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Islam

Wie der Kampf zwischen Schiiten und Sunniten für weltweites Chaos sorgt

Der französische Nahost-Experte Giles Kepel legt in seinem Buch die historischen Hintergründe für die aktuellen Konflikte in Nordafrika und im Nahen Osten offen. Drei Etappen auf dem Weg zur Radikalisierung der islamischen Welt

Dirk Klose
23.05.2020

Schon seit Längerem hat der Nahostkonflikt mit all seinen Facetten den Ost-West-Konflikt als Brennpunkt der internationalen Politik abgelöst. Hier wiederum steht im Mittelpunkt der seit 2011 tobende Krieg in und um Syrien. Der französische Nahost-Experte Gilles Kepel scheut sich nicht, diesen Konflikt „eine Art postmoderner Weltkrieg“ zu nennen. 

Kepel, Jahrgang 1955 und in Paris geboren, gilt als einer der besten Kenner der arabischen Welt. Im Untertitel seines Buches „Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen“ sagt er, worum es ihm geht, nämlich das kaum zu überschauende Wirrwarr der dortigen Konflikte verständlich zu machen. Seine Kernthese: Die meisten Konflikte werden bestimmt von den Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten, mithin also von Differenzen in ein und derselben Religion (wer in Europa darüber den Kopf schüttelt, mag an den Dreißigjährigen Krieg denken, als sich Katholiken und Protestanten wie Todfeinde bekämpften). Da jede Glaubensrichtung die alleinige Vorherrschaft anstrebt, schrauben sich die Gegensätze zu einem brutalen, in Terror, Mord und Grauen eskalierenden Überbietungswettbewerb hoch, dessen Schrecken sich längst bis nach Europa und Amerika ausgeweitet haben. 

Kepel datiert den Beginn der politisch virulenten Islamisierung auf den Jom-Kippur-Krieg von 1973 mit der verheerenden Niederlage arabischer Staaten gegen Israel und der als Vergeltung „gezückten“ Ölpreiserhöhung. Die Folgen waren nicht nur erhebliche ökonomische Verwerfungen im Westen, sondern auch ein Erstarken des islamischen Selbstwertgefühls. Kepel zählt drei Phasen der Islamisierung und damit eines sich aggressiv ausbreitenden Dschihad: Eine erste von 1980 bis 1997, die vom Beginn des Mullahregimes im Iran (Rückkehr Chomeinis 1979) geprägt war sowie von erfolglosen Aufständen in Algerien, Ägypten und Bosnien; dann eine zweite Phase, gekennzeichnet durch die Terrororganisation al-Kaida mit ihren Selbstmordattentaten, gipfelnd in „9/11“ im Jahr 2001 in New York und Washington, und die amerikanische Invasion gegen das Regime Saddam Husseins; schließlich eine dritte Phase, deren Beginn er im „Arabischen Frühling“ ab dem Herbst 2011 sieht und deren Höhepunkte die Bildung des „Islamischen Staates“ sowie der wechselvolle Krieg in Syrien seien. 

Kepel geht alle drei Phasen mit größter Genauigkeit bei wohl schwer zu überbietender Informationsdichte durch. Er ruft sowohl den jahrelangen Bürgerkrieg in Algerien in Erinnerung, der das Land an den Rand des Ruins brachte, als auch die geglückte Demokratisierung Tunesiens, schildert das von Stammeskämpfen zerrissene Lybien, analysiert den vom Bürgerkrieg ruinierten Jemen sowie den völlig paralysierten Libanon – „die Echokammer des schiitisch-sunnitischen Konflikts“. 

Die religiösen und damit politischen Gegensätze wurden und werden bestimmt durch den Gegensatz zwischen dem konservativen sunnitischen Herrscherhaus in Saudi-Arabien und der schiitischen Islamischen Republik Iran. Dieser Gegensatz, das zeigt der Autor an vielen Beispielen, bestimmt bis heute alle maßgeblichen Konflikte, auch und gerade in Syrien. Vielleicht nicht von ungefähr ist das Kapitel zu Syrien und zum Irak das umfangreichste, weil sich hier der – scheinbar – innerarabische Konflikt mehrfach zu einem Weltbrand auszuweiten drohte, da sich sowohl die USA als auch mehr und mehr Russland und dann die Türkei engagierten. 

Das russische Eingreifen, das zeigt sich inzwischen, hat das zwischenzeitlich schon fast verlorene Regime von Präsident Assad gerettet. Wie dort eine künftige politische Ordnung aussehen kann, wird, so sagt es der Autor, auch davon abhängen, wieweit sich Washington, Moskau und Teheran verständigen können. Im Irak sieht Kepel unverhoffte Hoffnungszeichen: Das nach 38 Kriegsjahren ausgezehrte Land sei zutiefst müde; erstmals rege sich gegen bisherige religiöse Bindungen in der jungen Generation so etwas wie ein irakisches National- und damit Gemeinschaftsgefühl. 

Das düsterste Kapitel gilt dem IS, dem Islamischen Staat, der 2014 als „Kalifat“ ausgerufen wurde und 2017 – endgültig? – überwunden werden konnte. Dessen perfide Strategie, beispiellose Grausamkeit – öffentliche Hinrichtungen, Köpfen, Verbrennen bei lebendigem Leibe, und das alles vor laufenden Kameras - wurzelte in eiskaltem Kalkül, mittels solcher Bilder weltweit Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Kampf gegen den IS führte unter der Hand sogar dazu, dass Iran und Amerika stillschweigend gemeinsam agierten. Auch der Autor war, zum Glück in absente, vom IS wegen angeblicher Verleumdungen zum Tode verurteilt worden. 

Kepels Buch ist ein zutiefst aufrüttelndes Buch. Gerade weil es in so viele Probleme der arabischen Welt einführt, stellen sich dem Leser unweigerlich weitere Fragen: Warum die extreme Geistes- und Wissenschaftsfeindlichkeit; warum gelingt es nicht, eine zukunftsfähige Wirtschaft aufzubauen (der sinkende Ölpreis hat schon jetzt für Saudi-Arabien schwerwiegende Folgen); warum nach wie vor ein völlig unzulängliches Bildungssystem; warum die allen UN-Prinzipien widersprechende Geringschätzung der Frau? Schade, dass der Autor darauf nicht eingeht, aber das hätte vielleicht den Rahmen des Buches gesprengt, das allemal eines der wichtigsten zeitgeschichtlichen Bücher unserer Tage ist. 

Gilles Kepel 
Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen
Verlag Antje Kunstmann, München 2019, 494 Seiten, 28 Euro


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