markt mit ostpreußischen Frauen beim Einkaufen auf Deutsch unterhielt, wurde ich von einer anderen Frau angeschrien, dass wir das gefälligst zu lassen hätten. Sie ist dann später selbst nach Deutschland gegangen.
Wie kam es, dass Sie beim Finanzamt arbeiteten?
Im Januar 1947 fing ich an, auf der Gemeinde zu arbeiten, obwohl ich kaum Polnisch konnte. Nach vier Jahren wechselte ich in das Landratsamt von Sensburg. Dort wurde von mir verlangt, dass ich noch das polnische Abitur machen musste. Und obwohl ich gearbeitet habe und bereits zwei Kinder hatte, habe ich im Fernstudium das Abitur gemacht.
Den Ostpreußen sind Sie jedoch nicht als Mitarbeiterin des Landratsamts bekannt, sondern als Betreiberin einer Pension in dem idyllischen Dorf Kruttinnen. Wie ist es dazu gekommen?
Ich hatte immer das Verlangen, von Sensburg wieder aufs Land zu ziehen. Wenn man wie ich aufgewachsen ist zwischen Wäldern und Feldern, prägt das einen.
Dann kam eines Tages, es war im März 1980, mein Mann nach Hause und sagte, dass ein Kollege von ihm bei einer deutschen Familie einen Citroën kaufen wolle und er ihn am nächsten Sonntag hinfahren solle. Da sagte ich, dass ich mitkommen würde und wir einen Ausflug machen könnten. Als wir in Kruttinnen ankamen, sagte die Frau des Hauses: „Lassen Sie die Männer sich das Auto anschauen, und kommen Sie zu mir herein!“ So kam ich in ihre warme Stube.
Drinnen erzählte die Frau dann, dass ihr Mann und sie die Ausreise in die Bundesrepublik bewilligt bekommen haben und sie dabei seien, die Abreise vorzubereiten. Sie sagte, dass sie auch das Haus verkaufen wollten und schon einen Interessenten hätten, der aber noch auf Geld aus Amerika wartete. Als die Frau dann hörte, dass ich auch Deutsche bin, war es geschehen: „Sie müssen das Hausen kaufen!“, sagte sie. Und sie erzählte, dass sie schon jetzt viele Gäste aus Deutschland versorgten, und dass dies künftig noch mehr würden. Mir ging es eigentlich gar nicht um die möglichen Gäste, sondern nur darum, in der Erde zu wühlen, schließlich war ich Bauerstochter. Und ich dachte mir: „Dieser schöne Besitz, 2500 Quadratmeter, da konnte man schön Gemüse anbauen.“
Als ich dann mit meinem Mann wieder in Sensburg war, sagte ich: „Wir kaufen das.“ Und er: „Was? Bist du verrückt! Was sollen wir da?“ Worauf ich nichts sagte. Mein erster Gedanke war: Wie komme ich zu dem Geld? Der zweite Gedanke war, dass ich 49 Jahre alt war und eigentlich eine feste Arbeit in der Stadt hatte. Was also sollte ich machen?
Ich habe dann meine Mutter und meine Schwester in Hamburg angerufen, ihr von dem schönen Grundstück vorgeschwärmt und ihr gesagt, wie viel Mark ich dafür bräuchte. Und beide sagten ihre Hilfe zu. Ich habe mich hingesetzt und gedacht: „Das gibt's doch nicht.“ So wurden wir kurz darauf Besitzer eines schönen Grundstücks in Masuren.
Aber Sie waren da noch lange keine Betreiberin einer Pension.
Richtig. Unsere Vorbesitzerin hatte jedoch schon einige Feriengäste, die habe ich übernommen. Und so entwickelte sich nach und nach unser Geschäft. Anfangs noch mit einfachen Holzhütten ohne Wasseranschluss und nur mit Plumpsklo auf dem Hof.
Mein Sohn hat auf der Kruttinna gestakt, außerdem vermieteten wir neben den Hütten auch noch Paddelboote. Als dann 1992 mein Mann verstarb, haben die Kinder die Arbeit übernommen. Wir beschlossen, ein erstes massives Gästehaus und eine weitere Hütte zu bauen. So konnten wir den immer mehr Gästen, die zu uns kamen, darunter auch manch Prominenter wie der ostpreußische Fußballtrainer Udo Lattek, komfortablere Quartiere bieten. Und mit der Zeit wurden aus anfänglich fünf Gästezimmern dreißig. Es war eine herrliche Zeit, weil wir vielen alten Ostpreußen einen schönen Aufenthalt in ihrer Heimat ermöglichen konnten.
Inzwischen ist es wieder deutlich ruhiger geworden in Masuren.
Ja, jetzt ist es wieder stiller. Wobei dies nicht nur daran liegt, dass weniger alte Ostpreußen zu uns kommen, sondern auch daran, dass mit der Corona-Zeit viele Besucherströme abgerissen sind. Aber so langsam entwickelt es sich wieder.
Sie sind nun 94 Jahre alt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihr Leben zurück, das ja sehr bewegte Zeiten gesehen hat? Wenn man auf der Karte Ihren Geburtsort Gehland sucht und dann nach Kruttinnen herüberblickt, wo sie jetzt leben, könnte man denken, dass Sie gar nicht so weit gekommen sind. Dennoch ist eine Menge passiert in all den Jahren.
Bei allem, was ich schon früh mitansehen musste, hatte ich insgesamt ein gutes Leben. Ich habe nicht – wie viele Ostpreußen – die Heimat verloren. Deshalb hatte ich auch nie Heimweh. Und ich bedauere nicht, dass ich hiergeblieben bin, obwohl die meisten, die in der Zeit des Kommunismus in den Westen gingen, dort ein besseres Auskommen hatten. Das Leben in Masuren war immer ärmlich, aber das war es auch schon in deutscher Zeit. Aber immerhin haben wir uns hier etwas aufgebaut. Und insofern bin ich glücklich und zufrieden mit dem, was ich hatte und habe.
Das Gespräch führte René Nehring.