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Im Rom der Spätantike ungerechtfertigt eingekerkert fand der Staatsbeamte und Philosoph Boethius erhellende Erkenntnisse über den Umgang mit den Zumutungen des Lebens
Der in den früheren 80er Jahren des 5. Jahrhunderts n. Chr. geborene Anicius Manlius Severinus Boethius war Spross einer einflussreichen römischen Senatorenfamilie. Deshalb erhielt er auch die bestmögliche Ausbildung und erlangte anschließend großen Ruhm als Gelehrter. Gleichzeitig glückte ihm eine bemerkenswerte politische Karriere, die 522 darin gipfelte, dass der in Rom herrschende Ostgotenkönig Theoderich Boethius zum Magister Officiorum ernannte und somit faktisch an die Spitze der Reichsverwaltung stellte.
Allerdings solidarisierte sich der Hofbeamte und Philosoph dann alsbald mit dem Senator Flavius Albinus, dem auf reichlich konstruierte Weise hochverräterische Beziehungen zum byzantinischen Kaiser Justin I. unterstellt wurden. Daraufhin sorgten Boethius' Feinde, zu denen zahlreiche Neider und Karrieristen zählten, für eine Ausweitung der Untersuchung gegen Albinus auf den Magister Officiorum. Im Ergebnis dessen wanderte dieser ebenfalls in den Kerker. Anschließend verurteilte ein aus fünf Senatoren bestehendes Standesgericht Boethius zum Tode, ohne ihm vorher auch nur die geringste Möglichkeit zur Verteidigung zu geben. Somit fiel der des Hochverrats mit Sicherheit nicht Schuldige einem Akt von politisch motivierter Willkürjustiz zum Opfer, bei dem im Übrigen auch gefälschte Beweisdokumente und verlogene Zeugen zum Einsatz kamen.
Das süße Gift der „Bühnenhuren“
Die Hinrichtung von Boethius wurde irgendwann in den Jahren von 524 bis 526 durch Enthauptung mit dem Schwert vollzogen. In der Zeit zwischen seiner Verhaftung und seiner Exekution schrieb der in Ungnade Gefallene das aus 39 Prosatexten und 39 Gedichten bestehende Werk „De consolatione philosophiae“, zu Deutsch „Über den Trost der Philosophie“, welches heute – nach nunmehr bereits 1500 Jahren – nicht nur aufgrund seiner Entstehungsgeschichte, sondern auch wegen des Inhalts genauso aktuell ist wie damals.
So äußert Boethius eingangs, dass er die politischen Ämter nur übernommen habe, um zu verhindern, dass Verbrecher den Staat zugrunde richten. Unglücklicherweise sei es diesen aber gelungen, ihn ungeachtet seines fortwährenden Strebens nach Gerechtigkeit aufs Schlimmste zu verleumden. Allerdings wäre das nicht möglich gewesen, wenn die Öffentlichkeit mehr über seinen Fall gewusst hätte. In diesem Zusammenhang kritisiert der Philosoph das Treiben von „Bühnenhuren“, deren Ziel darin bestehe, unfruchtbare Leidenschaften zu nähren und den Menschen allerlei „süße Gifte“ einzuflößen, um die Saat der Vernunft abzutöten. Darin sieht Boethius dann auch den Grund für die fortwährende Verfolgung von redlichen Menschen mit klarem Verstand, zu denen er nach bestem Wissen und Gewissen gehöre.
Die personifizierte Philosophie antwortet hierauf, dass es jedermann offenstehe, sich in sein „wirkliches Vaterland“ zurückzuziehen, welches ihn nie enttäuschen werde und aus dem auch keine Vertreibung erfolgen könne. Das sei das Reich der geistigen Werte.
Anschließend beschreibt der Gefangene die tiefe Trauer um sein verlorenes Glück. Das nutzt die Philosophie für Erklärungen über die grundsätzliche Unberechenbarkeit der Göttin Fortuna. Diese drehe unentwegt an dem Rad, durch dessen Schwung sich das Tiefste und das Höchste periodisch abwechselten. Danach verdeutlicht die Philosophie Boethius, wie sehr sein Leben unter der Angst vor dem Verlust von Reichtum, Macht und Ruhm gelitten habe. Deshalb handele es sich bei diesen drei Dingen um Scheingüter, welche nur zu einem trügerischen Scheinglück verhelfen. Das werde schon daran erkennbar, dass auch Unwürdige in den Genuss solcher Güter kommen könnten. Daher solle Boethius alles, was ihm jetzt wie ein Unglück erscheine, als Vorteil betrachten. Denn die aktuelle Misere in seinem Leben und der Verrat des Staates an seiner ehrenwerten Person hätten ihn in die Lage versetzt, den Ballast der Scheingüter abzuwerfen.
Ein jeder hat die Wahl
Daraufhin wird naheliegenderweise über die Güter diskutiert, welche wirklich wichtig sind. Dazu meint die Philosophie, wenn jemand etwas erlange, was er ersehne, aber dennoch weiter nach mehr giere, dann handele es sich nicht um eine tatsächlich erstrebenswerte Sache. Vor diesem Hintergrund bleibe letztlich nur eine Alternative zu den Scheingütern, und das sei die Glückseligkeit durch die bescheidene Teilhabe am Göttlichen. In Erwiderung dessen gibt Boethius zu bedenken, dass Gott aber doch auch das Böse zulasse, womit Tugend – so wie in seinem persönlichen Falle – unbelohnt bleibe und sogar bestraft werde. Wie solle man dies gutheißen?
Die Antwort der Philosophie besteht in dem Hinweis, dass es schlimmer sei, Unrecht zu tun, als Unrecht zu erleiden. Denn die Schlechtigkeit mache die Ungerechten elender als alle anderen. Außerdem solle Boethius bedenken, dass nichts in der Welt ohne Grund geschehe. Allerdings fehle den Menschen die Einsicht in die dahinterstehenden komplexen Zusammenhänge und somit auch das Verständnis für die Schicksalsordnung.
Daraufhin fühlt sich der vom Leben Enttäuschte veranlasst, die Philosophie nach der Rolle des Zufalls zu fragen. Diese erklärt nochmals, nur ihre eigene Unwissenheit lasse die Menschen glauben, etwas Unerwartetes beziehungsweise Unerwünschtes sei plötzlich und zufällig eingetroffen. Das führt zu Boethius' Entgegnung, ob denn dann in dieser umfassend vorherbestimmten Welt überhaupt noch Platz für die menschliche Willensfreiheit sei. Darauf gibt die Philosophie eine Antwort, mit der das Werk dann auch abschließt: Jedes Individuum verfüge von Natur aus über die Fähigkeit, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und zwischen Handeln und Nichthandeln zu wählen. Insofern dürfe sich niemand hinter angeblichen äußeren Zwängen verstecken.
Möglicherweise hätte Boethius seinen „Trost der Philosophie“ noch um wesentlich mehr Denkanstöße anreichern können, wenn er nicht hingerichtet worden wäre. Dennoch ist das aus der Spätantike überlieferte Werk ein Meisterstück der geistigen Auseinandersetzung mit unerfreulichen Phänomenen in Politik und Gesellschaft, an denen auch heute kein Mangel herrscht.