26.04.2024

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Arno Surminski

Wahrheit muss erfunden werden

Exklusive Einblicke in die neuen Kurzgeschichten des ostpreußischen Schriftstellers

Peer Schmidt-Walther
12.06.2021

Arno Surminskis jüngstes Werk lautet „An der Haltestelle“. Der 86-Jährige aus dem masurischen Jäglack ist nach wie vor voller Schaffenskraft und Ideen. „Ich hab' noch eine Reihe weiterer Projekte in Arbeit“, verrät er, „aber das Manuskript von ‚An der Haltestelle' ist weitgehend abgeschlossen und soll im Herbst dieses oder Frühjahr des nächsten Jahres erscheinen“.

40 Kurzgeschichten werden den Band füllen. Die Schauplätze verteilen sich über ganz Deutschland, seine alte Heimat Ostpreußen und seine neue in Hamburg und Schleswig-Holstein. Sie haben einen märchenhaften Charakter und erzählen von wundersamen Begebenheiten, die alle mit einer kräftigen Portion Humor und Hintersinnigkeit gewürzt sind. Nicht anders kennt man den letzten lebenden großen Ostpreußen-Schriftsteller und sein großartiges Werk.

Einleitend schreibt Surminski: „Da es keine wahren Geschichten gibt, muss die Wahrheit erfunden werden. Hannes und Walter, die in einem Seniorenheim wohnen reisen oft über Land auf der Suche nach wahren Geschichten, die sie den Mitbewohnern erzählen können. Sie glauben an ihre Geschichten, und die Zuhörer haben Freude an den Märchen aus einem früheren Leben“.
Drei Geschichten hat Arno Surminski hier exklusiv für die Preußische Allgemeine Zeitung zur Erstveröffentlichung ausgesucht:

Wo liegt Kuckerneese?

Während Hannes und Walter auf den Bus warteten, kam einer auf Krücken zur Haltestelle und studierte die Fahrpläne.
Das ist Egon, sagte Hannes leise. Mit dem sprechen wir kein Wort, der ist nämlich verrückt. An ungeraden Tagen redet er nur Platt. Je höger de Oap stiggt, je mehr wiest he sien Achterdeel, sagte er einmal zu Elvira. Die hat ihn zum Glück nicht verstanden, weil sie aus der hochdeutschen Gegend kommt.
Wundere mich bloß, wohin heutzutage Busse fahren, meinte Egon. Sogar Breslau haben sie auf dem Fahrplan.
Denkst du etwa, in Breslau gibt es keine Bushaltestelle? brummte Walter. Ich bin als Junge oft nach Breslau gefahren. Glaub' mir, es ist eine Riesenstadt mit einem Fußballstadion, einem Schwimmbad und Bushaltestellen ohne Ende.
Aber heute ist das anders, winkte Egon ab. Wer mit dem Bus nach Breslau ins Schwimmbad fahren will, den lachen die Hühner aus.
In einer Gartenecke versammelten sich Frauen und sangen: „Wenn ich den Wanderer frage...“, „Dort unten in der Mühle....“, „Am Brunnen vor dem Tore....“.
Müssen schon ziemlich alt sein, wenn sie so etwas singen, meinte Walter. Wenn sie „Alte Kameraden“ anstimmen, singen wir mit. Aber das können Frauen nicht, „Alte Kameraden“ können sie nicht.
Walter fuhr mit dem Zeigefinger die Ortsnamen und Uhrzeiten auf dem Fahrplan ab.
Früher stand auch Memel auf dem Plan, sagte er.
Dahin fahren sie heute mit dem Schiff, nicht mit dem Bus, wusste Hannes.
Walter erzählte, wie er vor fünfzig Jahren mit dem Bus von Danzig nach Königsberg gefahren war. Eine wunderliche Reise. Weil es im Krieg kein Benzin gab, musste der Bus mit Holzkohle fahren. Das alle Haltestellen. Ob sein Kuckerneese eine Bushaltestelle hat, wusste Walter nicht. Einen Bus hab' ich als Kind nie gesehen, meistens fuhren wir mit dem Kahn spazieren.
Das Nest liegt bestimmt in Russland, meinte Hannes. Die Russen haben keine Busse, die fahren nur mit Panzern.

Zum Alten Fritz

Heute besuchen wir Piepenfritz.
Wer ist das denn?
Na, der Alte aus Potsdam.
Raucht er Pfeife?
Nee, er spielt Flöte, darum heißt er Piepenfritz.
Der ist schon dreihundert Jahre tot, sagte Egon.
Macht nichts, antwortete Hannes. Wir haben eine Einladung von ihm, und wir fahren hin.
Seid ihr überhaupt Preußen? mischte Egon sich ein.
Walter ist Preuße, ich bin ein Holsteiner aus Bullerbü, sagte Hannes. Das sollte langen für Piepenfritz.
Sollen wir etwas mitbringen aus Potsdam? fragten sie Elvira.
Die überlegte lange, entschied sich schließlich für den dreizackigen Hut, den der Alte Fritz getragen hatte. Den wollte sie in Himmelschlösschen über die Tür hängen, und jeder der vorbeigeht, sollte den preußischen König grüßen.
Vergesst nicht, einen Blumenstrauß für seine Frau mitzunehmen, sagte Egon.
Von einer Frau haben wir nie gehört, erklärte Walter. Es wird gesagt, dass er Frauen nicht mochte. Eine Angetraute hatte er, aber die durfte nicht mal seine Hunde füttern, und er hat sie mit Sie angeredet.
Wisst ihr, wie sein Schloss heißt? fragte Elvira. Den Namen müsst ihr euch merken, sonst kommt ihr nicht rein.
Na, die Adresse wird doch wohl im Telefonbuch stehen, meinte Walter.
Ohne-Sorgen, erklärte Elvira.
Wie kann ein Mensch, der drei gewaltige Kriege auf dem Gewissen hat, sein Schloss Ohne-Sorgen nennen? wunderte sich Hannes.
Was gab es noch in Potsdam zu bedenken?
Vergesst den Müller nicht, rief Egon ihnen nach.
Wer ist das denn?
Der Müller von Sanssoucis hat den Alten Fritzen fix geärgert, weil er seine Mühle Tag und Nacht klappern ließ und Piepenfritz nicht in den Schlaf finden konnte, erklärte Egon.
Da hat er wohl eine Kanone abgefeuert und die Mühle in Brand geschossen, meinte Hannes.
Hat er nicht. Er ging zu Gericht, und der Richter sprach ein Urteil, auch Könige müssten das Klappern von Mühlen aushalten. Seitdem gibt es Recht und Ordnung in Preußen.
Aber Preußen existiert doch gar nicht mehr, sagte Hannes.
Das ist ja das Unglück, meinte Walter. Weil es kein Preußen mehr gibt, geht bei uns alles drunter und drüber.
Jetzt weiß ich auch, warum der Alte Fritz so oft in den Krieg gezogen ist, sagte Hannes. Weil der Müller ihm die Ohren vollgeklappert hat und er seine Ruhe haben wollte.
In den Schlachten klappert es doch auch, bemerkte Egon.
Aber nicht Tag und Nacht. Bei Dunkelheit hören die Kanonen auf zu donnern, und der König geht schlafen.
Wundert mich bloß, warum ein großer König sich das Mühlenklappern hat gefallen lassen, sagte Hannes.
Was sollte er machen? Er hatte den Richter eingesetzt, die Mühle war preußisch und der Müller auch. Also musste auch ein preußischer König das Urteil befolgen.
Drei Tage blieben sie fort. Bei der Rückkehr trug jeder einen Orden am Rockaufschlag.
Hat uns der Alte Fritz geschenkt, sagte Hannes.
Egon hielt seine Nase an die Orden.
Riecht gewaltig nach Pfefferkuchen, meinte er.
Gab es in Sanssoucis auch etwas zu essen? fragte Elvira.
Wir saßen in seiner Tafelrunde, rauchten seinen Pfeifentabak und sprachen über die Schlacht von Leuthen, erzählte Walter. Die Jagdhunde leckten uns die Hände, und der Alte Fritz spielte uns auf der Flöte den Hohenfriedberger vor.
Kommt bald wieder! rief er, bevor er in seinem Mausoleum verschwand.
Beim Abendessen am runden Tisch sangen sie für die beiden Heimkehrer: „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“.

Heimwehreise

Sie wollten länger wegbleiben, eine Woche mindestens.
Wo wollt ihr hin? fragte Egon.
Nach Schomski, antwortete Hannes.
Nie gehört.
Das liegt mitten in Polen. In Schomski ist der Walter auf die Welt gekommen, erklärte Hannes. Er will seine Hütte noch einmal sehen, bevor er auf den Friedhof kommt.
Und dieses Schomski ist per Bus zu erreichen? wunderte sich Elvira.
Heutzutage fahren überall Busse, sogar nach Russland, erklärte Walter. Wir haben letzte Woche einen getroffen, der ist mit dem Bus die chinesische Mauer abgefahren.
Elvira versprach, ihnen ein paar Brote für die Reise zu schmieren.
Das tut nicht nötig, sagte Walter. Der Busfahrer bringt einen Sack Verpflegung mit. Außerdem fahren wir nach Polen. Da gibt es immer genug zu essen, für gutes Essen sind die Polen berühmt.
Wo wollt ihr schlafen? fragte Egon.
Im Bus, antwortete Hannes. Es gibt keinen besseren Platz, so ein Bus schaukelt dich schön in den Schlaf.
Es meldete sich Lisbeth.
Nehmt mich mit, ich bin auch aus dem Osten, sagte sie.
Wo bist du geboren? fragte Walter.
In Marggrabowa.
Das klingt gut! meinte Walter. Aber es ist zu weit entfernt. Dieses Marggrabowa liegt dicht an Russland. So weit fährt unser Bus nicht.
Lisbeth fing an zu weinen.
Ich will nur noch einmal über den größten Marktplatz Deutschlands wandern, sagte sie. Den gab es in Marggra­bowa.
Das ist nicht mehr Deutschland! rief Hannes. Wenn du einen großen Marktplatz sehen willst, musst du nach Heide in Holstein fahren. Da kannst du dir die Füße wund laufen.
Um Lisbeth zu beruhigen, verabredeten sie, übernächste Woche eine Bus-­
tour nach Heide zu unternehmen. Aber Lisbeth wollte nicht. Entweder Marg­grabowa oder gar keinen Marktplatz.
Heide haben wir noch lange, sagte
sie, aber Marggrabowa geht langsam unter.
Braucht ihr kein Visum an der Grenze? fragte Egon.
Weißt du nicht, dass Polen und Deutsche Freunde sind? sagte Walter. An dieser Grenze kann jeder kommen und gehen, wie er will. Du merkst gar nicht, dass es eine Grenze ist.
Der Bus ist da! rief Elvira und zeigte aus dem Fenster.
Auf nach Schomski! rief Hannes. Wenn wir wiederkommen, erzählen wir euch, was die Polen zu Mittag essen.


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Kommentare

sitra achra am 12.06.21, 10:53 Uhr

Von Historie hat Surminski soviel Ahnung wie der Affe auf dem Schleifstein. Nicht Friedrich, sondern die Habsburger und ihre Verbündeten, insbesondere Frankreich und Russland, haben den Siebenjährigen Krieg zu verantworten. Die hatten vorab schon die preußische Beute untereinander aufgeteilt.
Rücksicht auf Menschenleben war denen fremd.
Außerdem war Friedrich Nichtraucher, das Tabakskolleg wurde von dessen Vater betrieben.
Darf man also mit Fug und Recht behaupten, Surminski sei eine historische Flitzpiepe? Vielleicht.
Übrigens hat ein Siegfried Lenz keine derartigen albernen Geschichtchen verfasst, sondern den Heimatverlust mit Würde und Respekt in seinen Werken verarbeitet. Schleswig-Holstein bleibt für mich nur Exilstätte.

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