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Rockgeschichte

Wo das Panikvirus grassiert

Im Epizentrum der Popularmusik – „Panikhistorische Rundgänge“ in Gronau in Westfalen, wo Udo Lindenberg zur Welt kam

Manfred Lädtke
24.02.2025

Es ist still geworden um Deutschlands Vorzeige-Rocker Udo Lindenberg. Nostalgische Fantouren in Hamburg und Berlin lösen inzwischen Konzerttouren ab. Wer den Anfängen und frühen Jahren des Kultrockers auf die Spur kommen möchte, der muss in die Provinz.

Hanspeter (HP) Dickel hat es wieder gemacht. Nein, er hat nicht wie schon in den 1960er Jahren die Bassgitarre eingestöpselt und mit seiner Band The Lightnings die verqualmte Concordia-Halle im westfälischen Gronau zum Toben gebracht. Die gibt es schon lange nicht mehr. Damals hämmerte in dem einstigen Textilarbeiter-Städtchen drei Kilometer vor der holländischen Grenze die Musik der Beatles, von The Who oder The Kinks früher und lauter als anderswo.

Der musikalische Einfluss aus dem liberalen Enschede war bis nach Gronau hinüber geschwappt, erinnert sich Lindenbergs Weggefährte und Mitträumer HP Dickel. Beatles-Epigonen schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Beat-Musik hatte sich wie ein großer Teppich ausgebreitet und bei den jungen Leuten von Fuß bis Kopf eingenistet. Wenn am Wochenende die Fabriktore geschlossen blieben, trafen sich ambitionierte Musiker in Kellern und Sälen und formierten sich zu schlagkräftigen Combos. Oft hatten sie ihren letzten Lohn oder Taschengeld für eine Elektrogitarre zusammengekratzt und gaben mit drei Akkorden ihr Bestes, um geräuschvoll die lokale Erfolgstreppe hochzufallen. Yeah, Yeah, Yeah.

Mehr als 50 Jahre später trifft man manchmal das wandelnde Lindenberg-Gedächtnis Dickel in einem Gronauer Café. Und – wie gesagt – HP hat nachgelegt. Aus einer Aktentasche zieht er den zweiten Band seiner Udo-Lindenberg-Biographie „Gronau UDO Zauberwelt“ hervor. 312 Seiten panisches Leben in Dur und Moll für knapp 40 Euro. Zählt man Band eins hinzu, dann hat der Herausgeber einen vollständigen, nahezu lebenslangen Lindenberg-Kosmos zusammengetragen und als Werk zur deutschen Musikgeschichte hinzugefügt. Klar, dass so viel klingender Musikzauber nicht in ein einziges „Udonales“ Lesebuch passt.

In der Beat-Ära dachte HP jedoch noch nicht daran, jemals Musikgeschichte(n) zu schreiben. Der junge Trommler Udo schon. Die Jugendfreunde vereinte die Aufbruchsstimmung in den frühen 60ern. Hinterm Horizont bundesdeutscher Hörgewohnheiten ging's weiter. Für Udo am Schlagzeug bei den Dixie-Devils und später Mustangs. HP trat mit den in Westfalen angesagten The Lightnings auf und begleitete The Swinging Blue Jeans, The Lords oder Casey Jones & The Governors im Vorprogramm. Obwohl beide Brüder im Geist, sah man sie später selten zusammen in Gronau. Der 18-jährige Lindenberg hatte sich an der Musikschule Münster eingeschrieben, Dickel sich in Bochum und Berlin für das Studium der Sozialarbeit und später Geographie entschieden.

Nicht alle Gronauer Burschen haben in jener Zeit Udo vermisst. Andere begrüßten den Rocknovizen bei seinen gelegentlichen Stadtbesuchen mit freudigem „Hey, Udo!“. Vor allem die Damenwelt war ganz verzückt, wenn sie dem akkurat gekämmten Frührocker von der Musikschule Münster im halblangen beigen Trenchcoat begegnete. Nicht selten wechselten Mädchen dann zielstrebig die Straßenseite. Eifersüchtig ignorierten die Jungs die prominente Konkurrenz und steckten mit anderen Halbstarken auf ihren Kreidler-Florett-Mopeds die Köpfe zusammen.

Viel am Hut hatte der Mann mit Haarfilzhut mit dem Grenzstädtchen indes nicht. Mit dem „Daumen im Wind“ stand Lindenberg an der Ausfahrtchaussee nach Münster. „Die beste Straße der Stadt, führt aus ihr heraus“, meinte der Rock-'n'-Roll-Strolch damals zu wissen. Er hat sich schwer geirrt.

Aktionsstätte für „Fantasten“
Zu dieser Zeit krächzten „Great Balls Of Fire“, „Sweet Little Sixteen“ und „Only The Lonley“, Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und Roy Orbison aus den Kofferradios. Gespannt kurbelten die Jungen und Mädchen im Stadtpark an ihren Geräten, bis sie einen Schwarzsender fanden. Technisch versierte Jugendliche aus den Baumwollspinnereien hatten sich auf Kurzwelle geschmuggelt und spielten dort nagelneue Singles aus den nahen Niederlanden, die es in Deutschland noch nicht gab. Stets auf der Hut vor Funkkontrolldiensten lieferten sich die Amateure einen versteckten Wettstreit um den heißesten Rhythmus unter den Fabrikschornsteinen.

Als Udo Lindenberg bereits im Musik-Orbit tänzelte und HP Dickel in Berlin arbeitete, waren Anfang der 1980er Jahre schon alle Lichter in Gronaus Fabriken und Musikkellern erloschen. Der industrielle Niedergang hatte Trümmer und zerdepperte Fensterscheiben im verstümmelten Stadtbild der verstummten Musikstadt hinterlassen.

Zurück in Gronau verfolgte Dickel als „stiller Komplize“ aber immer „auf brennend heißer Spur“ weiter die Entwicklung des inzwischen an der Elbe gereiften Nuschel-Rockers, arbeitete als Stadtarchivar, Autor und Kulturveranstalter. Zwischen zwei Easy-Drinks öffnet der Heimatexperte sein Buch: „Er hat jeden Strauch im Gebüsch gecheckt und wahnsinnige, längst vergessene Panik-Storys ausgegraben“, macht Lindenberg im Vorwort neugierig auf Dickels Enthüllungen.

Bis für den Panik-Präsidenten die Straße aus Gronau heraus ebenfalls ein Weg zurück wurde, sollten jedoch noch zwei Jahrzehnte vergehen. Zunächst bedurfte es eines gewitzten Stadtvaters mit Spürnase für Marketing, der den verlorenen Sohn für ein Rockmuseum auf der Industriebrache elektrisierte. Plötzlich entstand etwas Neues, ein vom Zukunftsklang getragener Ort heißer Bühnentätigkeit. Heimkehrer Lindenberg wurde zum Frontmann der „Aktionsstätte für Denker, Dichter und Fantasten“. Die Beatmusik war in Rockmusik übergegangen, der Rock 'n' Roll in Deutschlands größten Rock-Tempel eingezogen.

Mit Eröffnung des Rock-'n'-Popmuseums vor 21 Jahren in einer ehemaligen Turbinenhalle war die reanimierte Musikstadt wieder am Puls des Pop. Jetzt unter Strom bleiben und ja nicht den PR-Stecker ziehen: Vor dem Museum eröffneten die „Gronauten“ einen Udo-Lindenberg-Platz, schmückten einen Kreisverkehr mit einer lebensgroßen Udo-Statue und ernannten „uns Udo“ – noch vor Hamburg – zum Ehrenbürger. Zwar weiß der Wahlhamburger Fallgruben des bürgerlichen Lebens gekonnt zu umschiffen, was ihn aber nicht hindert, publikumswirksam ans Bürgertum anzudocken. Schlussakkord. HP klappt seine Aktentasche zu.

Über zwei Brücken müssen Musikfans gehen, dann stehen sie am Stadtrand in einem von Grachten durchzogenen Inselpark vor dem Museum für Rock- und Popmusik. Mehr als 750.000 Besucher sind seit Eröffnung in das Epizentrum der Popularmusik gekommen. Im zeitgeschichtlichen Spiegel der Unterhaltungsmusik spazieren sie durch ein multimediales Feuerwerk der Musikgattungen, suchen die Single, die Elvis in einem Gronauer Schallplattenladen signiert haben soll, oder finden die Lederjacke, die Lindenberg vor über 40 Jahren in der DDR trug.

Wem das nicht genug „Udo“ ist, für den liegt draußen vor der Tür Musik in der Luft. Auf „panikhistorischen“ Rundgängen führt HP interessierte Besucher mit Fotos und Filmen zu Schauplätzen von Lindenbergs Leben und Karriere: den ersten Spielstätten im Stadtpark, Tanzlokalen, Elternhaus und Schule, zu Ungesehenem und Ungehörtem. „Jonny Controlletti“, „Bodo Ballermann“ und „Rudi Ratlos“ begleiten aus einer tragbaren Musikbox die anekdotenreichen Udo-Tour.

„Panikhistorische Rundgänge“: www.hanspeter-dickel.de. Veranstaltungen im Museum: www.rock-popmuseum.de


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