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Strafvollzug

Wenn die Grüne Minna vorfährt

Vor 125 Jahren: Die ersten Insassen kommen ins Königliche Strafgefängnis Tegel – Carl von Ossietzky fand seine Zelle „gar nicht übel“

Bettina Müller
26.09.2023

Bei Berlin-Tegel denkt man eher an den ehemaligen Flughafen, aber wohl kaum an die Anstalt des geschlossenen Vollzugs, die zu den ältesten in Deutschland gehört. Für den braven Bürger ist so ein Leben hinter Gittern schwer vorstellbar. Für den ein oder anderen Häftling aber auch. So suchte schon kurz nach der Eröffnung des „Königlichen Strafgefängnisses Tegel“ der Erste sein Heil in der Flucht: der 20-jährige Buchbinder Carl Becker.

Am 1. Oktober 1898 hatte man nach über zweijähriger und innerhalb der Umwehrungsmauern immer noch nicht abgeschlossener Bauzeit die ersten 90 Strafgefangenen einliefern können. Auch Carl Becker wird man im Grünen Pferdebahnwagen, der „Grünen Minna“, vom Molkenmarkt aus seiner Untersuchungshaft hinter die neuen Gefängnismauern transportiert haben.

Ab Sommer 1900 wurde der Transport mit dem im Volksmund „Dicke Pauline“ genannten Gefährt elektrisch betrieben. Was Becker auf dem Kerbholz hatte, ist nicht bekannt. Vielleicht ist es ihm wie anderen Knastkollegen gegangen, wenn sie nach der Entlassung auf der Landstraße von Tegel in Richtung Berlin angesprochen wurden: „Du kommst doch ooch aus'm jrienen Boom, wah?“
Grün, das war eben nicht nur die Farbe der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit der „Deklassierten“, wie eine Berliner Zeitung sie einmal nannte. Manche blieben nicht lange, es waren auch geringe Gefängnisstrafen ab sechs Tagen abzusitzen. Die Delinquenten stammten aber immer alle aus den Landgerichtsbezirken I und II sowie aus Potsdam und wurden auf die drei „Verwahrhäuser“ aufgeteilt, zu denen sich später noch ein viertes für diejenigen gesellte, die nicht für die Gemeinschaftshaft geeignet waren.

Tegel, das war eine eigene kleine „Stadt“ in der immer schnelllebiger werdenden Reichshauptstadt. Es war ein perfekt organisierter Mikrokosmos innerhalb der Metropole mit einer eigenen Gefängniskirche, Krankenhaus, Koch- und Backhaus, Wasch- und Badehaus, Werkstätten, Beamtenwohnungen und vielen anderen Annehmlichkeiten. Eine der wichtigsten Funktionen hatten naturgemäß die Aufseher, auch „Hausväter“ genannt. Zu über 70 Prozent waren das ehemalige Soldaten.

So wie Bernhard Jäckel, ein 1855 im schlesischen Niederleschen geborener Gefangenenaufseher. Auszüge aus Jäckels Nachlass, eines Tages im Internet bei Ebay angeboten, gaben Einblick in den Alltag des Personals. Darin zu finden war auch eine Verwaltungsgliederung der sehr umfangreichen Registratur, die den hohen Aufwand belegte, der für den reibungslosen Betrieb innerhalb der Strafanstalt vonnöten gewesen sein muss. Unmengen an Formularen, Verordnungen, Abrechnungen, Übersichten von Ein- und Ausgaben, aber auch Namen von Unternehmern und deren Werkführer, die im Strafgefängnis ungehindert ein- und ausgehen durften – das alles wurde akribisch festgehalten.

Konnte Jäckel, während er über seinen Listen brütete, ahnen, wie sich sein Arbeitsort im Laufe der nächsten Jahrzehnte verändern würde? Zwei Weltkriege musste der diensteifrige Beamte miterleben, bis er im Juli 1942 als „Justiz-Hauptwachtmeister a.D.“ in der Tegeler Bahnhofstraße verstarb.

Von Tilsit direkt nach Tegel
Welche der prominenten Häftlinge hat er noch selber gekannt? Als Hausvater wird er 1906 Friedrich Wilhelm Voigt begegnet sein, der knapp zwei Jahre in Tegel einsaß. Ausgerechnet dieser Ostpreuße aus Tilsit, der als falscher „Hauptmann von Köpenick“ das preußische Beamtentum narrte, lobte sie als „mustergültig“, diese Beamten in Tegel, die 1913 schließlich durchschnittlich 1565 Männer zu beaufsichtigen und zu versorgen hatte. Ein Jahr später brach der Erste Weltkrieg aus, und das Verwahrhaus I wurde 1916 zum Militärgefängnis umfunktioniert.

Die Zeit verging, die Kriminalität blieb, das liegt nun einmal in der Natur der Menschheit. So blieb auch Tegel in der Weimarer Republik bestehen. Als Carl von Ossietzky am 10. Mai 1932 seine 227-tägige Haftstrafe wegen „Landesverrats“ antrat, wurde er, so geht es aus Briefen an seine Ehefrau hervor, „freundlich und nett und voll Interesse“ behandelt. Aber erkennen musste auch er: „Es ist einsam hier.“ Die Zelle hingegen fand von Ossietzky „gar nicht übel“.

Oberstrafanstaltsdirektor Bruck legte Wert darauf, dass die Menschenwürde gewahrt wurde. Vorbei die Zeiten, in denen die Justiz als „Racheengel“ den Häftlingen das Leben schwer machte, oder wie der ehemalige Reichsgerichtsrat Otto Mittelstädt (1834–1899) gnadenlos formulierte: „Er soll es als grausame Pein empfinden.“ Das war eine Phase, in der die Gefangenen nicht nur physisch, sondern vor allem auch psychisch gebrochen werden sollten.

Jäckel war längst in Rente, als prominente Widerstandskämpfer wie Dietrich Bonhoeffer eingeliefert wurden. Es war die Zeit, als der Nationalsozialismus massiv Einfluss auf die Justiz nahm, und so auch ein Teil des Hauses III für Untersuchungshäftlinge des Volksgerichtshofs eingerichtet werden musste. Nach 1933 begann das dunkelste Kapitel Tegels. Ganz tiefschwarz wurde es dann ab Januar 1943, als die ersten Vermerke im Namensregisterbuch erschienen: „KZ-Lager Auschwitz zugeführt“.

1945: Russische Truppen finden nur noch leere Zellen vor, das Gefängnis ist längst aufgelöst, die Häftlinge entweder entlassen oder durch alliierte Bombardierungen ums Leben gekommen. Der Neuanfang ist nicht einfach, bedingt auch durch die Teilung der Stadt. 1955 erhält das Gefängnis die neue Bezeichnung „Strafanstalt Tegel“, 1977 wird sie in „Justizvollzugsanstalt Tegel“ umbenannt.
Heute fristen über 867 männliche Insassen ihr Dasein in der JVA in der Seidelstraße 39, abgeschirmt von einer 1465 Meter langen Außenmauer mit 13 Wachtürmen, deren Personal aus 630 Bediensteten besteht. Das sind nackte Fakten und Zahlen. Doch was ist mit den Menschen, die die Mauern überhaupt erst mit Leben füllen? Wie kann man sie auf den „Pfad der Tugend“ zurückdirigieren? Eine ewige Frage, doch nicht immer findet man die Antwort, auch das liegt in der Natur dieser Sache.

Einige Besucher strömen manchmal freiwillig in die JVA, nämlich immer dann, wenn das Gefängnistheater „aufBruch“ Vorstellungen im Freistundenhof einer der Teilanstalten gibt. 2022 hieß die Losung „Römer go home!“, als die Strafgefangenen „Die Hermannsschlacht“ aufführten. Vorurteile seitens der Besucher sollen so abgebaut und die Erkenntnis geweckt werden, dass auch die Strafgefangenen für die Gesellschaft wichtige Ressourcen haben. Im Idealfall werden durch die konzentrierte Arbeit in der Gruppe verschüttete Fähigkeiten freigelegt und ermöglichen in Kombination mit der durch das Theater geförderten Teamfähigkeit, Kommunikation, Disziplin und Konzentration eine bessere Vorbereitung auf das Leben „danach“. Damit man den „jrienen Boom“ möglichst nie mehr von innen wiedersehen muss.


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