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Welchen Weg geht Amerika?

Wenn die US-Amerikaner in wenigen Tagen ihren 47. Präsidenten bestimmen, stehen sie vor einer historischen Wahl. Jenseits der umstrittenen Persönlichkeit der Kandidaten geht es um nichts Geringeres als die Grundlagen des politischen Systems

Rod Dreher
03.11.2024

Während der US-Präsidentschaftswahlkampf Anfang November zu Ende geht, sagen sowohl Team Trump als auch Team Harris den Wählern, dass dies die wichtigste Wahl in der amerikanischen Geschichte sei. Kampagnen behaupten das immer, aber ich glaube, man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Abstimmung im Jahr 2024 die wichtigste Wahl seit Ronald Reagans überwältigendem Sieg im Jahr 1980 ist.

Warum? Nicht aus dem Grund, den Sie vielleicht vermuten: dass das Ergebnis darüber entscheiden wird, ob die USA von einer im amerikanischen Verständnis liberalen – im europäischen Sinne also linken – Partei (den Demokraten) oder einer konservativen Partei (den Republikanern) regiert werden. Nein, die diesjährige Wahl ist grundlegender. Es geht um die Legitimität des Systems selbst.

Worum es grundsätzlich geht
Damit meine ich nicht, dass es sich um ein Referendum über die freiheitliche Verfassungsdemokratie handelt. Ungeachtet dessen, was uns die amerikanische Linke weismachen möchte, agiert Trump innerhalb der amerikanischen Ordnung. Bei dieser Wahl geht es vielmehr darum, ob das amerikanische Volk die breite politische Einigung der Nachkriegszeit zwischen Demokraten und Republikanern fortsetzen oder einen anderen Weg einschlagen will.

1980 signalisierte Ronald Reagans Sieg einen großen Richtungswechsel in der US-amerikanischen Politik, mit dem der Wohlfahrtsstaat, der aus Franklin D. Roosevelts „New Deal“ und Lyndon B. Johnsons „Great Society“-Programm hervorgegangen war, sein Ende fand. Es war nicht Reagan, der diese abschaffte. Es war das amerikanische Volk, das für eine substantielle Änderung innerhalb der Nachkriegsordnung stimmte, die die politischen Prioritäten der Regierung in Washington weg vom Etatismus und hin zu freien Märkten sowie sozialem Konservatismus – oder genauer gesagt: Libertarismus, dem Glauben an individuelle Freiheit statt sozialer Solidarität – verlagerte. Margaret Thatcher bewirkte einen ähnlichen Wandel in Großbritannien.

Der Fall des sowjetischen Kommunismus und die darauffolgenden Wahlsiege von Tony Blair und Bill Clinton festigten das globalistische liberal-demokratische Modell politischer Ökonomie. Obwohl die Gesellschaften in den USA, Großbritannien und Westeuropa in Fragen der persönlichen Moral – am radikalsten in der Frage der Homo-Ehe – immer liberaler wurden, stellte niemand in den westlichen Ländern dieses Modell ernsthaft in Frage.

Doch die Geschichte war nicht zu Ende. Die Anschläge vom 11. September 2001 schockierten Amerika und führten zu einer katastrophalen Überreaktion der US-Regierung. Die Regierung George W. Bushs versuchte, der islamischen Welt mit überwältigender militärischer Gewalt und der Macht des Finanzkapitals eine liberale Demokratie aufzuzwingen. Dies scheiterte.

Darüber hinaus hat der Wirtschafts-Crash von 2008 das Vertrauen in die Utopie des freien Marktes grundlegend beschädigt. Und der erstaunliche Aufstieg Chinas – sicherlich eines der wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte – ging auf Kosten der Industrieunternehmen im Westen, die ihre gut bezahlten Fertigungsjobs nach China und anderswo verlagerten, wo die Arbeitskräfte billig waren.

Der Triumph der „Wokeness“
Und dann, ab etwa 2012, begann die destruktive Obsession linker amerikanischer Akademiker für die Identitätspolitik in den Mainstream einzusickern. Studien haben gezeigt, dass in jenem Jahr seltsame Wörter und Ausdrücke im Zusammenhang mit linker Identitätspolitik – mit Rasse, Geschlecht und Sexualität – in den amerikanischen Medien in großer Zahl auftauchten. Es wurde schnell unmöglich, linke Ansprüche auf „soziale Gerechtigkeit“ zu bestreiten, ohne beschuldigt zu werden, ein Fanatiker zu sein.

Diese Ideologie, die wir heute „Wokeness“ nennen, war bei den Wählern nie beliebt, aber sie eroberte die herrschende Klasse der USA. Im Herbst 2015 geschah auf dem Campus von Yale, einer der Eliteuniversitäten Amerikas, etwas Erstaunliches. Eine Kontroverse brach über etwas so Triviales wie Halloween-Kostüme aus.

Eine Spitzenprofessorin, Erika Chri­stakis, schrieb, dass es nicht die Aufgabe der Universität sei, erwachsenen Studenten vorzuschreiben, welche Art von Kostüm sie tragen dürfen, um niemandes Gefühle zu verletzen. Es brachen wütende Proteste unter den Studenten aus, die forderten, dass die Universität ihre Autorität nutzt, um ihre zarten Gefühle zu schützen. Auf YouTube kann man sehen, wie Christakis' Ehemann Nicholas versucht, die protestierenden Studenten in eine vernünftige Debatte über das Thema zu verwickeln. Doch sie wollten nicht diskutieren; sie weinten und schrien nur und beschimpften ihn als Fanatiker, der sich nicht um sie kümmerte.

Die Yale University kapitulierte damals vor dem Studentenmob. Doch war dies keineswegs die letzte Kapitulation. In den folgenden Jahren ergab sich eine Institution nach der anderen der Wokeness: Jura, Medizin, Medien, Wirtschaft, sogar das US-Militär. Donald Trumps Wahl im Jahr 2016 war zum Teil eine Reaktion auf die Wokeness und das Gefühl, dass die amerikanische Linke den Verstand verloren hatte – und dass die üblichen Politiker der Republikaner machtlos waren, sie aufzuhalten.

Das Aufkommen Trumps
Die Linke verlor erst recht den Verstand, nachdem Trump ins Amt gekommen war, was paradoxerweise die Wokeness beschleunigte. Dann, im Jahr 2020, löste die Tötung des drogenabhängigen schwarzen Kriminellen George Floyd durch die Polizei, die versuchte, ihn zu überwältigen, in vielen amerikanischen Städten Rassenunruhen aus und erhöhte die Gewaltkriminalitätsrate. Der Fall provozierte auch die institutionellen Eliten, illiberale Programme zu unterstützen, die bevorzugten ethnischen Minderheiten Vorteile gegenüber Weißen verschafften.

Zur gleichen Zeit öffnete ein Sieg vor dem Obersten Gerichtshof der USA in einem Fall aus dem Jahr 2014 für das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe die Tür für den Aufstieg des Transgenderismus. Dies hat zu einer radikalen Transformation der amerikanischen Gesellschaft rund um die Leugnung grundlegender biologischer Kenntnisse geführt. In vielen amerikanischen Schulsystemen gibt es inzwischen Programme, um Kindern Genderideologie einzutrichtern und Eltern davon abzuhalten zu erfahren, was in den Schulen vor sich geht.

Darüber hinaus glauben die meisten US-Amerikaner, obwohl sie die Zuwanderung grundsätzlich unterstützen, dass die Einwanderungsgesetze des Landes zu freizügig sind. Dies gilt seit Jahrzehnten, sowohl unter republikanischen als auch unter demokratischen Regierungen – und nichts hat sich geändert. Unter der Biden-Harris-Regierung ist die Einwanderungsrate höher als je zuvor. Viele Amerikaner – sogar Hispanics – haben das Gefühl, die Kontrolle über ihre Demokratie verloren zu haben.

Die Bedeutung der diesjährigen Wahl
Und damit kommen wir zum Jahr 2024. Donald Trump ist das „große Monster“ der amerikanischen Politik, zumindest nach dem gesamten US-Establishment und der Hälfte der Wähler. Für Trump-Wähler stellt er jedoch die einzige realistische Chance dar, die de­struktiven Kräfte im amerikanischen Leben umzukehren: die Massenmigration vor allem, aber auch die allmähliche Verarmung der Mittelschicht durch die Globalisierung, den Aufstieg des De-facto-Rassismus unter dem illiberalen Orwellschen Deckmantel von „Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion“ sowie die sogenannten „ewigen Kriege“ des Washingtoner Establishments. (Es ist höchst symbolisch, dass der Republikaner Dick Cheney, der ehemalige Vizepräsident und einer der Hauptarchitekten der Kriege im Irak und in Afghanistan, nun Kamala Harris unterstützt, die linkeste Demokratin, die jemals für das Präsidentenamt kandidierte.)

Kurz gesagt, die Wahl 2024 ist ein Referendum über den Glauben an das amerikanische System und die politische Klasse – sowohl Demokraten als auch Republikaner –, die seine Institutionen leitet. Das Vertrauen der Amerikaner in ihre Institutionen ist auf einem historischen Tiefstand. Trumps unausstehliche Persönlichkeit macht die Sache komplizierter, denn es gibt nicht wenige Amerikaner, die das Establishment nicht mögen und ihm misstrauen, die sich aber nicht dazu durchringen können, einen so rücksichtslosen Präsidentschaftskandidaten wie Trump zu wählen.

Aus diesem Grund ist Donald Trump der einzige Republikaner, den eine so oberflächliche und schwache Demokratin wie die
ultraprogressive Kamala Harris schlagen könnte. Sollte die Demokratin bei der Wahl tatsächlich triumphieren, wird das nicht so sehr daran liegen, dass Harris gewonnen hat, sondern daran, dass Trump verloren hat. Doch wer auch immer gewinnt – die Krise der Polarisierung und des Hasses im amerikanischen Leben wird nicht enden, sondern sich nur noch verschärfen.

Die Stunde des J.D. Vance
Für Deutsche mag es nicht offensichtlich sein, aber die wichtigste Figur in diesem Rennen ist J.D. Vance, Trumps Vizekandidat. Vance ist 40 Jahre alt, hochintelligent und nicht von den Ideen der Reagan-Ära geprägt. Er wuchs in einer wirtschaftlich schwachen Region auf, in einer durch Scheidung und Drogensucht zerrütteten Familie, und machte dennoch seinen Abschluss an der Yale Law School, der renommiertesten juristischen Fakultät Amerikas. Er kennt die Höhen und Tiefen des amerikanischen Lebens und vertritt Ansichten über Wirtschaft, Gesellschaft, Krieg und Außenpolitik, die – obwohl sie im Großen und Ganzen mit denen Trumps übereinstimmen – in der US-Politik etwas Neues darstellen.

Wenn Trump gewinnt, kann er nach amerikanischem Recht 2028 nicht mehr antreten. Das bedeutet, dass Vance dann der Kandidat der Republikaner sein wird. Wenn Trump verliert, wird Vance, der im Wahlkampf in diesem Herbst sehr gut abgeschnitten hat, der führende Kandidat für die Nominierung der Republikaner im Jahr 2028 sein. Wenn er gewählt wird, könnte er zwei Amtszeiten als Präsident absolvieren.

Was auch immer passiert, ich schätze, dass die Wahl 2024 von zukünftigen Historikern als das Tor zur Vance-Ära der amerikanischen Politik in Erinnerung bleiben wird. Trump und Harris sind, obwohl Jahrzehnte zwischen ihnen liegen, die Kandidaten von gestern. Der junge Vance hat das Potential, ein ebenso transformierender amerikanischer Führer zu werden wie einst Reagan. Das Problem ist, dass Vance, wenn er es ins Oval Office schaffen sollte, möglicherweise einem Land vorstehen könnte, das so tief in sich selbst gespalten ist, dass der amerikanische Niedergang unumkehrbar ist.

Kultur geht der Politik voraus, und der Niedergang des Christentums und der damit verbundene Verlust einer gemeinsamen Basis für das amerikanische politische Leben haben einen anhaltenden Kulturkampf ausgelöst, der die Existenz der liberalen demokratischen politischen Ordnung selbst bedroht. Dies ist leider eine Desintegrationsdynamik, die kein Politiker – egal ob links oder rechts – aufhalten kann.

Rod Dreher ist ein US-amerikanischer Journalist, Gastdozent am Danube Institute in Budapest und Autor von drei „New York Times“-Bestsellern über Politik, Religion und Kultur. Er war Kolumnist des „American Conservative“ und schreibt nun unter anderem für den „European Conservative“. Soeben erschien sein neues Buch „Living in Wonder. Finding Mystery and Meaning in Secular Age“ (bislang nur auf Englisch).


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Kommentare

Chris Benthe am 03.11.24, 10:22 Uhr

Was J.D. Vance betrifft, bin ich exakt der gleichen Ansicht. Wer sein Buch gelesen hat (eigentlich sollte es jeder politisch Interessierte lesen), dürfte keinen Hweifel haben, das Vance die kommende Hoffnumg Amerikas sein wird. Man könnte es auch volkstümlich formulieren: J.D.Vance, den hat der Himmel geschickt.

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