10.10.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden

Essay

War Immanuel Kant ein Rassist?

Das zumindest behaupten seit einiger Zeit „woke“ Aktivisten. Belege dafür liefern sie nicht. Über einen abwegigen Vorwurf gegen den Weltbürger aus Königsberg

Manfred Geier
22.07.2022

Woke! Das ist die Parole, mit der weiße Menschen gegenwärtig aufgefordert werden, rassismuskritisch zu leben und antirassistisch zu handeln. Sie sollen wach werden, um ihre diskriminierenden Vorurteile loszuwerden und den Begriff „Rasse“ als einen ideologischen Schein-Begriff zu durchschauen, der nur dazu dienen sollte, die Vorherrschaft der Weißen gegenüber Menschen mit anderen Hautfarben zu legitimieren. Denn der moderne „Rasse“-Begriff sei eine Erfindung der europäischen Aufklärung, an der nicht zuletzt deutschsprachige Forscher und Philosophen, vor allem Johann Friedrich Blumenbach und Immanuel Kant, einen herausragenden Anteil hätten.

Vorwürfe ohne Beleg

Kant – ein weißer Rassist? Die Aufklärung über Rassen – eine eurozentristische, kolonialpolitisch motivierte Verirrung? Es sind vor allem einige verdächtige Stellen, die als Indizien aufgespürt wurden, um diese rassismuskritischen Fragen bejahen zu können. Im Falle von Kant fand man sie allerdings in keinem einzigen seiner vielen veröffentlichten Werke, die er selbst autorisiert hatte, sondern nur in studentischen Mitschriften von zwei Vorlesungen, die Kant über „Physische Geographie“ und über „Anthropologie“ gehalten hatte. Dabei soll er behauptet haben, dass in den heißen Ländern der Mensch zwar in allen Stücken früher reife, „aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen erreicht. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen.“ Andere Rassen seien dagegen im Prozess der Zivilisation hinterherhinkend.

Es ist schwer festzustellen, wie authentisch diese kolportierten Formulierungen sind. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass sie sich nicht in den von Kant selbst stammenden Texten zur Rassenproblematik finden. Doch warum hat Kant sich überhaupt öffentlich mit den „natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlecht“ beschäftigt und sie im Rahmen einer Philosophie der Rassen zu klassifizieren und naturgeschichtlich zu erklären versucht? Und welche Erkenntnisse konnte er dabei gewinnen, die sich nicht den Irrwegen einer diskriminierenden Urteilskraft verdankten?

Als in seiner Heimatstadt Königsberg, im Verlag von Friedrich Nicolovius, 1798 endlich die große Summe seiner anthropologischen Menschenkenntnis veröffentlicht wurde, in der Kant alles zusammengefasst hatte, was der nun bereits 74-jährige Philosoph über den Menschen „als mit Vernunft begabtes Erdwesen“ wusste, fragte er sich selbst, ob er für diese Arbeit nicht zu provinziell gelebt hatte. Denn er war ja sein Leben lang in Königsberg geblieben, das er nur während seiner frühen Hauslehrerzeit für wenige Jahre verlassen hatte. Er hatte bewusst auf das wichtigste Mittel verzichtet, das ihm zur Erweiterung seiner anthropologischen Erfahrungen und Erkenntnisse hätte dienen können: das Reisen um die Welt. Stattdessen hatte er sich mit dem Lesen von Reisebeschreibungen begnügt, die einen Großteil seiner Hausbibliothek bildeten.

Die gelehrte Welt von Königsberg

Immanuel Kant, der mit seinen großen Kritiken der reinen, theoretischen und praktischen Vernunft die Philosophie revolutioniert hatte, war zu Hause geblieben und hatte sich sein anthropologisches Wissen über die Weltbürger am liebsten durch den Umgang mit seinen Königsberger Mitbürgern angeeignet. Seine heimatverbundene Sesshaftigkeit rechtfertigte er mit dem Hinweis, dass diese große ostpreußische Stadt am Pregelfluss „schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden kann; wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“

War das mehr als eine bloße Schutzbehauptung, vor allem wenn es um „die Kenntnis der verschiedenen Menschenrassen als zum Spiel der Natur gehörender Produkte“ ging? Denn es lassen sich in Kants gesamtem Werk, seine Briefe und Tischgespräche inbegriffen, keine Hinweise finden, dass er in Königsberg Umgang mit Menschen hatte, die man heute als „BIPoC“ chiffriert: „Black, Indigenous and People of Color“. Seine Bekannten und Freunde waren ausschließlich Weiße aus dem nördlichen Europa, die Kant rassentheoretisch von den Kupferroten in Amerika, den Schwarzen in Afrika und den Olivengelben in Indien unterschied, wobei er sich auf das vierfache Farbmuster bezog, das bereits bei frühen griechischen Philosophen populär gewesen war und auch von Kants zeitgenössischen Rassentheoretikern gern benutzt wurde. Ist also der Vorwurf doch berechtigt, dass Kants Blick in die Welt eurozentristisch gewesen war und dass er das Weiß als die Farbe der Vernunft favorisierte?

Was Kant in seinen Vorlesungen behandeln wollte und wie er dabei methodisch vorzugehen beabsichtigte, gab er gern in längeren Vorankündigungen bekannt. Das war umso nötiger, je weniger er sich auf verfügbares Lehrmaterial stützen konnte, wie im Fall der „Physischen Geographie“, die Kant zum ersten Mal im Sommersemester 1756 an der Königsberger Universität anbot, nachdem er gerade erst als Magister eingestellt worden war. Vierzig Jahre lang, bis 1796, hielt er diese Vorlesung, mit der er nicht nur die Studenten der Albertina, sondern auch ein interessiertes Publikum über das „Spiel der Natur“ aufklären wollte. Er versuchte einen Überblick über die drei Reiche der Natur – Pflanzen, Tiere und Mineralien – in den verschiedenen Ländern mit ihren vielfältigen Lebensbedingungen und -formen zu vermitteln. Einige Jahre später löste er aus dieser physisch-geographischen Vorlesung die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ heraus. Seitdem wollte er nicht nur Kenntnisse vermitteln über das, „was die Natur aus dem Menschen macht“, sondern auch über das, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selbst macht, oder machen kann und soll.“

In diesen beiden Vorlesungsreihen, die Kant vier Jahrzehnte lang regelmäßig anbot, ging es ihm also nicht um jenes abstrakte Erkenntnissubjekt, das im Mittelpunkt seiner großen kritischen Werke zur reinen Vernunft stand, die auf empirische Erfahrungen und natürliche Welttatsachen wenig Wert legten. Stattdessen wollte er „Weltkenntnis“ vermitteln, wobei er sich auch auf das beziehen musste, was von zeitgenössischen Medizinern, Biologen, Naturhistorikern, Völkerkundlern und Weltreisenden über Unterschiede zwischen verschiedenen menschlichen Populationen festgestellt wurde.

„Weltkenntnis“ anstelle von Vorurteilen

Die konkrete ethnische Diversität der Menschheit, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts einen Schwerpunkt der Naturforschung bildete, musste ins Zentrum seiner physisch-geographischen und anthropologischen Aufmerksamkeit rücken. In seinem Vorlesungsprogramm von 1765/66 versprach Kant seinen Studenten und Hörern, ihnen „eine große Karte des menschlichen Geschlechts“ vor Augen zu führen. Zehn Jahre später, in seiner „Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie zum Sommerhalbenjahre 1775“, sprach er zum ersten Mal von „den verschiedenen Racen der Menschen“.

Damit wurde er zum Teilnehmer jenes biologischen Diskurses, der zur gleichen Zeit durch Johann Friedrich Blumenbachs wegweisende, nachhaltig wirksame, lateinisch geschriebene medizinische Doktorarbeit „De generis humani varietate nativa“ inganggesetzt wurde. Diese handelte von den natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlecht, die Blumenbach naturgeschichtlich durch eine allgemein gültige Gesetzmäßigkeit zu erklären versuchte. In der langen Geschichte biologischer Fortpflanzungsreihen gebe es nicht nur sich wiederholende „Nachartungen“ des Immergleichen, sondern auch selektive Abweichungen, die etwas Neues nach naturgesetzlichen Regeln entstehen lassen. Blumenbach nannte sie „klassifizierbare Abartungen“ („progenies classifica“) oder Varietäten einer gemeinsamen Art.

Kant übernahm Blumenbachs biologischen Begriff und Erklärungsversuch. Auch für ihn war die Existenz verschiedener Rassen ein Fall natürlicher Abartung aus einem gemeinsamen Ursprung. Er vermutete, dass dieser „Stamm“ gattungsgeschichtlich dafür verantwortlich sei, dass sich alle Abartungen miteinander vermischen und gemeinsame Nachkommen zeugen können. Anfänglich sei er in einer bestimmten Weltgegend beheimatet gewesen. Seine Mitglieder hätten jedoch auch über bestimmte „Keime und natürliche Anlagen“ verfügt, die es ihnen ermöglichten, auch in anderen Teilen der Welt zu wohnen, unter anderen ökologischen Bedingungen und klimatischen Verhältnissen. Der Mensch sei von Natur aus disponiert, in trockenen und feuchten Gegenden leben zu können, in fruchtbaren und kargen Landschaften, heißen und kalten Umgebungen. Und so habe es im langen Lauf der Zeit zu Migrationsbewegungen rund um die Erde kommen können, die zu den rassischen Aufteilungen des einen menschlichen Ursprungsstammes geführt haben, die sich ihren jeweiligen Umgebungen so anpassen konnten, als seien sie dafür gemacht worden.

Das „Spiel der Natur“

Kant war ein überzeugter Monogenetiker, der auch in seinen späteren Streitschriften gegen Johann Gottfried Herder („Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“, 1785) und Georg Forster („Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“, 1788) größten Wert darauf legte, dass seine begriffliche Bestimmung verschiedener Menschenrassen als Varietäten oder „Abartungen“ an die Idee eines einheitlichen Menschengeschlechts gebunden blieb und nicht polygenetisch aufgefächert werden dürfe. Auch „die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“ Es gebe nur unterscheidbare phänotypische Eigenarten, weil Menschen in unterschiedliche klimatische und ökologische Umwelten gewandert seien, wodurch sich ihre gemeinsamen Keime und natürlichen Anlagen spezifizieren oder ausdifferenzieren mussten.

Das naturgeschichtliche „Spiel der Natur“, das Kant für die Entstehung verschiedener Menschenrassen für verantwortlich hielt, war nicht auf eine hierarchische Über- und Unterordnung ausgerichtet. Im Gegenteil: In der „Abartung“ verschiedener Rassen aus einem gemeinsamen Ursprung, wobei „Luft und Sonne diejenigen Ursachen zu sein scheinen, welche auf die Zeugungskraft innigst einfließen, und eine dauerhafte Entwicklung der Keime und Anlagen hervorbringen, das ist eine Rasse gründen können“, zeige sich eine „Fürsorge der Natur“, die Kant für bewunderungswürdig hielt. Denn es sei doch ein Wunder der Natur, dass sie nämlich ihre Geschöpfe zweckmäßig (teleologisch) für allerlei künftige Lebensbedingungen so ausgerüstet habe, dass sie sich erhalten, fortpflanzen und die ganze Erde zu ihrer Heimat machen können.

In diesem Sinne sei es der Natur zu danken, dass sie es den Menschen als ihren Geschöpfen ermöglicht habe, Weltbürger zu sein, wo immer sie auch leben mochten. Und mit einer tröstenden Aussicht in die Zukunft hoffte Kant, dass die Menschen als freihandelnde Wesen doch endlich auch kosmopolitisch wirklich wollten, was sie von Natur aus tun sollten und könnten.

• Prof. Dr. Manfred Geier war seit 1982 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hannover. Er ist Verfasser zahlreicher Werke zur Geschichte der Philosophie und der Aufklärung, darunter „Kants Welt. Eine Biographie“ (2003), „Die Brüder Humboldt. Eine Biographie“ (2009) und „Aufklärung. Das europäische Projekt“ (2012, alle bei Rowohlt). Zuletzt erschien „Philosophie der Rassen. Der Fall Immanuel Kant“ (Matthes & Seitz Berlin 2022).
www.matthes-seitz-berlin.de


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentare

sitra achra am 02.08.22, 10:16 Uhr

Wenn das Manelchen noch lebte, würde er diese Flachgeister, die es wagen, ihn zu schmähen, der allgemeinen Lächerlichkeit preisgeben.

Winfried Kurt Walter am 24.07.22, 09:44 Uhr

Warfum reagieren Sie überhaupt auf diese "Geistesgrößen" ? Das sind doch nur üble Geister, die sich selst darstellen müssen, da sie sonst zu nichts nutze sind.

Klaus Müller am 23.07.22, 09:47 Uhr

Hat sich da womöglich ein Grün-Linke verirrt und zufällig Henscheids jahrzehntealtes Buch gefunden?
--->
Der Neger (Negerl) Gebundene Ausgabe
von Eckhard Henscheid (Autor), Immanuel Kant (Autor)
.
Es ist voller ahnungslosem Quatsch, --- den sich Kant über Menschen die er nicht kannte und nie geshen hatte --- so vorstellte.
Das ist sehr LUSTIG aber nicht rassistisch.

Aber mit Humor hatten's die national- wie international sozialistischen Ideologen noch nie.

Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS