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Tonkin-Resolution

Wenn beim Stellvertreterkrieg der Stellvertreter schwächelt

Vor 60 Jahren nutzte Washington den „Tonkin-Zwischenfall“, um den offenen Eintritt in den Vietnamkrieg zu begründen und zu rechtfertigen

Wolfgang Kaufmann
03.08.2024

Im Verlauf des Kalten Krieges kam es immer wieder zu Stellvertreterkriegen, in denen die beiden Supermächte ihre Interessenkonflikte auf dem Territorium asiatischer oder afrikanischer Drittstaaten austrugen. Hierzu zählte auch der Vietnamkrieg, der aus dem Genfer Abkommen von 1954 beziehungsweise dessen Missachtung resultierte (siehe PAZ vom. 19. Juli).

Die Regierung in Washington stellte sich damals auf den Standpunkt, dass der Kommunismus nach der Weltherrschaft strebe und ein Sieg der von Moskau und Peking unterstützten Demokratische Republik Vietnam (DRV) im Norden über die US-hörige Republik Vietnam im Süden zu einem Dominoeffekt führen und ganz Südostasien dem Kommunismus ausliefern würde. Daher griffen die USA den wechselnden Regimes in Südvietnam militärisch unter die Arme, so zum Beispiel durch Waffenlieferungen oder die Entsendung von Ausbildern und Beratern für die Armee der Republik Vietnam (ARVN).

Letztere war der Guerillataktik der südvietnamesischen Untergrundkämpfer der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (FNL) sowie der eingesickerten 40.000 regulären nordvietnamesischen Soldaten aber dennoch nicht gewachsen. Deshalb kontrollierte die FNL Anfang 1964 vier Zehntel des Territoriums Südvietnams und fast neun Zehntel der Gebiete rund um die südvietnamesische Hauptstadt Saigon.

In dieser Situation strebten der US-Präsident Lyndon B. Johnson, dessen Verteidigungsminister Robert McNamara und die Vereinigten Stabschefs der US-Teilstreitkräfte nach einem stärkeren Engagement in Vietnam, um zu verhindern, dass das verbündete Südvietnam den Stellvertreterkrieg verliert. Allerdings bedurfte es dazu eines passenden Vorwands – nicht zuletzt wegen des großen Widerstandes innerhalb der eigenen Bevölkerung gegen die Entsendung größerer Truppenkontingente und Luftangriffe auf Nordvietnam. Hier kam dann der sogenannte Tonkin-Zwischenfall ins Spiel, der im direkten Zusammenhang mit US-amerikanischen Provokationen stand.

Zwischenfall vom 2. August
Unter der Leitung des US-Auslandsgeheimdienstes CIA führten Kommandotrupps der südvietnamesischen Marine ab Februar 1964 Sabotageakte gegen nordvietnamesische Militärstützpunkte an der Westküste des Golfes von Tonkin durch. Dabei wurden die ARVN-Schnellboote in der Regel von Zerstörern der 7. US-Flotte gedeckt, die im Rahmen der Operation Desoto zugleich auch Informationen über die elektronischen Abwehrsysteme der Nordvietnamesen sammelten. Während ihrer Fahrten respektierten die US-Schiffe zwar die Drei-Meilen-Zone der DRV, drangen aber immer wieder in die von Hanoi beanspruchte Zwölf-Meilen-Zone ein. Da eine verbindliche völkerrechtliche Anerkennung von Zwölf-Meilen-Zonen erst durch das Seerechtsübereinkommen der UN vom 10. Dezember 1982 erfolgte, konnte sich Washington darauf berufen, dass die auf Spionagemission befindlichen Zerstörer in internationalen Gewässern operierten.

Insofern war es tatsächlich ein Akt der Aggression, als vor 60 Jahren, am 2. August 1964, drei nordvietnamesische Schnellboote des sowjetischen Typs P-4 den US-Zerstörer „Maddox“ auf seiner Desoto-Mission mit Torpedoschüssen und Maschinengewehrfeuer attackierten. Allerdings hatten südvietnamesische Einheiten im Schutz der 7. US-Flotte kurz zuvor die zur DRV gehörenden Inseln Hòn Ngu und Hòn Mê beschossen, wodurch eine unübersichtliche Situation entstanden war, an der die USA eine Mitschuld trugen. Und es gab auch keine Schäden an der „Maddox“. Deshalb sandte das Weiße Haus letztlich nur eine Protestnote nach der nordvietnamesischen Hauptstadt Hanoi.

„Zweiter Tonkin-Zwischenfall“
Zwei Tage später meldete die „Maddox“, die nun im Verbund mit dem Zerstörer „Turner Joy“ operierte, einen erneuten Angriff nordvietnamesischer Schiffe. Diesmal stand sie nach einer weiteren Desoto-Operation rund 60 Seemeilen östlich der nordvietnamesischen Küste in zweifelsfrei internationalen Gewässern, als sie angeblich von fünf DRV-Schnellbooten attackiert wurde. Dabei meldete der an Bord der „Maddox“ befindliche Kommandeur der 192. Zerstörerdivision, Captain John Herrick, jedoch schnell Zweifel an, dass es tatsächlich einen nordvietnamesischen Angriff gegeben hatte, und bezeichnete die nur per Sonarortung festgestellten Torpedoschüsse als Täuschung infolge von Wettereffekten und deren Fehlinterpretation.

Daraufhin setzte der Oberkommandierende des Pazifikkommandos, Admiral Ulysses Grant Sharp, Herrick massiv unter Druck, die „Attacke“ ohne Wenn und Aber zu bestätigen. Parallel dazu fabrizierte der US-Auslandsgeheimdienst NSA etliche fingierte Beweise. Er präsentierte selektiv ausgewählte und absichtlich falsch übersetzte Funksprüche der nordvietnamesischen Marine, in denen es scheinbar um abgefeuerte Torpedos ging. Dies belegen 2005 freigegebene NSA-Dokumente.

Angesichts dieser Sachlage äußerte Präsident Johnson gegenüber dem Staatssekretär im State Department George Ball: „Zum Teufel, unsere dämlichen Seeleute haben ja nur auf fliegende Fische geschossen!“ Dennoch nutzte er den komplett konstruierten „zweiten Tonkin-Zwischenfall“, um dem Kongress eine Resolution vorzulegen, die ihn ermächtigen sollte, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um einen bewaffneten Angriff gegen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten abzuwehren und weitere Aggressionen zu verhindern“.

Diese Resolution, die der stellvertretende US-Justizminister Nicholas Katzenbach als „funktionelles Äquivalent einer Kriegserklärung“ bezeichnete, wurde am 10. August 1964 vom Kongress mit nur zwei Gegenstimmen verabschiedet und noch am selben Tag vom Präsidenten signiert. Damit trat Amerika offiziell in den Vietnamkrieg ein. Denn die Resolution, so Johnson ebenso zutreffend wie salopp, war wie „Omas Nachthemd: Sie deckte alles ab.“ Das galt für die jahrelange Bombardierung Nordvietnams ebenso wie für die Entsendung von letztlich 550.000 US-Soldaten nach Vietnam zum Kampf gegen tatsächliche oder vermeintliche Guerillas. Wobei 58.220 der GIs nur noch im Blechsarg in die Heimat zurückkehrten – wenn überhaupt.


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