Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Gradierwerke in Thüringen – Das Einatmen von Solenebel gilt als Wundermittel gegen alle Erkrankungen der Atemwege
Zunächst werden weiße Umhänge gereicht, weit und bauschig. Die Kittel sollen vor Salzablagerungen schützen, denn in Bad Salzungen dreht sich alles um das weiße Gold. Dann beginnt der Rundgang entlang einer mit Dornen und Aststücken gestopften Wand, an der salzhaltiges Wasser, die Sole, heruntertropft.
Die Luft ist leicht vernebelt, angenehm kühl, unwillkürlich möchte man tief einatmen, und genau das ist erwünscht. Willkommen im Gradierwerk Bad Salzungen! Außen ein Kurhaus mit fein ziseliertem Fachwerk, den Vorbildern der Jahrhundertwende nachempfunden, drinnen erwarten den Besucher Saunen und ein Wandelgang.
„Gradierwerk“: Der Name klingt sperrig, doch dessen Patent ist genial. Um den Salzgehalt der natürlichen Sole zu erhöhen, wurde das Wasser über die Wände aus Schwarzdorn gekippt, dabei Sonne und Wind ausgesetzt, bis die gewünschte Konzentration erreicht war – 27 Prozent, mehr Salzanreicherung geht nicht.
Bis ins Jahr 1800 förderten noch
24 Gradierhäuser beiderseits der Werra das wertvolle Salz ans Tageslicht. Als die Arbeiter 1843 bei Bohrungen in 144 Metern Tiefe auf gesättigte Sole trafen, wurde das mühsame Gradieren unnötig. Jedenfalls für die Salzgewinnung. Aber nicht für die Gesundheit.
Gespenstern gleich wandeln wir entlang der steilen Dornenwand und lauschen einer älteren Dame, die sich unter die Besucher gemischt hat und beseelt ihre Mission in den Salznebel schickt. Anneli König war krank, sehr krank, die Ärzte diagnostizierten eine Schwäche der Lunge, kaum konnte sie noch Treppen steigen. Doch dann kam die Zeit, als sie sich selbst kurierte. Jeden Tag ging sie ins Gradierwerk, und zwar solange, bis der salzgesättigte Nebel ihre Lungenbläschen weitete und sie wieder frei durchatmen konnte. Heute lädt sie Kurgäste einmal in der Woche jeweils eine Stunde lang zum Singen ein, als Dank, weil auch Singen gut für die Lungen ist.
Wer durch Thüringen reist, ausnahmsweise nicht auf den Spuren des Dichterfürsten Goethe, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Das Märchen von Rumpelstilzchen fällt einem ein, in dem es darum geht, Stroh zu Gold zu spinnen. So erstaunlich sind die Wege, wie die Schätze der Region derzeit neu entdeckt und für Reisende aufbereitet werden.
Versprühter Wein
Ein Halt in Bad Sulza, beim Gradierwerk „Louise“: Hier wartet eine Wandelhalle mit einem Brunnen in der Mitte, der zur Kur-Zeit feinen Nebel verbreitet. Einmal in der Woche werden in Ergänzung zum Solewasser auch ein oder zwei Flaschen Wein versprüht. Dazu werden Leckereien gereicht, eine schöne Idee, um das Kurerlebnis auszuweiten. Es soll Besucher geben, die Weinsorten wie den Weißburgunder „Jenaer Grafenberg“ im feinen Sprühnebel tatsächlich ausmachen können. Oder das zumindest behaupten.
Wundermittel Salz! Es hilft nicht nur an der frischen Luft, sondern auch unter Tage. Ortswechsel nach Saalfeld: Versteckt hinter einer Holztür liegt der Eingang zu den Saalfelder Feengrotten. Früher schufteten hier Bergleute, sieben Tage in der Woche, zehn Stunden am Tag, um Alaunschiefer abzubauen. Oft standen Kinder neben ihren Vätern, um die Pechfackeln zu halten. Einer musste stets auf die Käfige mit den Ziervögeln achten, die als Seismographen für den Sauerstoffgehalt dienten. Fielen die Vögel von der Stange, wurde es eng mit dem Sauerstoff – da blieb noch eine halbe Stunde, um aufzusteigen und abzuwarten, bis wieder genug Luft im Stollen war.
Wer heute durch die engen Gänge geht, staunt über die tiefen Höhlen, die durch die Arbeit der Bergleute entstanden. Mittendrin im unterirdischen Gewölbe befindet sich eine Heiligenstatue, die den Arbeitern Schutz versprach. Aber wer hielt das schon aus, tagein, tagaus ohne Licht, ohne Sonne? Die Bergleute blieben körperlich kleiner als ihre Landsleute von Saalfeld, und alt wurden sie auch nicht. Und ob sie wohl einen Blick hatten für das Wunderwerk aus Ockergelb, Sandsteinbeige und schillernden Grüntönen, in denen die Feengrotte leuchtet?
Schiefer als der Turm von Pisa
Die Besucher atmen still ein und aus und staunen, wenn in der erleuchteten Höhle tatsächlich für Sekunden ein Luftwesen zu schweben scheint. Der erste Inhalationsstollen Deutschlands hat einen ähnlichen Bedeutungswandel erlebt wie die Gradierwerke: 1937 als „Heilstollen“ zur Linderung von Atemwegserkrankungen eröffnet, schien der medizinische Fortschritt, etwa die Entwicklung von Medikamenten gegen Keuchhusten, diese Kurmethode zu verdrängen. Erst durch die Sanierung der Feengrotten im Jahr 1987 entstand die Idee, den Stollen wieder zu Heilzwecken zu nutzen. Das besondere Klima unter Tage hilft auch heute.
Der offizielle Kurbetrieb begann 1995. Im Heilstollen werden seitdem Liegekuren zur Linderung bei Allergien, Atemwegs- und Lungenerkrankungen angeboten. Nach dem Rundgang werden wir deshalb in wärmende Schlafsäcke kriechen und auf Liegen ruhen. Wer die Augen öffnet, sieht im Halbdunkel schimmernde Klangschalen, hört auf die Töne, die sich an den Bergwänden brechen, schließt die Augen schnell wieder und lässt sich wegtragen in ein Land ohne Pollen, Abgas, Staub und Husten. Hoch verdünntes Radon-Gas, das leise durch den Stollen streicht, unterstützt die Liegekur.
Und noch ein Beispiel für eine neue Nutzung alter Schätze dürfen wir erleben. Nach längerer Fahrt durch die grünen Hügel taucht er am Horizont auf wie eine Fata Morgana: der schiefe Turm von Bad Frankenhausen, abgesackt durch unterirdische Quellen, eigentlich dem Abriss preisgegeben, bis kluge Stadtväter den einzigartigen Wert erkannten. Flugs wurde der Turm gestützt und dient heute als Attraktion. Wer muss noch nach Pisa reisen, wenn es einen schiefen Turm in Thüringen gibt, deutlich schiefer als der in Italien?
Waren die Gradierwerke und der Heilstollen einzelne Perlen in der Kur-Kette, so präsentiert die Toskana-Therme in Bad Sulza ein ganzes Collier. Der Besucher kann sich in verschiedenen Becken treiben lassen und Klänge genießen, die als „Liquid Sound Project“ zur Expo 2000 komponiert wurden. Draußen fällt der Blick auf ein pittoreskes Häuschen, umgeben von Weinreben. Es ähnelt haargenau Goethes Gartenhaus in den Auen der Ilm bei Weimar und ist keine Halluzination, sondern eine maßstabsgetreue Kopie, besonders beliebt als Fotomotiv für Hochzeitspaare. Ist wohl so: Zwischen Saale und Werra warten hinter jedem Hügel Wunder – fast wie im Märchen.