06.07.2025

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Fast unbemerkt

Warum Jiddisch droht auszusterben

Vor 100 Jahren wurde diese Sprache noch von rund zwölf Millionen Menschen gesprochen

Bodo Bost
06.07.2025

Ein Drittel der einst neun Millionen europäischen Juden überlebte den Holocaust, vor allem im Inneren der Sowjetunion. Der dort weit verbreitete Antisemitismus führte jedoch zur Auswanderung der jüdischen Überlebenden, hauptsächlich nach Israel und Nordamerika, zuletzt auch nach Deutschland. Die Zahl der europäischen Juden sank auf zwei Millionen im Jahr 1991 und auf 1,4 Millionen 20 Jahre später. In Europa lebt heute nicht einmal mehr ein Zehntel der weltweiten Juden. Und der aktuelle Antisemitismus heizt die jüdische Auswanderung weiter an.

Ein Versuch, nach dem Holocaust in der Sowjetunion „Jiddischland“ wiederzubeleben, scheiterte bereits 1949, als Stalin jüdische Ärzte für seine Krankheit verantwortlich machte. Auf der Suche nach einer Chance, sich im Sowjetblock ein normales Leben aufzubauen, mussten die verbliebenen Juden ihre Identität verbergen und sich an die Sprachen und Kulturen der Republiken, in denen sie lebten, anpassen. Mit anderen Worten, sie mussten die hebräische Schrift zum Lesen und Schreiben von Jiddisch, Ladino oder Hebräisch aufgeben, und in vielen Fällen auch die Sprachen selbst. Nur in den USA blieb Jiddisch am Leben. Im Jahr 1978 erhielt der polnisch-US-amerikanische Schriftsteller Isaac Bashevis Singer den Nobelpreis für Literatur, als bislang einziger jiddischer Schriftsteller.

Zusammenhängende jiddischsprachige Gemeinschaften sind fast ganz verschwunden, selbst in der jüdischen russischen Republik in Birobidschan. In Europa gibt es keine einzige Bibliothek mit jiddischen Büchern mehr. Der Holocaust und die antisemitischen Kampagnen der Nachkriegszeit zerstörten Jiddisch als Sprache des täglichen Lebens in Europa. Die Auswanderung aus dem Sowjetblock nach Westeuropa und die chassidische Rückbesinnung auf ihre Wurzeln führten jedoch zur Entstehung strengreligiöser jiddischsprachiger Religionsgemeinschaften in Antwerpen, London, Amsterdam und Paris. Ihre Gesamtbevölkerung übersteigt jedoch keine 10000 Personen.

In Europa hat das Verschwinden einer ganzen Sprache und der damit verbundenen Kultur nicht einmal Bedauern ausgelöst. Man ist ebenso auch nicht überrascht, dass Jiddisch aus dem täglichen Leben des Kontinents verschwunden ist. Die Tatsache, dass die Zahl der Benutzer der hebräischen Schrift in Europa von zehn Millionen auf 10.000 gesunken ist, wurde weder diskutiert noch berücksichtigt. Die Zahl der Jiddischsprachigen ist auf ein Tausendstel (0,1 Prozent) der einstigen Zahl gefallen.

Es ist vergleichbar damit, als ob die Europäer es nicht bemerkten, wenn die gesamte niederländische Sprachgemeinschaft ausgelöscht würde und alle Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlage, die auf Bücher in dieser Sprache spezialisiert sind, verschwänden. Wahrscheinlich würden Millionen Europäer auf die Straßen gehen, um gegen eine solche Tragödie zu protestieren. Bei der Zerstörung des Jiddischen wird jedoch noch nicht einmal hingesehen, geschweige denn darauf hingewiesen. Ein klares Zeichen, dass der alte Kontinent wieder von einem hartnäckigen, stillschweigenden Antisemitismus geplagt wird.


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