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Viel Gesprächsbedarf nach zwei Vorträgen von Christopher Spatz bei der Landes-Kultur- und Frauentagung: Die stellvertretende Vorsitzende der Landesgruppe NRW, Bärbel Beutner, führt in die Thematik ein
Foto: Jochen ZaunerViel Gesprächsbedarf nach zwei Vorträgen von Christopher Spatz bei der Landes-Kultur- und Frauentagung: Die stellvertretende Vorsitzende der Landesgruppe NRW, Bärbel Beutner, führt in die Thematik ein

Landesgruppe NRW

Wolfskinder, Friedland und Platt

Die Herbsttagung in Oberhausen beleuchtet mit Christopher Spatz die Schwächsten des Krieges

Bärbel Beutner
05.11.2022

Am 8. Oktober konnte endlich wieder die gewohnte Landes-Kultur- und Frauentagung der Landesgruppe NRW in Oberhausen stattfinden. Am Abend zuvor wurde die Vorstandssitzung abgehalten, und sowohl die ostpreußischen Stammgäste als auch die Gastgeber freuten sich über dieses Wiedersehen. In dem schon zur Heimat gewordenen „Haus Union“ herrschte ein Betrieb wie früher, als ob Corona endgültig überwunden sei.

Der 1. Vorsitzende Klaus-Arno Lemke begrüßte die Landsleute und gab einen kurzen Überblick über die Ereignisse der letzten Monate: Neuwahl des Vorstandes im Mai, Situation der Kreisgruppen, Probleme durch die politische Situation, besonders durch den Krieg in der Ukraine. Das Treffen auf Schloss Burg ist für Sommer 2023 geplant. In Alfred Nehrenheims Ansprache kam wie in der Lemkes die Überzeugung zum Ausdruck, dass der Einsatz für Ostpreußen sinnvoll und lohnenswert ist. Die stellvertretende Vorsitzende unterstrich diesen Standpunkt mit dem Hinweis auf das reiche Kulturerbe, das immer mehr internationales Interesse findet. Grenzüberschreitende Tagungen und Publikationen zeugen davon.

Es war der Landesgruppe gelungen, Christopher Spatz als Referenten zu gewinnen. Zunächst sprach er über sein Buch „Nur der Himmel blieb derselbe: Ostpreußische Hungerkinder“, das den Anwesenden weitgehend bekannt war. Da beeindruckte die Nachricht, dass das Schicksal der Hungerkinder unverändert internationales Interesse findet. Der Referent konnte von einer Tagung in Memel mit der dortigen Stadtschreiberin wenige Tage zuvor berichten.

Die Hungerkatastrophe im Königsberger Gebiet ab 1945 forderte 220.000 Tote. 1947 ging es nur noch ums Überleben, familiäre Bindungen traten in den Hintergrund. Kinder, immer die Schwächsten in Kriegs- und Notzeiten, waren zum Tode verurteilt. Litauen nannte Spatz das „Tor der Rettung“ für die Kinder, die sich unter Lebensgefahr als blinde Passagiere und zu Fuß aufmachten. Aber auch in Litauen war ein jahrelanges Vagabundieren und Betteln oft ihr Schicksal oder sie fanden Unterkunft als billige Arbeitskräfte. Im Allgemeinen wurden die Litauer als wohlwollend erlebt, aber Schulbesuch gab es nicht, der Bildungsknick wirkte sich aus. Und nicht nur das: Wer bereit war, seine deutsche Identität aufzugeben, hatte bessere Chancen.

Die Kinder und Jugendlichen, die später in die DDR oder in die Bundesrepublik ausreisen konnten, stellten, so eine Lehrereinschätzung von 1951, eine Art Auslese dar. Das sollte sich bestätigen, denn viele der „Wolfskinder“ wurden tüchtige Menschen und Staatsbürger. Generell ist der hohe Anteil an Akademikern unter allen Flüchtlingskindern eine Auffälligkeit. Die psychischen Schäden dieser Kinder, die um ihre Kindheit und Jugend betrogen wurden, konnten erst Jahrzehnte später angesprochen werden.

Dasselbe gilt für die Millionen Menschen, die durch das Lager Friedland gingen, das Spatz anhand seines Buches „Heimatlos. Friedland und die langen Schatten von Krieg und Vertreibung“, erschienen 2018, vorstellte. Ende September 1945 wurde in Friedland von den Briten ein Durchgangslager erbaut. Im Dezember 1945 entstand ein größeres, mit Nissenhütten bebautes Areal am Bahnhof. Das Lager Friedland erlangte 1955 weltweite Aufmerksamkeit, als die letzten Gefangenen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft ankamen.

Rückholung der Kriegsgefangenen

Spatz sprach am 8. Oktober zu Menschen, die diese Sensation als Kind miterlebt hatten. Der Einsatz des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer war seinerzeit Stadtgespräch. Der Referent aber lenkte sein Augenmerk auf die Schattenseiten für manche Familien. Vergebliches Warten, Enttäuschungen, schließlich die Ankunft eines fremden Mannes, der für die Kinder nun der Vater sein sollte. Besonders hart war auch hier unter den Ankömmlingen das Los der elternlosen Kinder, die entwurzelt, traumatisiert und voller Misstrauen in eine unbekannte Welt kamen.

Das Buch „Heimatlos“ ist ein reichhaltiges Sachbuch, in dem die Schweizer Journalistin Ré Soupault zu Wort kommt, die 1950 durch die BRD reiste und die Zustände in den Flüchtlingsunterkünften beschrieb – eine schwere Kost. Das harte Schicksal der aus sowjetischer Gefangenschaft entlassenen Frauen wird geschildert, für die der Weg in ein Leben im Westen steinig und mühsam werden sollte.

Nach den Kriegsgefangenen kamen Ströme von Aussiedlern. 1966 wurde der Grundstein zu einem Mahnmal gelegt, das am 15. Oktober 1967 eingeweiht wurde. 2016 wurde im Bahnhofsgebäude von Friedland ein Museum eingerichtet. Aber das Lager ist immer noch in Betrieb, jetzt für Flüchtlinge aus der Ukraine.

Verständlich, dass beide Vorträge einen intensiven Gesprächsbedarf bei den Tagungsgästen bewirkten. Dazwischen sorgte Lemke mit „Ostpreußischer Mundart“ für Erwärmung der Herzen. Es tat so gut, die liebevollen Verkleinerungen zu hören wie beim „Muttche und Omche“. Als Lemke fundiert die Geschichte des Liedes „Ännchen von Tharau“ beleuchtete, das Johann Gottfried Herder 1799 aus dem ostpreußischen Platt ins Hochdeutsche übertrug, stieg die Szenerie des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) auf. Lemke beschrieb das Gut und die Kirche von Tharau und ließ die Zuhörer an einer bittersüßen Anekdote über das Platt teilhaben. 1948 arbeiteten Deutsche unter den Russen im Straßenbau. Jemand riet ihnen zur Vorsicht, wenn sie Deutsch sprachen, da einige russische Aufseher Deutsch verstehen würden. Sie wussten sich zu helfen, sprachen Platt und waren damit auf der sicheren Seite.


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