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Über jüngste russische Offensivvorstöße im Ukrainekrieg, die fragwürdige Unterstützungsbereitschaft im Westen und die mögliche Wiedereinsetzung der Wehrpflicht in Deutschland
Seit Ausbruch des Ukrainekrieges befragt die PAZ in unregelmäßigen Abständen den früheren Generalinspekteur der Bundeswehr zum Stand der Dinge. Auch diesmal zeichnet er ein deutlich nüchterneres Bild als die meisten deutschen Medien.
Herr Kujat, als wir uns zuletzt im Herbst unterhielten, sagten Sie, dass die Russen nach dem Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive ihrerseits im Winter, wenn die Böden gefroren sind, zu einer Offensive übergehen könnten. Tatsächlich waren in den Tagen vor Weihnachten russische Angriffsaktivitäten zu beobachten. Ist das die erwartete Offensive?
Die Russen gehen anders vor als die Ukrainer. Sie agieren aus ihrer strategischen Defensive schrittweise, fast tastend, wodurch ihre Verluste deutlich geringer sind als die der Ukrainer. Aber seit Anfang Dezember sind eindeutig Vorstöße erkennbar. Ein erster, eher symbolischer Erfolg ist die Einnahme von Marjinka, ein Vorort von Donezk. Das liegt auf der Linie der russischen Strategie, die von Präsident Putin im September 2022 annektierten Verwaltungsgebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson einzunehmen. Insofern ist mit weiteren russischen Vorstößen zu rechnen, aber eben schrittweise.
Wie schätzen sie die Erfolgsaussichten des jetzigen Vorgehens der Russen ein?
Ich halte es für wahrscheinlich, dass es ihnen gelingen wird, die vier genannten Regionen vollständig zu erobern. Ob sie darüber hinaus versuchen werden, auch Odessa und Charkiw einzunehmen, ist für mich noch nicht klar. Beides würde strategisch Sinn ergeben: Odessa, weil die Russen damit den Zugang der Ukraine zum Schwarzen Meer kappen würden, und Charkiw, weil es ein bedeutendes Zentrum ist. Ich plädiere deshalb seit geraumer Zeit für einen Waffenstillstand und einen Verhandlungsfrieden. Je länger es dauert, bis dieser zustande kommt, umso größer ist das Gebiet, das Russland dann besetzt halten und nicht mehr herausgeben wird.
Haben die Russen überhaupt die Kräfte für größere Offensivvorstöße? Laut den meisten deutschen Medien sind sie immer kurz vor dem Ende.
Viele Journalisten – und auch Politiker – lassen sich in ihren Aussagen von dem Wunsch leiten, dass die Ukraine gewinnen muss. Doch ändert dies nichts an der realen Lage. Die russischen Streitkräfte sind heute wesentlich stärker als zu Beginn des Krieges.
Russland hat seit Kriegsbeginn einmal, im Herbst 2022, eine große Mobilisierungswelle durchgeführt und dadurch etwas über 300.000 frische Kräfte rekrutiert. Die Ukraine hingegen hat mehrere Mobilisierungswellen durchgeführt und muss nun erneut eine größere Mobilisierung durchführen, ein offenes Eingeständnis der schweren Verluste. Genaue Zahlen nennt natürlich keine Seite. Doch die Tatsache, dass Russland sogar eine neue Armee aufstellen konnte, während die Ukraine nun versucht, die ins Ausland geflohenen Wehrpflichtigen zu requirieren, weil das Personal im eigenen Land nicht ausreicht, lässt klare Rückschlüsse auf die Lage der beiden Kriegsparteien zu.
Dennoch konnte die Ukraine zum Jahreswechsel die Zerstörung eines russischen Kriegsschiffes auf der Krim vermelden, was von einigen Kommentatoren umgehend als „möglicher Wendepunkt“ gewertet wurde.
Natürlich sind die ukrainischen Streitkräfte – wie jede unterlegene Armee in anderen Kriegen auch – weiterhin in der Lage, dem Gegner Verluste zuzufügen. Doch ändert dies nichts an der strategischen Lage, dass sie nicht mehr fähig sind, einen offensiven Landkrieg zu führen. Deshalb hat sich die Ukraine jetzt offensichtlich zu einer Guerillataktik entschlossen, mit Sabotageakten, Attentaten und Angriffen auf russische Züge und Tunnel.
Fakt ist, dass die militärische Lage der Ukraine nach fast zwei Jahren Krieg und einer mit großen Erwartungen verbundenen, aber letztlich doch gescheiterten Offensive kritisch ist. Hinzu kommt, dass die Unterstützung im Westen bröckelt. Der US-Kongress ist bislang nicht bereit, weitere für die Ukraine vorgesehene 61 Milliarden Dollar freizugeben. Auch das von der EU geplante 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket ist nicht freigegeben. Zudem gärt es inzwischen auch in der Ukraine, die Unterstützung für Präsident Selenskyj ist deutlich gesunken. Und die Spannungen zwischen ihm und dem militärischen Oberbefehlshaber, General Saluschnyj, sowie dem Bürgermeister Kiews, Klitschko, steigen.
Sie hatten unseren Lesern im Sommer das russische Konzept der strategischen Defensive erläutert, zu dem ein tief gestaffeltes Verteidigungssystem gehört, das für die Angreifer kaum überwindbar ist und ihnen zugleich hohe Abnutzungsverluste zufügt. Ist die Ukraine nun ihrerseits zu solch einer strategischen Defensive in der Lage, um die russischen Angriffe aufzuhalten?
Russland hatte bis zum Beginn der ukrainischen Offensive viel Zeit, seine tief gestaffelten Verteidigungslinien mit Minen, befestigten Unterständen und Panzersperren auszubauen. Die ukrainischen Streitkräfte hingegen waren in den letzten Monaten in der Offensive – und somit nicht in der Lage, eine massive Verteidigungslinie zu errichten. Deshalb können sie ihre Verteidigung zunächst nur als Verzögerungsgefecht führen, um so die Dynamik des Angriffs der Russen zu reduzieren und deren Vorstoß zu verlangsamen; nicht zuletzt, um Zeit für den Ausbau fester Verteidigungsstellungen zu gewinnen.
Sie haben bereits erwähnt, dass der US-Kongress bis dato weitere Militärhilfen für die Ukraine verweigert. Halten Sie in dieser Frage noch eine Bewegung für möglich, oder wird der wichtigste Unterstützer der Ukraine schon bald ausfallen?
Das ist schwierig zu beurteilen. Schon jetzt ist absehbar, dass der Krieg Gegenstand des Wahlkampfs für die nächste Präsidentschaftswahl sein wird. In wenigen Tagen starten in Iowa die Vorwahlen der Republikaner. Deren aussichtsreichster Bewerber Donald Trump hat wiederholt erklärt, im Falle einer erneuten Wahl den Krieg durch die Einstellung aller US-Hilfen umgehend zu beenden.
Selbst Präsident Joe Biden scheint unsicher, ob er seine Zusagen auf Dauer halten kann. Sagte er im Dezember 2022 beim Selenskyj-Besuch in Washington noch, die USA würden die Ukraine „as long as it takes“ („so lange wie notwendig“) unterstützen, sprach er zuletzt angesichts der Haushaltslage davon, Kiew „as long as we can“ („so lange, wie wir können“) zu unterstützen. Das ist ein gravierender Unterschied.
Hinzu kommt, dass die USA mit anderen Konflikten konfrontiert sind, etwa dem Nahostkrieg und dessen mögliche Ausweitung auf den Libanon oder sogar einem militärischen Konflikt mit dem Iran. Zudem hat der Ukrainekrieg die Rivalität mit China und die Risiken eines Krieges um Taiwan vergrößert. Ein Blick in den US-Verteidigungsetat für 2024 zeigt deutlich, dass sich die Amerikaner künftig verstärkt dieser Herausforderung zuwenden. Der damalige Befehlshaber des US-Strategic Command, Admiral Charles Richard, bezeichnete im vergangenen Jahr den Ukrainekrieg „als das Aufwärmen“, in einem Konflikt mit China würden die USA „auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben“.
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat unlängst als Reaktion auf die weltpolitische Lage gefordert, dass unsere Streitkräfte wieder „kriegstüchtig“ werden müssten. Wie schätzen Sie die Lage der Bundeswehr ein?
Es stimmt, dass die Bundeswehr nicht in der Lage ist, einen substantiellen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten – und das schon seit über zwölf Jahren, seit der „Neuausrichtung“ von 2011. Diesen Irrweg gilt es – unabhängig von irgendwelchen Bedrohungsszenarien – zu korrigieren und die Bundeswehr wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO zu befähigen. Die Erfüllung des Verfassungsauftrags, Frieden, Freiheit, Sicherheit und territoriale Integrität zu schützen und zu bewahren, reicht vollkommen aus.
Eine feste Säule der Landesverteidigung in Deutschland war seit den Befreiungskriegen bis zu ihrer Aussetzung 2011 die Wehrpflicht. Brauchen wir auch eine Debatte über deren Wiedereinsetzung?
Wir brauchen vor allen Dingen eine ehrliche Debatte darüber. Ich möchte an ein Wort des großen preußischen Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst erinnern: „Alle Bürger eines Staates sind geborene Verteidiger desselben.“
Die Wehrpflicht ist ausschließlich aus finanziellen Gründen ausgesetzt worden. Einer ihrer großen Vorteile ist, dass wir durch sie nicht nur zahlenmäßig die benötigten Soldaten für die Regeneration der Streitkräfte bekommen, sondern auch die richtigen Leute. Die Wehrpflichtigen kannten die Truppe – und die Einheiten der Bundeswehr kannten die Bewerber. Beide Seiten wussten also, ob sie zueinander passten. Nur die Wehrpflicht sichert durch ein leistungsfähiges Reservistenpotential und eine aufwuchsfähige Streitkräftestruktur dauerhaft den erforderlichen Verteidigungsumfang.
Zur Debatte über die Wehrpflicht gehört allerdings auch die Frage, wie diese gestaltet wird. Immer wieder wird das schwedische Modell genannt, bei dem alle Wehrpflichtigen gemustert werden, jedoch nur ein bestimmter Teil eingezogen wird. In Schweden hat sich das Modell bewährt. Ob es in Deutschland durchsetzbar ist, muss geprüft werden.
Wie schätzen Sie die Debattenkultur zum Thema Sicherheitspolitik in Deutschland ein? Hat sich das Bewusstsein dafür seit Ausrufung der „Zeitenwende“ durch den Bundeskanzler verbessert?
Ich denke, dass sich die Dinge eher zum Negativen entwickelt haben. Obwohl es bei Krieg und Frieden um elementarste Fragen geht, herrscht in Politik und Medien eine erschreckende Eindimensionalität und ein großes Kompetenzdefizit vor, das oft einhergeht mit einer ideologischen Verengung.
Obwohl kein ernsthafter westlicher militärischer Führer jemals gesagt hat, dass die Ukraine Russland militärisch besiegen könne – US-General Milley, der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, erklärte bereits im November 2022, dass die ukrainischen Streitkräfte erreicht haben, was sie vernünftigerweise auf dem Schlachtfeld erwarten konnten, und dass die Ukraine deshalb versuchen sollte, dieses Ergebnis am Verhandlungstisch zu sichern – wird insbesondere in Deutschland diese These noch immer vehement vertreten und die Ukraine bedenkenlos darin bestärkt, bis zum bitteren Ende weiterzukämpfen. Nach wie vor wird auch der Unsinn verbreitet, die Ukraine verteidige unsere Freiheit und Sicherheit. Und seit sich Informationen über die wahre militärische Lage durchsetzen, wird nun „das Ende der Welt, wie wir sie kennen“ prophezeit und gesagt, wenn Russland den Krieg gewönne, „wäre niemand in Europa mehr sicher“.
Wie oben bereits angedeutet, rechne ich in den nächsten Monaten mit einer grundlegenden Änderung der US-amerikanischen Ukrainestrategie. Biden kann nicht riskieren, dass ein Misserfolg in Osteuropa seine Wiederwahl gefährdet. Deshalb gehe ich davon aus, dass die USA ohne große öffentliche Resonanz von der Unterstützung des Ziels eines ukrainischen militärischen Sieges über Russland abrücken und stattdessen die Verbesserung der Ausgangslage für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges anstreben. Auch wenn ein Waffenstillstand eine Teilung des Landes bedeuten würde, könnten die Amerikaner dann behaupten, Putin gestoppt zu haben. Und immerhin wäre dies ein Ansatz, der hoffen ließe, dass sich endlich die Vernunft durchsetzt, auch wenn es noch ein langer, hindernisreicher Weg zu einer dauerhaften Friedenslösung ist.
Das Gespräch führte René Nehring.
• General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
Ralf Pöhling am 23.01.24, 16:59 Uhr
Nicht alles ist wie es scheint. Eine ehrliche öffentliche Debatte ist derzeit aus strategischen Gründen unmöglich.
Wir müssen aber zusehen, dass die Hinterzimmerdiplomatie nicht abreißt und alle Beteiligten zumindest auf der Entscheidungsebene voll aufgeklärt sind. Sonst geht das schief.
sitra achra am 05.01.24, 18:30 Uhr
Wie naiv muss man sein zu glauben, dass man durch Verhandlungen mit dem Aggressor, die die Aufteilung der Ukraine zur Grundlage haben, den Frieden in Europa wiederherstellen kann? Wie töricht ist das denn?
Die russische Dampfwalze wird weitermarschieren (bis alles in Scherben fällt) und sich auch nicht von der heldenhaften Bundeswehr stoppen lassen. Stalingrad 2.0 wird noch um Etliches härter ausfallen.
Ich stelle schon mal den Wodka kalt, denn es wird nicht allzu lange dauern bis Eurogeddon.
Und das alles, weil man auf eine dubiose Führungsmacht vertraut, die selbst nicht in der Lage ist, ihre Interessen in Europa und der gesamten Welt (s.Korea) zu vertreten.
Da ist es einfacher, die Ukraine in die Rappuse zu geben, kostet ja fast nichts, höchstens ein wenig Prestige.
An diese unsägliche Schande für den Wertewesten wird sich später kaum noch jemand interessieren, dafür sorgen schon die MSM.
Dr. Holz Michael am 05.01.24, 14:19 Uhr
Der Ex-NATO-General hat es endlich, nach Fehleinschätzungen, begriffen, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann. Die "Cowboys" wollten bis zum letzten Ukrainer kämpfen, aber dieser Wunsch ist im Colt-Duell auf der Straße nach Moskau beendet worden. Wer hat die Russen bei Minsk II und III betrogen? Es war Merkel und der damalige französische Präsident, mit Billigung von Uncle Sam.
Rolf Kunz am 05.01.24, 13:26 Uhr
Es wäre besser gewesen vom Westen den ordentlich gewählten Präsidenten 2014 nicht durch Gewalt zu stürzen, sondern noch bis zu den nächsten Parlamentswahlen zu warten. Durch den Putsch kamen nämlich extreme Kräfte ans Ruder, welche die rund 5,8 Millionen ethnischen Russen in der Ostukraine diskriminierten, worauf diese ihre Unabhängigkeit erklärten. Darauf folgte der Bürgerkrieg.
Gregor Scharf am 05.01.24, 13:16 Uhr
Herr Kujat im Text: ,,Obwohl es bei Krieg und Frieden um elementarste Fragen geht, herrscht in Politik und Medien eine erschreckende Eindimensionalität und ein großes Kompetenzdefizit vor, das oft einhergeht mit einer ideologischen Verengung."
Diese Erkenntnis hat die Mehrzahl der Bevölkerung innerhalb Deutschlands seit zwei Jahrzehnten und betrifft nahezu alle Bereiche der Wirtschaft, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Wohnungswirtschaft, soziale Ungerechtigkeiten . . . Unser Hauptprobem ist nicht die Ukraine oder die Bedrohung durch Russland. Unser Sicherheitsrisiko ist die Bundesregierung mitsamt ihrer völlig verfilzten und lebensfremden Struktur.