19.04.2025

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Sehen derzeit keine Gefahr eines russischen Angriffs auf die NATO: US-amerikanische Sicherheitskreise. Im Bild US-Soldaten während eines Manövers in Litauen
Bild: picture alliance/AP Photo|Mindaugas KulbisSehen derzeit keine Gefahr eines russischen Angriffs auf die NATO: US-amerikanische Sicherheitskreise. Im Bild US-Soldaten während eines Manövers in Litauen

Will Russland Krieg mit der NATO?

Das zumindest behaupten deutsche Kommentatoren in Politik und Medien. Ein genauer Blick auf die Lage zeigt jedoch, dass es dafür keine stichhaltigen Belege gibt. Weshalb denn auch US-Geheimdienste zu einer anderen Bewertung kommen

Harald Kujat
18.04.2025

Ende März kritisierten 15 außen- und sicherheitspolitische Experten die derzeitige Diskussion über angebliche aggressive Pläne Russlands gegenüber dem Westen: Der derzeit verbreitete Alarmismus sei nicht plausibel und basiere auf keiner seriösen Bedrohungsanalyse.

Seit sich US-Präsident Trump bemüht, Russland und die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, wird hierzulande verstärkt vor einem möglichen russischen Angriff auf Westeuropa beziehungsweise die NATO gewarnt. Russland wird zunehmend als Herausforderung für die europäische Sicherheitsordnung und als Bedrohung dargestellt. Es heißt, Russland wolle eine neue Weltordnung schaffen, sei bereit, seine imperialistischen Ziele mit Gewalt durchzusetzen und werde nach der Ukraine weitere Länder angreifen – zunächst ein einzelnes NATO-Land, beispielsweise einen baltischen Staat oder Polen, um den Zusammenhalt des Bündnisses zu testen. Jedenfalls sei die Lage noch nie so bedrohlich wie jetzt gewesen.

Diese Szenarien basieren auf der Annahme, dass Russland bald die erforderlichen militärischen Fähigkeiten und auch die Absicht zum Angriff habe. „Militärexperten“ wetteifern gar um den kürzesten Zeitraum, der den NATO-Staaten für die Verteidigungsvorbereitungen bleibt. Manche warnen, ein Angriff könnte vor 2030 erfolgen, andere sind sogar fest davon überzeugt, Russland könne bereits in vier Jahren losschlagen. Ein Historiker behauptet gar, der Sommer 2025 sei möglicherweise „der letzte Friedenssommer“. Als vermeintliches Indiz wird das russisch-weißrussische Manöver „Zapad 25“ genannt, das im September mit 13.000 Soldaten unter OSZE-Beobachtung stattfinden soll.

Pauschale Aussagen ohne präzise Belege
In dieser Diskussion bleiben viele Fragen offen. Was bedeutet es, zum Beispiel, für Russland, den Krieg gegen die Ukraine zu „gewinnen“. Eine vollständige Eroberung des Landes ist offenbar nicht das Ziel. Die Eroberung des Donbass allein wäre dagegen keine gute Ausgangslage für weitergehende Angriffe. Und ein (Test)-Angriff auf einen NATO-Staat würde Russland in einen Krieg mit dem gesamten Bündnis stürzen. Wäre Russland wirklich bereit, ein existentielles Risiko für einen derartigen „Test“ in Kauf zu nehmen?

Die Behauptung, Russland verfolge imperialistische Ziele mit Gewalt, wirft die Frage auf, um welche Ziele es sich handelt. Geht es um die Rückeroberung der Länder, die einst zur Sowjetunion gehörten, um ehemalige Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts, oder geht es gar um den gesamten europäischen Kontinent? Es fehlen belastbare Belege für solche Annahmen. Stattdessen werden in der Bevölkerung Furcht und Zukunftsängste erzeugt – vor allem von jenen, deren frühere Lageeinschätzungen zum Ukrainekrieg sich nicht bewahrheitet haben und die nun ihre Haltung wenigstens moralisch legitimieren wollen.

Tatsächlich hat Russland seine Rüstungsproduktion 2024 gegenüber den Vorjahren erheblich gesteigert. Die Konversion ziviler Industrie in militärische Fertigung – insbesondere in der Metallverarbeitung, Fahrzeugproduktion und Elektronik – folgt dem Muster zentral gesteuerter Kriegswirtschaft. Erhebliche staatliche Investitionen flossen in den Ausbau der Munitionsfabriken und die Panzerproduktion. Der Militärhaushalt stieg 2024 auf über 6,7 Prozent des BIP – ein Rekordwert.

Offizielle russische Stellen bezeichnen jedoch Warnungen vor einer russischen Bedrohung als „haltlose Propaganda“. Der Westen schüre ein Feindbild zur Legitimation seiner eigenen steigenden Rüstungsausgaben. Kreml-Sprecher Peskow betonte hingegen die defensive Ausrichtung der russischen Streitkräfte. Die Behauptung, Russland bereite einen Angriff auf einen NATO-Staat vor, entbehre „jeglicher Grundlage und sei Teil einer gezielten Desinformationskampagne“.

Niemand kann bestreiten, dass die Ukraine sich gegen den russischen Angriff so gut wie nur möglich verteidigen können muss und dazu auch unterstützt werden sollte. Es ist aber auch richtig, dass der Westen drei Jahre lang weder die Kraft noch den Willen aufgebracht hat, die Ukraine durch eine Friedensvereinbarung zu schützen. Vielmehr wurde der Krieg in der Illusion, die Ukraine könnte einen militärischen Sieg erringen, ohne eine Friedensstrategie genährt und verlängert.

Die Perspektive der US-Amerikaner
Die Doppelstrategie aus Verteidigungsfähigkeit und politischer Entspannung in den 70er und 80er Jahren hat Europa lange Zeit Sicherheit und Frieden gebracht. Ein Rüstungswettlauf verschärft dagegen die ohnehin angespannte Lage, denn ein Rüstungswettlauf kennt keine Sieger, sondern ist der kürzeste Weg zum Krieg. Deshalb ist entscheidend: Verfügt Russland über die Fähigkeit zu einem erfolgreichen Angriff auf Westeuropa, also auf die NATO? Welches wären die strategischen Ziele, und hat die russische Führung die Absicht, diese durch Krieg zu erreichen? Oder handelt es sich um Einschätzungen, ohne dass es dafür belegbare Erkenntnisse gibt?

Die US-Nachrichtendienste kamen 2024 wie bereits zuvor in ihrer offiziellen Bedrohungsanalyse zu einem anderen Schluss: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO und wird seine asymmetrischen Aktivitäten unterhalb der Schwelle eines militärischen Konflikts weltweit fortsetzen.“ Die aktuelle Bedrohungsanalyse vom März 2025 bestätigt die Feststellung, dass Russland auch weiterhin in der Lage sein wird, beispielsweise Desinformation, Spionage, Einflussoperationen oder Cyberangriffe einzusetzen, „um zu versuchen, unterhalb der Ebene eines bewaffneten Konflikts zu konkurrieren und Möglichkeiten zur Förderung russischer Interessen zu schaffen“.

Warum also bewertet die deutsche Politik die strategischen Fähigkeiten und Absichten Russlands anders als die USA? Die Umstellung auf Kriegswirtschaft und die erhöhte Produktion von konventionellen Waffensystemen während des Krieges belegen nicht zwingend, dass Russland die Fähigkeit anstrebt, in wenigen Jahren einen Eroberungskrieg gegen die NATO erfolgreich führen zu können und dazu auch die Absicht hat.

Das bedeutet jedoch nicht, dass ein großer europäischer Krieg völlig ausgeschlossen ist. Vielmehr ist das Risiko, das aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine entsteht, permanent gestiegen. Dazu hat auch das alternativlose finanzielle und materielle Engagement der NATO-Staaten beigetragen, vor allem die operative Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte in der Operationsplanung, Aufklärung und Zielbekämpfung durch in Deutschland stationierte amerikanische Streitkräfte. Präsident Biden hat wiederholt die Absicht geäußert, den Dritten Weltkrieg zu vermeiden, weil er das Risiko sah, dass die USA in den Krieg hineingezogen werden könnten.

Ein Krieg zwischen Russland und NATO wäre ein anderer als in der Ukraine
Die Kriegsrhetoriker denken offenbar in den Kategorien des Ukrainekriegs, einer Mischung aus Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs und einem Bewegungskrieg in der Art des Zweiten Weltkriegs. Die US-amerikanische Regierung ist allerdings überzeugt, dass Russland für die Rekonstitution und den Aufwuchs der Landstreitkräfte bis zu zehn Jahre braucht. Dieser Zeitraum entspricht den Erfahrungen aus umfassenden Streitkräftereformen.

Zudem wäre ein Russland-NATO-Krieg ein anderer als der, den wir seit drei Jahren in der Ukraine sehen. Russlands militärische Fähigkeiten zu regionaler und globaler Machtprojektion sind durch den Ukrainekrieg nicht beeinträchtigt worden. Die Luft- und Seestreitkräfte sind uneingeschränkt einsatzfähig und teilweise sogar wesentlich moderner und leistungsfähiger als zuvor. Weitreichende Präzisionsangriffssysteme, einschließlich verschiedener Hyperschallwaffen und Raketen mit unabhängig steuerbaren Gefechtsköpfen, stellen ein überlegenes Potential für eine Kriegführung über große Distanzen dar.

Möglicherweise ist die gegenwärtige Kriegsrhetorik ja nicht nur der Versuch, das bisherige Narrativ zum Kriegsverlauf zu rechtfertigen, sondern auch zu begründen, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun müssen. Das ist jedoch unnötig. Unsere Verfassung schreibt in Artikel 87a ganz klar vor: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Daraus folgt, dass die Bundeswehr über die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung verfügen muss. Aber 2011 wurde mit der „Neuausrichtung der Bundeswehr“ eine Reform durchgeführt, deren Ergebnis die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung und die Reduzierung der militärischen Fähigkeiten auf Auslandseinsätze bedeutete. Begründet wurde diese Fehlentscheidung damals damit, dass sich das Verhältnis zu Russland positiv entwickelt hätte und ein konventioneller Angriff auf Europa und Deutschland nach wie vor unwahrscheinlich sei.

Das Ergebnis und der damit verbundene Verfassungsbruch wurden 14 Jahre hingenommen. Die dafür verantwortlichen Parteien bilden nun eine neue Regierung und übernehmen die Verantwortung, die gravierende Fehlentwicklung zu korrigieren. Es ist nicht notwendig, diesen Kurswechsel mit einer Bedrohung zu begründen. Es reicht zu tun, was die Verfassung verlangt. Am besten, indem wir dazu beitragen, dass in Europa ein militärisches Gleichgewicht entsteht, denn dann verspürt niemand ein Interesse, einen Angriffskrieg zu wagen.

Der Weg zur Verständigung
Ein Gleichgewicht der Kräfte ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Frieden. Es muss politisch stabilisiert werden, indem man mit der anderen Seite redet, um ihre Interessen, Absichten und Fähigkeiten besser einschätzen zu können. Hinzukommen müssen Abrüstungsverträge, Rüstungskontrolle und vertrauensbildende militärische Maßnahmen mit dem Ziel eines Gleichgewichts auf möglichst niedrigem Niveau. Dadurch werden politische Verhältnisse geschaffen, die – wie es Helmut Schmidt formulierte – die Vorhersehbarkeit des politischen Handelns ermöglichen.

Genau das ist jedoch das Problem der deutschen Politik. Die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung wurde wegen einer falschen Beurteilung der herrschenden Rahmenbedingungen aufgegeben – wohl aus Mangel an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen. Es darf jedoch nicht passieren, dass dieser Fehler durch Missachtung der US-Bedrohungsanalyse wiederholt wird. Vielmehr sollte sich die deutsche Außenpolitik das Ende des Ukrainekrieges sowie eine gerechte und dauerhafte europäische Sicherheits- und Friedensordnung als vorrangige Ziele setzen.

General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.


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