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Über die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs auf die NATO, Chinas kommende dominante Rolle in der Welt und weitere Unruheherde – und wie sich Deutschland zu all dem verhalten sollte
Neben dem Krieg im Osten Europas bedrohen zahlreiche weitere Krisen- und Konfliktherde die internationale Sicherheit. Zeit für eine Einordnung der Entwicklungen und für eine Einschätzung dessen, was da gerade auf uns zukommt.
Herr Kujat, in den letzten Wochen häufen sich die Warnungen vor einem Angriff Russlands auf die NATO, etwa durch Verteidigungsminister Boris Pistorius und BND-Chef Bruno Kahl. Wie schätzen Sie die Gefahr eines heißen Konflikts mit Russland ein?
Diese Warnungen, die es ja nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas gibt, stammen vor allem von zivilen Experten. Sie argumentieren im Wesentlichen, dass Russland in fünf bis sechs Jahren in der Lage wäre, einen oder mehrere NATO-Staaten anzugreifen.
Im Grunde beruhen die Warnungen auf der Erkenntnis, dass Russland längst nicht so schwach ist, wie es zu Beginn des Ukrainekriegs den Anschein hatte, und dass die Ukraine im schlimmsten Fall den Krieg verlieren könnte. Russland verbliebe danach ein Zeitfenster, um seine Verluste auszugleichen und durch die Erhöhung des Verteidigungshaushaltes und die Umstellung der Industrie auf eine Kriegswirtschaft die Voraussetzungen für einen solchen Angriff zu schaffen – während der Westen noch nicht einmal in der Lage sei, der Ukraine die zugesagte Munition zu liefern.
Allerdings habe ich bislang keinen konkreten Beleg dafür gesehen, dass Russland tatsächlich die Absicht hat, NATO-Staaten anzugreifen. Dass ein kriegführendes Land seine militärische Durchhaltefähigkeit erhöht, ist nicht ungewöhnlich. Zudem sieht sich Russland in einem Stellvertreterkrieg mit den USA und ihren Verbündeten und rechnet offenbar damit, dass NATO-Streitkräfte möglicherweise direkt eingreifen würden, um eine totale Niederlage der Ukraine abzuwenden.
Besäße denn Russland überhaupt die Fähigkeit für die Durchführung eines solchen Angriffs?
Wenn ich mir die gegenwärtigen militärischen Fähigkeiten Russlands und der NATO ansehe, komme ich zu dem Ergebnis, dass Russland nicht in der Lage wäre, einen konventionellen Krieg gegen die NATO erfolgreich zu führen. Allerdings wäre umgekehrt die NATO auch nicht in der Lage, einen solchen Angriff aus dem Stand abzuwehren.
Die Vereinigten Staaten haben in der Zeit des Kalten Krieges einen erheblichen Beitrag zur konventionellen Verteidigung Europas geleistet, sind jedoch seit Langem nur mit einem geringen Umfang an Kampftruppen auf unserem Kontinent präsent. Im Falle eines russischen Angriffs wären die Europäer also weitgehend auf sich allein gestellt. Die Zuführung amerikanischer Verstärkungen würde vier bis sechs Monate brauchen, bis sie hier auf dem Gefechtsfeld eintreffen.
Aber diese Zeit wäre ja gegeben, wenn man die Annahmen zugrunde legt, dass Russland erst in wenigen Jahren zu einem Angriff in der Lage wäre.
Das ist genau der entscheidende Punkt! Das würde nämlich bedeuten, dass auch die Amerikaner die Lage so beurteilen wie diejenigen Europäer, die derzeit vor einem russischen Angriff warnen. Doch das kann ich nicht erkennen. In den USA wird die Situation längst nicht so dramatisch beurteilt wie in Europa. Würden die Amerikaner eine Kriegsgefahr für Europa sehen, müssten sie sich umgehend darauf einstellen und ihre eigene Präsenz auf unserem Kontinent wieder verstärken sowie militärische Ausrüstung und Waffen in europäischen Depots lagern, damit schnell eingeflogene Kampftruppen sofort ihre Verteidigungsräume beziehen können. Das tun sie aber nicht. Im Gegenteil zeigt der amerikanische Verteidigungshaushalt eine eindeutige Schwerpunktverlagerung auf einen potentiellen Krieg mit China.
Sind also die europäischen Warnungen übertrieben?
Ganz so ist es auch nicht. Ich verstehe in gewisser Weise die drei baltischen Staaten. Diese sind wie die Ukraine ehemalige Sowjetrepubliken mit einem hohen Anteil an russischsprachiger Bevölkerung. Und da sie bereits zweimal – unter Stalin und auch schon zu Zeiten der Zaren – in das russische Reich gezwungen worden waren, halte ich ihre Sorge, dass sich das wiederholen könnte, für berechtigt. Insbesondere auch deshalb, weil sie sich bewusst sind, was die sogenannte Medwedew-Doktrin für sie bedeuten könnte. Denn die besagt, dass „der Schutz des Lebens und der Würde“ russischer Bürger, „wo immer sie auch sein mögen, eine unbestreitbare Priorität“ Russlands ist. Das muss jedoch nicht heißen, dass es auch tatsächlich konkrete Pläne auf russischer Seite gibt.
Eine wichtige Frage ist letztlich, ob ein russischer Angriff praktisch möglich wäre. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass Russland die Ukraine erobert, um von dort aus weiter nach Westen vorstoßen zu können. Bisher ist jedoch nicht erkennbar, dass Russland dazu in der Lage ist oder auch nur die Absicht dazu hat. Bei seinem Angriff im Februar 2022 hat Russland etwa 190.000 Soldaten gegen eine mehr als doppelt so starke ukrainische Streitmacht eingesetzt, die vom Westen hervorragend ausgebildet und ausgerüstet worden war. Dass damit die Eroberung der Ukraine unmöglich war, musste auch der russischen Führung klar sein. Im Zuge der Istanbuler Friedensverhandlungen Ende März 2022 hat Russland dann aufgrund des für beide Seiten positiven Verlaufs und als Zeichen des guten Willens seine Truppen aus den eroberten Gebieten um Kiew abgezogen und den vollständigen Rückzug auf den Stand vor Angriffsbeginn vertraglich zugesichert.
Insofern gehe ich davon aus, dass der Angriff auf die Ukraine nicht Teil eines imperialen Plans zur Rückeroberung des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches beziehungsweise darüber hinaus ganz Europas ist. Es geht Moskau offenbar vielmehr darum, die Ausweitung der NATO durch die Mitgliedschaft der Ukraine bis an die russische Grenze zu verhindern. Russland hat bereits Mitte der neunziger Jahre das Ziel einer strategischen Pufferzone zur NATO – eines „Cordon sanitaire“ – verfolgt und diese Idee seit einiger Zeit wieder in der Form einer entmilitarisierten Zone auf ukrainischem Territorium aufgebracht.
Dennoch besteht seit zwei Jahren das Faktum, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Hinzu kommt, dass Russland mit einem Einmarsch etwa in die baltischen Staaten und der Einsetzung prorussischer Regierungen ja auch seine Distanz zur NATO vergrößern würde.
Die baltischen Staaten sind NATO-Mitgliedstaaten, die eine gemeinsame Grenze mit Russland haben. Übrigens war die Grenze zwischen Estland und Russland lange Zeit strittig. Deshalb sage ich auch, dass die Sorgen der Balten keineswegs unbegründet sind, ich erkenne nur derzeit weder konkrete Angriffsvorbereitungen noch Angriffsabsichten der Russen.
Unabhängig von den sich immer wieder verändernden sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen sollten alle Mitgliedstaaten der NATO einen angemessenen Beitrag zur kollektiven Verteidigung leisten, um ihre Freiheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität gemeinsam zu gewährleisten. Ich frage mich in letzter Zeit oft, wie Helmut Schmidt auf die gegenwärtige Sicherheitslage in Europa reagieren würde. Er würde wohl sagen, dass ein militärisches Gleichgewicht ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element ist, den Frieden zu sichern. Hinzukommen muss das Bemühen, das militärische Gleichgewicht politisch zu stabilisieren. Hinzukommen muss auch der Wille, mit der anderen Seite zu reden und auf ihre Interessenlage einzugehen. Hinzukommen müssen nicht zuletzt Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen sowie Vereinbarungen über größere Transparenz und militärische vertrauensbildende Maßnahmen.
Sowohl auf der militärischen wie auf der politischen Seite liegt seit dem Beginn dieses Jahrhunderts einiges im Argen.
Zum Beispiel?
Ich erinnere daran, dass in den neunziger Jahren eine enge politische Abstimmung und militärische Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland entstanden war. Einige NATO-Staaten sahen darin die Chance, ihre Verteidigungsaufwendungen deutlich zu reduzieren. Obwohl die NATO sehr früh begann, dieser Entwicklung entgegenzusteuern, beispielsweise mit einer neuen, funktionalen Kommandostruktur, der NATO-Response Force zur Verbesserung der Interoperabilität und für eine schnelle Reaktion in einem Konfliktfall, oder indem ein ständiger Schutz des Luftraums der baltischen Staaten durch Kampfflugzeuge der Verbündeten geschaffen wurde, hat dieser Trend noch bis vor zwei Jahren angehalten. Sogar das selbstgesetzte Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben aufzuwenden, wurde lange Zeit nicht von allen Mitgliedstaaten erfüllt. Die Bundesregierung hat 2011 sogar eine Bundeswehrreform durchgeführt, mit der die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung aufgegeben wurde, weil eine konventionelle Bedrohung Europas und Deutschlands nicht gegeben sei und die Beziehungen zu Russland sich positiv entwickelt hätten.
Allerdings hat der Westen im Hinblick auf die Notwendigkeit, ein bestehendes militärisches Gleichgewicht politisch zu stabilisieren, ein argumentatives Problem. Denn es waren die USA, die vertragliche Vereinbarungen, die lange zu einer Stabilisierung der Lage beitrugen, einseitig aufgekündigt haben. Sie haben den ABM-Vertrag gekündigt, der für das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland äußerst wichtig war, und gleichzeitig mit der NATO in Europa ein Raketenabwehrsystem aufgebaut, das zwar nicht als Aggression gegen Russland geplant wurde, jedoch durchaus als Bedrohung der russischen nuklearen Zweitschlagsfähigkeit verstanden werden kann. Auch der INF-Vertrag und der Vertrag über den Offenen Himmel, ein wichtiges Instrument zu mehr Transparenz und Vertrauensbildung, wurden gekündigt. Damit wurde ein wesentlicher Teil des politischen Sicherungsnetzes beseitigt, das seit den 1970er Jahren geknüpft worden war.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die US-Amerikaner die Entspannungsmechanismen aufgekündigt haben? Denn es ist ja auch nicht so, dass sie im Gegenzug eine Aufrüstung betrieben hätten.
Die USA haben den Rückzug der Sowjetunion auf das russische Kernland, die Auflösung des Warschauer Paktes und den Fortbestand der NATO sowie die Wiedervereinigung Deutschlands als NATO-Mitgliedstaat als Sieg im Kalten Krieg und als Triumph über den systemischen Gegner verstanden. Sie glaubten, auf die russischen Interessen nicht mehr Rücksicht nehmen zu müssen und versuchten, ihren Einfluss insbesondere in Georgien und der Ukraine auszuweiten.
Dagegen waren die engen wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu Russland auch vor dem Hintergrund des russisch-chinesischen Schulterschlusses nicht im amerikanischen Interesse. Denn es wurde immer deutlicher, dass China zur nächsten Supermacht aufsteigen und zu einem ernst zu nehmenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Rivalen der USA werden könnte.
Im Verhältnis zwischen den USA und China spitzt sich die Lage ebenfalls zu. China meldet sowohl den Führungsanspruch für die Region Südostasien als auch einen Anspruch auf Taiwan an. Wie groß sehen Sie hier die Gefahr eines heißen Konfliktes?
Auch hier gilt es, manches zu differenzieren. Peking sagt, es gibt nur ein China, und hat im Grunde sogar einen UN-Beschluss vom Oktober 1971 auf seiner Seite, demzufolge die Volksrepublik als einzige Vertretung des chinesischen Volkes bei den Vereinten Nationen anerkannt ist. Staatspräsident Xi Jinping hat deutlich erklärt, dass seine Regierung eine friedliche Wiedervereinigung anstrebe, zugleich jedoch keine Verpflichtung zu einem Gewaltverzicht bestünde.
Wäre denn China überhaupt zu einer Invasion Taiwans in der Lage? Immerhin braucht man dafür kombinierte Fähigkeiten zu Wasser, zu Lande und in der Luft.
Das stimmt. Die Chinesen haben die Fähigkeiten für eine Eroberung Taiwans noch nicht, aber sie arbeiten daran. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Landes und seiner Armee bestehen jedoch keine Zweifel, dass sie das auch in absehbarer Zeit erreichen werden.
Eine Frage ist natürlich, was die Amerikaner tun könnten, um eine chinesische Invasion Taiwans zu verhindern. Nach meiner Auffassung – diverse US-Strategen sehen es ähnlich – wären sie dazu nicht in der Lage. Allerdings ist auch nicht davon auszugehen, dass die Vereinigten Staaten überhaupt bereit sind, das Risiko eines Krieges um Taiwan einzugehen. Nicht zuletzt, weil China nicht nur wirtschaftlich eine Supermacht ist, sondern auch militärisch aufgeholt hat und mit seinen Nuklearraketen inzwischen US-amerikanisches Festland erreichen kann.
Was diesen Konflikt besonders macht ist die gegenseitige Abhängigkeit. China ist so etwas wie die Werkbank US-amerikanischer IT-Unternehmen, im Gegenzug sind die USA Chinas wichtigster Kunde.
So ist es in der Tat. China und die USA sind einerseits Gegner und andererseits Partner. Deshalb versuchen die Chinesen auch, ihren strategischen Rivalen USA auf anderen Feldern zu schwächen. So arbeiten sie seit Jahren daran, den US-Dollar als Weltleitwährung abzulösen und durch eine eigenständige Währungsordnung zu ersetzen. Diese Bemühungen waren lange kaum erfolgreich, allerdings scheinen die Chinesen in jüngster Zeit Fortschritte dabei zu machen.
Entscheidend wird unter anderem sein, inwieweit sich der Block der BRICS-Staaten aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, der zu Jahresbeginn um Ägypten, Äthiopien, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und sogar den alten US-Verbündeten Saudi-Arabien zu BRICS+ erweitert wurde und inzwischen 3,6 Milliarden Einwohner hat, zu einem einheitlichen Währungsraum entwickelt und das chinesische Interbankensystem sich als Alternative zum westlichen SWIFT-System etabliert. Dass der Westen seine Vorherrschaft auf den Finanzmärkten als Waffe genutzt und etwa Russland von seinen Kapitalreserven abgeschnitten hat, könnte ein Impuls für viele Länder sein, künftig ihre Reserven zumindest teilweise einem nichtwestlichen System anzuvertrauen. Zudem verfügen die BRICS+-Staaten mit der New Development Bank über ein multinationales Finanzinstitut, das bewusst als Gegengewicht zur Weltbank gegründet wurde.
Fakt ist, dass wir auf eine neue Teilung der Welt in zwei antagonistische Blöcke zusteuern: auf der einen Seite der Block aus den USA und den europäischen NATO-Verbündeten sowie auf der anderen Seite die BRICS+-Organisation, der neben China mit Indien eine weitere kommende Supermacht angehört. Hinzu kommt, dass über 40 Staaten aus Asien, Afrika und Amerika ein Interesse an einer BRICS+-Mitgliedschaft geäußert und 22 Staaten einen offiziellen Mitgliedsantrag gestellt haben. Falls Mexiko, das bislang zu den Interessenten zählt, beitreten sollte, würde BRICS+ sogar direkt bis an die Grenzen der USA vorrücken.
Wir sehen also, dass China insgesamt eine kluge und erfolgreiche Politik betreibt. Es hält sich auch aus Kriegen wie dem in der Ukraine heraus, selbst wenn klar ist, dass es auf der Seite der Russen steht. Es liefert keine Waffen und hat sogar einen interessanten Vorschlag zur Lösung des Konflikts unterbreitet. Und so geraten die Chinesen in eine Position, in der sie mit vergleichsweise geringem Aufwand immer mehr zu einem ausschlaggebenden Faktor in globalen Konflikten werden – während die Amerikaner an zahllosen Krisenherden präsent und dort mit großen personellen und finanziellen Ressourcen gebunden sind.
Zwischen Europa und China liegt bekanntermaßen der Nahe Osten. Dieser ist Schauplatz gleich mehrerer Konflikte: Israel kämpft gegen den Terror der Hamas. Und vom Jemen aus attackieren Huthi-Verbände im Golf von Aden und im Roten Meer westliche Handelsschiffe – und damit direkt Versorgungslinien unserer Volkswirtschaft. Welches Gefahrenpotential schlummert in dieser Region?
Der Nahe Osten ist ja seit Jahrzehnten ein ganz eigenes Problemfeld, über das allein sich endlos diskutieren ließe. Aus westlicher Sicht werden derzeit zwei Dinge deutlich: Erstens, die Europäer sind nicht in der Lage, Krisen und Konflikte vor ihrer Haustür zu bewältigen. Und zweitens: Auch die US-Amerikaner haben gehörig an Autorität verloren. Dass zum Beispiel der israelische Ministerpräsident einem US-Präsidenten auf offener Bühne widerspricht, hätte es vor zehn Jahren nicht gegeben.
Im Gegenzug haben die lokalen Mächte vor Ort ihr eigenes Gewicht entdeckt. Ägypten spielt eine große Rolle, verhält sich aber sehr mäßigend, Katar etabliert sich als Vermittler (auch der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan wurde ja bereits durch den Golfstaat vermittelt) – und nicht zuletzt wächst das Gewicht der rivalisierenden Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran. Diese vermeiden in der Regel direkte Konfrontationen und agieren stattdessen über Verbündete. Dass hinter den Huthi, der Hamas und der libanesischen Hisbollah jeweils der Iran steht, zeigt, welches Konfliktpotential in dieser Gemengelage steckt. Und es wird klar, dass es nahezu unmöglich ist, mit den bisherigen Mitteln des militärischen Eingreifens Ordnung zu schaffen.
Insofern kann der Westen hier nur noch auf Kooperationen setzen. Bestimmen wie zu Kolonialzeiten oder während des Kalten Krieges kann er die Verhältnisse vor Ort nicht mehr. Allerdings liegt darin auch die Chance zu einer Neubesinnung und Neuorientierung westlicher Außenpolitik.
In der Geschichtswissenschaft gibt es den Begriff der imperialen Überdehnung, die bislang jedem Weltreich irgendwann zum Verhängnis wurde. Ist diese Überdehnung nun für die USA erreicht?
Ja, eindeutig. Die Vereinigten Staaten unterhalten rund um den Erdball ein Netz von über 800 Stützpunkten und sind damit geopolitisch völlig überdehnt. Ein solches System verlangt enorme finanzielle, personelle, rüstungstechnische und administrative Ressourcen und schafft doch niemals eine dauerhafte Ordnung. Hinzu kommt, dass die USA auch gewaltige interne Probleme haben, zum Beispiel die hohe Staatsverschuldung, die Rückstände in der Infrastruktur und auch die Zuwanderung, die zahlreiche soziale Konflikte zur Folge hat.
Allerdings ist auch Russland durch den Krieg mit der Ukraine überdehnt. Das zeigt sich am Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, wo Russland zusehen musste, wie Aserbaidschan in die Region Bergkarabach einmarschierte. In der Vergangenheit hätte es eingegriffen und für Ruhe gesorgt.
Insgesamt führt diese Situation, dass den alten Mächten die Kräfte schwinden und neue Akteure nach oben streben, dazu, dass wir auf ein Zeitalter der Ungewissheit und großer Konflikte zusteuern. Umso mehr besorgt mich, dass bei uns darüber kaum diskutiert, geschweige denn angemessen reagiert wird.
Wie sollte sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu diesem Zeitalter der neuen Unsicherheiten verhalten?
Wir müssen uns zunächst wieder darauf besinnen, welche Aufgabe unsere Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich hat. Ein idealer Kompass dafür ist die Präambel des Grundgesetzes, in der es heißt, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Dies entspricht unseren Interessen als großer Handelsnation und mahnt zugleich alle Akteure, sich von internationalen Abenteuern und Risiken fernzuhalten.
Natürlich gehört zu einer klugen Außenpolitik auch eine enge Abstimmung mit unseren europäischen Verbündeten wie Frankreich und Polen. Ohne gegen die EU argumentieren zu wollen, halte ich es für erforderlich, dass das letzte Wort über die Außen- und Sicherheitspolitik von den Mitgliedsstaaten gesprochen wird und nicht in Brüssel. Die Mitgliedsstaaten sind souverän – die Union lediglich ein Bündnis. Zumal sich längst gezeigt hat, dass die oft beschworene „Vertiefung“ der EU keineswegs zu einer Zunahme des geopolitischen Gewichts der Europäer geführt hat.
Klar ist allerdings auch, dass nationale Alleingänge keiner europäischen Nation irgendwelche Vorteile bringen. Deshalb ist es im vorrangigen deutschen Interesse, an einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung mitzuwirken, in der dann auch Russland und die Ukraine ihren Platz haben. Wir brauchen eine Ordnung, die gewährleistet, dass die Interessen aller europäischen Nationen berücksichtigt und etwaige Konflikte friedlich beigelegt werden. Die Chancen, die die Charta von Paris bot, sind leider vertan worden. Es würde sich lohnen, die damaligen guten Vorsätze noch einmal aufzugreifen.
Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik sind auch eigene leistungsfähige Streitkräfte. Deshalb muss die Bundeswehr wieder in die Lage versetzt werden, ihren verfassungsmäßigen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen. Dazu muss sie über aufwuchsfähige Strukturen verfügen, um durch eine problemlose Integration von Reservisten schnell einen aufgabengerechten Verteidigungsumfang zu erreichen, mit einem Personalumfang, der das notwendige Fähigkeitsspektrum abdeckt, sowie einer bedrohungsgerechten und technologisch zukunftsfesten Ausrüstung und Bewaffnung.
Unsere Verbündeten fürchten nicht ein starkes, sondern ein schwaches Deutschland. Da müssen wir ansetzen und die Bundeswehr wieder zu einer Armee auf der Höhe der Zeit entwickeln. Dies wäre ein überzeugendes Signal der Entschlossenheit, keine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts zu unseren Ungunsten zuzulassen. Letztendlich ist dies jedoch allein keine hinreichende Bedingung des Friedens und der Sicherheit. Deshalb muss der Wille dazu kommen, das militärische Gleichgewicht durch politische Vereinbarungen zu stabilisieren.
Das Gespräch führte René Nehring.
General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
E. Berger am 12.02.24, 00:04 Uhr
Herr Kujat zählt den wenigen in der Öffentlichkeit auftretenden Persönlichkeiten, die sich eigenständiges Denken und Unabhängigkeit bewahrt haben. Deswegen ist es gut und wichtig, dass er sich regelmässig zu den aktuellen (und zukünftigen) Brandherden äussern kann.
Dank an die PAZ!
Ulrich Bohl am 11.02.24, 11:19 Uhr
Wieder ein guter von Sachverstand und Ausgewogenheit
geprägter Beitrag von Herrn Kujat. Darum DANKE !
Einwenden muss ich hier, eine kluge und ausgewogene
Außenpolitik halte ich mit diesem Personal nicht für
möglich, es dominieren Fehlbesetzungen sowohl in der
Außenpolitik wie auch in der Wirtschaftspolitik. Bestimmend sind ideologische Schreihälse die uns in einem Krieg mit Rußland sehen und ein Wirtschafts-
minister der in seinen Märchenbüchern beschreibt wie
schön ein Stromausfall ist. Er kann Märchen und Rea-
lität nicht trennen.