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Geschichte

Weimars umstrittenster Reichskanzler

Verfechter einer alternativlosen Konzeption oder Totengräber der Demokratie? Vor 90 Jahren wurde Heinrich Brüning zum Reichskanzler ernannt, vor 50 Jahren verstarb er in den USA

Erik Lommatzsch
31.03.2020

An keinem der zahlreichen Reichskanzler der Weimarer Republik scheiden sich die Geister mehr als an Heinrich Brüning. Von Frühjahr 1930 bis Ende Mai 1932 führte der Zentrumspolitiker das erste der sogenannten Präsidialkabinette, die sich statt auf eine Mehrheit im Reichstag auf das Vertrauen des Reichspräsidenten stützten. War seine rigorose, die wirtschaftliche Krise verschärfende Spar- und Deflationspolitik ausschließlich darauf ausgerichtet, Deutschland von der Zahlung der im Frieden von Versailles festgelegten Reparationen zu befreien? Nahm er dafür steigende Arbeitslosigkeit und Verelendung billigend in Kauf und trieb damit die Wähler den extremen Parteien, vor allem der NSDAP, zu? Stand hinter seinem Agieren eine umfassende politische Konzeption, die auf die erneute Einführung einer Monarchie zielte?

Geboren wurde der Sohn eines Essigfabrikanten und Weinhändlers sowie Bruder eines Geistlichen am 26. November 1885 in Münster. Nach einem breit angelegten Studium legte der Katholik 1911 das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab. 1915 wurde er in Bonn mit einer Arbeit über die Verstaatlichung von englischen Privateisenbahnen in Nationalökonomie promoviert.

„Verehrer des Preußentums“

Schon im Vorjahr hatte sich Brüning freiwillig an die Front gemeldet. Der Historiker Udo Wengst schreibt, Brüning, „von Haus aus im katholisch-konservativen Geist erzogen“, sei während des Studiums „zu einem Verehrer des Preußentums geworden, das er in der Ordnung des Kaiserreichs verwirklicht sah“. Seinen Kriegseinsatz habe er als „Kampf für diese Ordnung gesehen“. Entsprechend schwer verkraftete der mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse dekorierte Offizier den Zusammenbruch von 1918.

1919 ließ er sich in Berlin nieder. Sein beruflicher Weg führte ihn zum „Akademischen Arbeitsamt für Katholiken“ von Carl Sonnenschein, wo er als Vermittler tätig war. Anschließend arbeitete er als Referent dem preußischen Wohlfahrtsminister Adam Stegerwald zu. 1920 wurde er Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes, eines von 1919 bis 1933 bestehenden Dachverbandes christlicher und national orientierter Gewerkschaften.

Brünings Reichstagskandidatur im Jahr 1924 verdankte sich dem Drängen von Parteifreunden aus dem Zentrum. Nicht nur in seiner Fraktion machte er sich schnell einen Namen als Finanzfachmann. Immer wieder heißt es, der schwer zugängliche, äußerst misstrauische Junggeselle habe kaum über Charisma verfügt. Er pflegte allerdings gute Beziehungen zu Vertretern anderer Parteien – hier sind vor allem die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) und die konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zu nennen – sowie zur Reichswehrführung. Ende 1929 wurde er Vorsitzender der Zentrumsfraktion.

Am 30. März 1930 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Brüning zum Kanzler. Im Unterschied zu seinem Vorgänger, dem SPD-Politiker Hermann Müller, konnte er sich nicht mehr auf eine parlamentarische Mehrheit stützen. Gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft betonte Brüning, dass er sich bei fehlender Rückendeckung des Parlaments auf den Reichpräsidenten stützen und von Notverordnungen gemäß Artikel 48 der Verfassung Gebrauch machen werde. Den Widerstand gegen sein Sanierungsprogramm nahm Brüning zum Anlass, den Reichstag auflösen zu lassen. Die auf den 14. September 1930 terminierten Neuwahlen verbanden er und Hindenburg mit der Hoffnung auf eine parlamentarische Mehrheit der bürgerlichen Parteien. Brüning wurde später vorgeworfen, er habe die Reichstagsauflösung leichtfertig vollziehen lassen, die Sozialdemokraten hätten sich möglicherweise kompromissbereit gezeigt. Allerdings hätte Brüning damit wohl die Unterstützung von Teilen des nationalkonservativen Lagers verloren.

„Hungerkanzler“

Das Wahlergebnis – mit Stärkung der Kommunisten, vor allem aber der Nationalsozialisten, die nach den Sozialdemokraten zweitstärkste Partei wurden – führte nicht dazu, dass die gewünschte Koalition gebildet werden konnte. Brüning regierte nun hauptsächlich auf der Grundlage von Notverordnungen. Die SPD erwies sich als Stütze seiner Regierung, denn aus Angst vor einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen stimmte sie stets gegen die Aufhebung dieser Verordnungen, sodass sie in Kraft blieben. Insofern kann die These vertreten werden, dass Brüning letztendlich doch ausreichenden parlamentarischen Rückhalt hatte und daher kein echtes, ausschließlich von Hindenburg abhängiges Präsidialkabinett führte.

Die Spar- und Deflationspolitik mit neuen Steuern auf der einen und umfangreichen Leistungskürzungen auf der anderen Seite sollte der „Gesundschrumpfung“ dienen. Folge war allerdings zunächst eine erhebliche Verschärfung der Wirtschaftskrise. Sollte es tatsächlich vorrangig das Ziel Brünings gewesen sein, den ehemaligen Kriegsgegnern die Zahlungswilligkeit Deutschlands vor Augen zu führen, zugleich aber die Unmöglichkeit zu verdeutlichen, die Reparationen weiterhin aufbringen zu können, so wurde dies insoweit erreicht, als auf der Konferenz von Lausanne, die allerdings erst reichlich zwei Wochen nach dem Ende der Kanzlerschaft Brünings stattfand, die deutschen Reparationsverpflichtungen gegen eine – nie erfolgte – Restzahlung von drei Milliarden Goldmark in Devisen aufgehoben wurden.

Unabhängig davon werden die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des „Hungerkanzlers“ Brüning beispielsweise von dem Historiker Knut Borchardt als einzig mögliche bezeichnet. Sie seien „weder von einer der dieser Regierung nahestehenden oder sie tolerierenden Parteien noch von irgendeinem Unternehmerverband oder von den Gewerkschaften prinzipiell durch eine Alternative in Frage gestellt worden“. Groß sei die Angst vor einer erneuten Inflation gewesen.

Hindenburg wurde im Frühjahr 1932 für eine zweite Amtszeit als Reichspräsident gewählt. Im Mai sah sich Brüning als Kanzler zum Rücktritt gedrängt. Das protestantische Staatsoberhaupt verzieh ihm nicht, ihn zum Präsidentschaftskandidaten der Sozialdemokraten und Katholiken gegen die ihm politisch viel näherstehende nationale Rechte gemacht zu haben. Zudem nahm Hindenburg Brüning das Verbot der SA übel, in dem die Reichswehr Rekrutierungspotenzial sah, sowie die geplante Abschaffung der sogenannten Osthilfe für notleidende ostelbische Agrarbetriebe.

Zwei Jahre nach seinem Rücktritt verließ der Altreichskanzler Deutschland, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Nach mehreren Exilstationen lehrte er ab 1937 in Harvard Verwaltungswissenschaften. Nach Krieg und NS-Herrschaft kehrte er 1951 zurück. In der Bundesrepublik wurde er jedoch trotz Professur in Köln nicht mehr heimisch. Der Politik der Westbindung von deren Kanzler Konrad Adenauer begegnete er mit Skepsis. 1955 kehrte er für den Rest seines Lebens in die Vereinigten Staaten zurück. Im Bundesstaat Vermont verstarb er am 30. März 1970.


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