29.11.2024

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Jüngster Schritt auf einer gefährlichen Eskalationsspirale: Nach der Aufstellung nordkoreanischer Soldaten im Raum Kursk gestattete US-Präsident Joe Biden den Ukrainern, von den USA gelieferte ATACMS-Raketen auch gegen russisches Kernland einzusetzen
Foto: picture alliance/ASSOCIATED PRESS/LibkosJüngster Schritt auf einer gefährlichen Eskalationsspirale: Nach der Aufstellung nordkoreanischer Soldaten im Raum Kursk gestattete US-Präsident Joe Biden den Ukrainern, von den USA gelieferte ATACMS-Raketen auch gegen russisches Kernland einzusetzen

„Wir waren noch nie so nahe an einem Dritten Weltkrieg“

Über die jüngsten Entwicklungen rund um den Ukrainekrieg, die Gefahr einer Ausweitung des Konfliktes auf andere Regionen und die Lage der westlichen Verteidigungspolitik

Im Gespräch mit Harald Kujat
29.11.2024

Nachdem es in den letzten Monaten rund um den Ukrainekrieg eher ruhig gewesen war, überschlugen sich in den vergangenen Tagen und Wochen die Ereignisse auf den Schlachtfeldern und in der Politik. Zeit für eine Einordnung des jüngsten Geschehens.

Herr Kujat, gleich mehrere Ereignisse rund um den Ukrainekrieg haben zuletzt die internationale Sicherheitspolitik beherrscht. Die Schlagzeilen reichten vom möglichen Zusammenbruch der ukrainischen Streitkräfte über das Übergreifen des Konflikts auf andere Kontinente bis hin zu einer atomaren Eskalation. Lassen Sie uns vielleicht mit der Lage im Hauptkampfgebiet im Donbass anfangen.
Gern. Im Donbass sind die russischen Streitkräfte nun schon seit Monaten auf dem Vormarsch, sodass im Westen niemand mehr die Augen davor verschließen kann, dass die Lage für die Ukraine ständig schwieriger wird. Das von Präsident Selenskyj formulierte politische Ziel, die territoriale Integrität des Landes in den Grenzen von 1991 mit militärischen Mitteln wieder herzustellen, ist unerreichbar.

Dazu, dass die ukrainischen Streitkräfte in einer sehr kritischen Lage sind, hat auch die Exkursion vor einigen Wochen in die Kursk-Region beigetragen. Denn dafür mussten Reserven eingesetzt werden, die eigentlich an der Front im eigenen Land dringend gebraucht werden, um die Verteidigung an Angriffsschwerpunkten zu verstärken. Die Russen greifen an mehreren Stellen gleichzeitig an und haben in den letzten Wochen deutliche Fortschritte erzielt.

Wenn man sich die Zahlen der eroberten Quadratkilometer ansieht, erscheint das russische Vordringen angesichts der Größe der Ukraine und der Länge der Front nicht sehr groß. Worin liegt die Dramatik der Lage für die Ukraine?
Um zu verstehen, warum die Lage für die Ukraine so gefährlich ist, muss man bedenken, dass es drei Arten gibt, einen Krieg zu entscheiden. Die erste ist, dass die feindlichen Truppen geschlagen werden. Es sind vor allem die personellen Verluste, die den Gegner daran hindern, den Krieg mit einiger Aussicht auf Erfolg weiterzuführen. Die zweite Möglichkeit ist, den Gegner von seiner Versorgung mit Munition, Lebensmitteln, Treibstoff und so weiter abzuschneiden, ihn praktisch auszutrocknen, sodass er nicht mehr in der Lage ist, die Kampfhandlungen fortzusetzen. Und die dritte Option ist, dass die Bevölkerung ihren Streitkräften die Unterstützung versagt.

Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen, wie es der frühere Oberbefehlshaber General Saluschnyj formulierte, mit einem hohen Blutzoll um jeden Quadratmeter. Dagegen geht es den Russen darum, die gegnerische Armee kontinuierlich zu schwächen, bis diese nicht mehr in der Lage ist, sich weiter zu verteidigen. So gehen den Ukrainern nach und nach nicht nur die Munition und die Waffen aus, sondern vor allem kampfstarke Streitkräfte, die in der Lage sind, das noch unter eigener Kontrolle befindliche Territorium zu halten.

Die militärische Lage entwickelt sich in jüngster Zeit immer schneller auf diesen Punkt zu – und damit auf eine Implosion, die dazu führen wird, dass ukrainische Frontabschnitte nach langer, durchaus erfolgreicher Verteidigung zusammenbrechen, wodurch die Russen auf einen Schlag größere Geländegewinne erzielen könnten.

Hat also die ganze westliche Hilfe in den letzten Jahren nichts gebracht?
Trotz der Unterstützung des Westens mit Finanzmitteln erheblichen Ausmaßes, mit immer leistungsfähigeren Waffensystemen ist die Situation der Ukraine seit dem Scheitern der Offensive im letzten Jahr kontinuierlich schlechter geworden. Wenn die Ukraine und ihre Unterstützer diesen Weg fortsetzen, kann sich jeder ausrechnen, dass eine militärische Niederlage der Ukraine unabwendbar ist.

Auch politisch hat die Ukraine ein Problem, denn der sogenannte Siegesplan von Selenskyj ist gescheitert. Er hat zwar einige Unterstützungsfloskeln dafür bekommen und mit einer Verzögerung auch die geforderte Freigabe weitreichender westlicher Waffensysteme für Angriffe auf russisches Territorium. Doch letztlich hat sich keiner der Staaten, die um konkrete Unterstützung gefragt wurden, insbesondere die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, bereiterklärt, den gesamten Plan einschließlich eines unkonditionierten NATO-Beitritts zu unterstützen. Bundeskanzler Scholz hatte offenbar verstanden, dass Selenskyjs Forderungen zum Ziel hatten, die NATO in den Krieg hineinzuziehen. Denn er wollte, „dass die NATO nicht Kriegspartei wird“ und damit „dieser Krieg nicht in eine noch viel größere Katastrophe mündet“.

Welche strategischen Optionen für die Ukraine ergeben sich aus dieser Lage?
Sie sollte mit den Russen eine Verhandlungslösung suchen, bevor sie auf dem Schlachtfeld eine militärische Niederlage erleidet. Wenn diese erst einmal eingetreten ist, brauchen die Russen nicht mehr zu verhandeln, dann können sie die Bedingungen für einen Frieden diktieren.

In Deutschland ist oft zu hören, dass die Russen gar keine Gespräche führen wollten. Das stimmt jedoch nicht. Putin hat sogar nach der Präsentation des Selenskyjschen Siegesplans noch einmal betont, dass er bereit ist zu verhandeln, allerdings nicht, solange ukrainische Streitkräfte auf russischem Territorium stehen. Er hat gleichzeitig wieder den chinesischen Vorschlag vom Februar 2023 für realistisch erachtet. Dieser sieht unter anderem vor, die Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien dort fortzusetzen, wo sie im Frühjahr 2022 in Istanbul abgebrochen wurden. Damit wären die Vorbedingungen beider Seiten – auch Selenskyj hat ja einige formuliert – zur Seite gestellt.

Letztendlich hat die Ukraine zwei Optionen. Erstens setzt sie den Krieg wie bisher fort bis zu dem Punkt, an dem die Ermüdung ihrer Streitkräfte so groß ist, dass diese aufgeben müssen. Und zweitens werden vor Erreichen dieses Punktes Verhandlungen anberaumt, die den Ukrainern immerhin die Chance bieten, möglichst viel von ihrem Land zu bewahren.

Als dritte Option hat US-Präsident Joe Biden vor wenigen Tagen den Ukrainern nach langem Zögern nun doch gestattet, von den USA gelieferte Raketen wie die ATACMS auch auf das Gebiet Russlands zu feuern. Wie wird dies den weiteren Kriegsverlauf beeinflussen?
Obwohl es Präsident Biden mehrfach strikt abgelehnt hat, amerikanische ATACMS für Angriffe auf russisches Territorium freizugeben, um, wie er sagte, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, hat er nun doch erlaubt, diese Systeme mit einer Reichweite von 300 Kilometern zunächst gegen nordkoreanische Truppen im Raum Kursk einzusetzen, um der nordkoreanischen Regierung die Verwundbarkeit ihrer Soldaten zu demonstrieren und sie davon abzuschrecken, noch mehr Soldaten zu schicken. Ich halte diese Begründung nicht für überzeugend.

Die Frage ist berechtigt, ob die amerikanische Regierung bereit ist, wegen der kritischen Lage der Ukraine, die trotz massiver westlicher Unterstützung immer unhaltbarer wird, das Risiko eines großen europäischen Krieges einzugehen. Zumal sie weiß, dass diese Raketen ebenso wenig wie die bisher gelieferten Waffen die strategische Lage zugunsten der Ukraine wenden können. Inzwischen haben die USA sogar angekündigt, international geächtete Anti-Personen-Minen zu liefern, damit die ukrainischen Streitkräfte das noch unter ihrer Kontrolle befindliche Territorium besser verteidigen können.

Ich halte diesen dramatischen Kurswechsel für ein Zeichen größter Frustration, denn das strategische Ziel, Russland – den zweiten geopolitischen Rivalen neben China – politisch, wirtschaftlich und militärisch zu schwächen, ist nicht erreichbar. Es gibt nur eine vernünftige Erklärung: Präsident Biden will offenbar nach dem fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan nicht auch noch gemeinsam mit der Ukraine diesen Krieg verlieren.

Inzwischen hat die Ukraine auch britische „Storm Shadow“-Marschflugkörper eingesetzt. Frankreich hat angeblich seine SCALP-Marschflugkörper ebenfalls freigegeben, und der französische Außenminister hat erneut den Einsatz französischer Bodentruppen nicht ausgeschlossen. Beide Staaten sind bereit, große Risiken für den gesamten europäischen Kontinent einzugehen. Dagegen haben die Europäer nicht die Kraft, sich konstruktiv für Friedensverhandlungen einzusetzen, obwohl es um das Schicksal ihres Kontinents geht.

Es ist merkwürdig, dass die Hoffnungen derjenigen, die einen großen europäischen Krieg mit dem Risiko einer nuklearen Eskalation verhindern sowie Sicherheit und Frieden wollen, in dieser hochbrisanten Lage auf Putin und Trump ruhen. Auf Putin in der Erwartung, dass er besonnen und maßvoll reagiert, und auf Trump, dass er die Entscheidung Bidens, wie vom ihm angekündigt, rückgängig macht.

Wie hat Russland darauf reagiert, und was bedeutet die Aussage Putins, dass der Ukrainekrieg nach den jüngsten Entwicklungen nun „Elemente eines globalen Charakters“ habe?
Präsident Bidens Entscheidung fiel am 17. November. Bereits zwei Tage später griff die Ukraine mit sechs ATACMS-Raketen ein Munitionsdepot in der Region Brjansk an, bei dem nach russischen Angaben Trümmer der Raketen einen Brand auslösten, ohne nennenswerte Schäden zu verursachen. Am 21. November wurde ein russischer Kommandoposten in der Region Kursk mit britischen „Storm Shadow“-Marschflugkörpern und US-HIMARS-Raketen angegriffen, wobei es zu personellen Verlusten der Schutzmannschaften und des Wartungspersonals kam. Russland schlug am selben Tag mit einer nichtnuklearen Hyperschall-Mittelstreckenrakete auf Ziele in der ukrainischen Stadt Dnipro zurück. Es soll sich um einen operativen Testeinsatz einer neuentwickelten Rakete mit dem Namen Oreschnik gehandelt haben – eine eindrucksvolle Demonstration militärischer Kapazitäten, aber keine Überreaktion.

Putin bezeichnete die beiden ukrainischen Angriffe mit westlichen Waffen als den Zeitpunkt, von dem an der regionale Konflikt in der Ukraine Elemente globalen Charakters annahm, beschuldigte die USA, die ganze Welt in einen globalen Konflikt zu stürzen. Sollten die Pläne für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in Europa (also in Deutschland) realisiert werden, werde Russland sein nach der Kündigung des INF-Vertrages durch die USA erklärtes Moratorium überprüfen und die Serienfertigung einer neuen Generation von Mittelstreckenwaffen aufnehmen. Er betonte jedoch auch, er sei bereit, alle Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen.

Interessanterweise verurteilte der künftige US-Präsident Trump die Entscheidung seines Vorgängers und erklärte: „Wir waren noch nie so nahe an einem Dritten Weltkrieg.“

Kommen wir noch mal zurück zum Kriegsschauplatz Ukraine. Wie schätzen Sie die Kräfte der Russen hier ein? Immerhin haben ja auch sie im Laufe des Krieges erhebliche Verluste einstecken müssen. Und dass sie unlängst nordkoreanische Truppen an die Front geworfen haben, wird von westlichen Beobachtern vielfach als Zeichen dafür gedeutet, dass auch ihnen die Soldaten ausgehen.
Richtig ist, dass auch die Russen personelle Probleme haben. Die Verfassung der Russischen Föderation untersagt, Wehrpflichtige auf fremdem Territorium einzusetzen. Hinzu kommt, dass im Laufe eines Krieges mit Zunahme der Verluste die Bereitschaft nachlässt, freiwillig in den Dienst der Streitkräfte zu treten. Hinzu kommt auch, dass eine weitere Mobilisierungswelle wie im September 2022 innenpolitisch für Putin durchaus riskant wäre.

Hier kommen die Nordkoreaner ins Spiel. Ihre Ausbildung und Kampftaktik sind völlig anders als die der russischen Soldaten. Und da sie nicht die gleiche Sprache sprechen, ist der Koordinierungsaufwand sehr hoch. Doch werden sie bislang lediglich gegen die ukrainischen Invasionstruppen im Raum Kursk eingesetzt, wo sie quasi selbstständig gegen den Gegner kämpfen können. Die Russen erhalten durch diese Entlastung freie Kapazitäten, die sie für ihr Vorgehen im Donbass einsetzen können. Der Einfluss des nordkoreanischen Kontingents auf den Kriegsverlauf ist jedoch gering. Deshalb sind sie nicht der wahre Grund für die Freigabe der amerikanischen ATACMS-Raketen für Angriffe auf russisches Territorium, sondern die kritische Lage der ukrainischen Streitkräfte und deren Unfähigkeit, die ukrainischen und amerikanischen Ziele in diesem Krieg zu erreichen.

Noch immer gehen viele westliche Beobachter davon aus, dass der Ukrainekrieg für Russland lediglich der Auftakt für größere imperiale Ambitionen ist und das Land nach einem Sieg über die Ukraine einen NATO-Staat angreifen könnte. Sehen Sie Belege für eine derartige Bedrohungslage?
Eine Bedrohung besteht aus zwei Teilen: nämlich aus der Fähigkeit anzugreifen – und aus der Absicht anzugreifen. Natürlich verfügt Russland über die Fähigkeit, einen NATO-Staat und damit die NATO insgesamt anzugreifen, wenngleich es nicht auf die gleiche Weise erfolgen würde, wie der Ukrainekrieg geführt wird. Aber die russische Führung weiß auch, dass sie diesen Krieg weder heute noch in drei oder fünf Jahren in kurzer Zeit gewinnen kann und eine längere Auseinandersetzung es den USA erlauben würde, Verstärkungen nach Europa zu verlegen.

Ohne eine kriegsentscheidende konventionelle Überlegenheit könnten beide Seiten in die Lage geraten, einen nuklearen Ersteinsatz erwägen zu müssen. Deshalb sehe ich trotz des Vorgehens gegen die Ukraine nicht die Absicht eines Angriffskrieges gegen das westliche Bündnis. Und das sehen im Übrigen auch die sieben großen US-amerikanischen Nachrichtendienste in ihren Bedrohungsanalysen so.

Wie steht es um die deutsche Verteidigungsfähigkeit? Hier war zuletzt viel von der „Kriegstüchtigkeit“ unserer Streitkräfte die Rede. Wenn man sich jedoch die Mitglieder der gegenwärtigen Bundesregierung ansieht, fällt auf, dass von ihnen kaum noch jemand den Wehrdienst geleistet hat.
Dass wir die Bundeswehr wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigen müssen, ist überfällig. Nur brauchen wir dafür kein Szenario, dass uns die Russen möglicherweise 2029 angreifen könnten. Die Reform von 2011, durch die die Bundeswehr nur noch zu Auslandseinsätzen in der Lage sein sollte, wurde damit begründet, dass „eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen Mitteln unverändert unwahrscheinlich ist“. Das Ergebnis ist ein eindeutiger Bruch der Verfassung. Es reicht also völlig aus, das Verfassungsgebot zu erfüllen.

Als sicherheitspolitischer Schüler Helmut Schmidts bin ich überzeugt, dass wir das militärische Gleichgewicht zwischen uns und Russland mit Nachdruck wiederherstellen müssen. Das ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Erhaltung des Friedens. Hinzu müssen politische Maßnahmen kommen, die das Gleichgewicht der Kräfte stabilisieren, also direkte Kontakte zur anderen Seite, um zu verstehen, wo ihre Interessen und Absichten liegen, Rüstungskontrollen und Abrüstung für größere internationale Stabilität und vertrauensbildende Maßnahmen, die die Berechenbarkeit beider Seiten vergrößern.

Das fehlt mir. Es besteht weder ein Gleichgewicht der Kräfte noch verfügen wir über eine Strategie zur Beendigung des Ukrainekrieges. Und eine Konzeption für eine politische Stabilisierung des Verhältnisses mit Russland nach einem Verhandlungsfrieden – eine unverzichtbare Voraussetzung für eine künftige europäische Sicherheits- und Friedensordnung – ist nicht einmal im Ansatz erkennbar.

Die große Unbekannte der letzten Monate war der ungewisse Ausgang der US-Präsidentenwahl. Nun steht fest, dass Donald Trump im Januar 2025 ins Weiße Haus zurückkehren wird. Welchen Einfluss wird dies auf den Ukrainekrieg haben?
Die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten bedeutet einen Wendepunkt in der amerikanischen Ukraine-Strategie. Trump hatte immer wieder betont, Frieden und das Ende des Tötens hätten für ihn höchste Priorität. Er könne den Konflikt schnell beenden, indem er beide Seiten an den Verhandlungstisch bringt. Bisher hat Trump es jedoch abgelehnt, seinen Plan zu veröffentlichen, weil er ihn dann nicht mehr umsetzen könne.

Inzwischen sickern jedoch einzelne Elemente durch. Der designierte Vizepräsident Vance hat beispielsweise in einem Interview Teile eines Friedensplans zur Beendigung des Krieges erwähnt. Er sagte, dass Russland die eroberten Gebiete behalten soll. Entlang der gegenwärtigen Front soll eine demilitarisierte Zone eingerichtet und die ukrainische Verteidigung soll verstärkt werden, um eine weitere russische Invasion zu verhindern. Die restliche Ukraine bliebe ein unabhängiger Staat, der gegenüber Russland seine Neutralität erklärt und weder der NATO noch einer ihrer Organisationen beitreten wird.

Sollten die von Vance genannten Elemente tatsächlich Teil seines Plans sein, wären die Europäer gefordert, die Überwachung der demilitarisierten Zone zu übernehmen, denn amerikanische Soldaten werden dafür nicht eingesetzt. Es soll sich um Truppen europäischer Staaten – keine NATO-Truppen unter NATO-Kommandogewalt – handeln. Ich halte das trotzdem für riskant, denn durch ein menschliches oder technisches Versagen könnte eine Situation entstehen, aus der sich eine Eskalation entwickelt, die politisch nicht beherrschbar ist und zu einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland führt. Es ist auch denkbar, dass eine Kriegspartei eine derartige Situation provoziert.

Deshalb würde ich eine robuste UN-Blauhelm-Mission nach Artikel VII der UN-Charta favorisieren. Allerdings haben UN-Missionen, wie die Erfahrung aus den Balkankriegen zeigt, große Nachteile. Vor allem, weil die UN nicht über eine effektive Kommandostruktur und eine enge politische Kontrolle des Einsatzes verfügen. Die Vor- und Nachteile beider Optionen müssen deshalb sorgfältig abgewogen werden.

Eine andere Spekulation ist, dass das Verhältnis zwischen den USA und den Europäern unter einem Präsidenten Trump stark abkühlen könnte und die Europäer bei der Lösung des Ukrainekonflikts auf sich allein gestellt wären. Hätten sie überhaupt die Fähigkeiten dafür?
Eindeutig nein. Die Vereinigten Staaten liefern ja nicht nur Geld und Waffen. Sie leisten einen Beitrag zur Ausbildung ukrainischer Soldaten, liefern zeitnah Aufklärungs- und Zieldaten und wirken bei der Operationsplanung mit. Alles das und vieles mehr können die Europäer nicht leisten. Darüber sollte sich jeder Politiker Klarheit verschaffen, der in Erwägung zieht, dass wir an die Stelle der Amerikaner treten.

Es gibt für die Europäer nur eine rationale Option: unseren engsten Alliierten, die Vereinigten Staaten, zu unterstützen, wenn dessen Präsident sich um Frieden bemüht. Es wird ja oft vom transatlantischen Schulterschluss gesprochen, jetzt wäre die Zeit dafür da. In Wahrheit ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die immer wieder erhobene Forderung, Taurus-Marschflugkörper für Angriffe gegen Russland freizugeben und durch einsatzermöglichende deutsche Unterstützung die Friedensbemühungen des gewählten amerikanischen Präsidenten zu konterkarieren, führt zum Bruch des transatlantischen Zusammenhalts.

In den ersten Tagen nach seiner Wahl hat Trump unter anderem angekündigt, die Staatsausgaben drastisch reduzieren zu wollen. Gibt es bereits Aussagen dazu beziehungsweise Hinweise darauf, ob dies auch das Militär betreffen könnte?
Die US-amerikanischen Streitkräfte befinden sich nach Ansicht angesehener amerikanischer Experten nicht auf dem höchstmöglichen Leistungsstand. Aber richtig ist, dass Trump wiederholt hinterfragt hat, ob die USA so viele ausländische Stützpunkte unterhalten und sich immer wieder militärisch engagieren müssen. Insofern ist es durchaus möglich, dass er die Präsenz amerikanischer Truppen im Ausland reduziert. In seiner ersten Amtszeit hat er ja bereits den Rückzug der USA aus Afghanistan eingeleitet. Und auch von den Europäern hat er immer wieder gefordert, dass sie mehr für ihre eigene Sicherheit tun müssten.

Denn für Trump haben die sicherheitspolitischen und strategischen Interessen der USA absolute Priorität. Auch deshalb brauchen wir eine Gesamtstrategie, die die Selbstbehauptung Europas fördert, nämlich politisch, wirtschaftlich, technologisch und nicht zuletzt militärisch.

Das Interview führte René Nehring.

General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.


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