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Zauberberg für Lungenkranke mit Privatloggien zur Sonnenseite: Das oberhalb von Davos im Jugendstil erbaute Sanatorium Schatzalp, das im Roman von Thomas Mann eine große Rolle spielt, ist speziell für gut betuchte Tuberkulosepatienten errichtet worden
Foto: twsZauberberg für Lungenkranke mit Privatloggien zur Sonnenseite: Das oberhalb von Davos im Jugendstil erbaute Sanatorium Schatzalp, das im Roman von Thomas Mann eine große Rolle spielt, ist speziell für gut betuchte Tuberkulosepatienten errichtet worden

Kunst · Geschichte · Essays

Zauberberg-Architektur

Auch Seuchen haben einen Einfluss auf die Baukultur – Zum „Welttuberkulosetag“ am 24. März

Nils Aschenbeck
21.03.2021

Angst vor Krankheiten kann unser Leben verändern – wir erfahren das gerade unter Corona-Bedingungen. Wie die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben und auch unsere Kultur prägen werden, ist noch nicht absehbar. Aber es lässt sich unschwer vorhersagen, dass das Herunterfahren des öffentlichen Lebens eine andere Gesellschaft formt, in der auch die kulturellen Ausprägungen anders und neu sein werden.

In der Geschichte gibt es einen durchaus vergleichbaren Fall, der zeigt, wie auch kulturell wirkmächtig ein Krankheitserreger werden kann. Im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert grassierte in Europa die Tuberkulose. Es gab weder ein Medikament noch einen Impfstoff gegen das Bakterium – und es bedrohte die Menschen in ihren besten Jahren. Die Angst vor der Tuberkulose beendete die verspielte formenreiche und lustvolle Kultur der Gründerzeit und führte in eine aseptische Moderne. Im Gedenken an die mehr als eine Million Menschen, die jährlich weltweit an der Lungenkrankheit sterben, hat man den 24. März zum „Welttuberkulosetag“ erklärt.

Anders als Corona bedrohte die Tuberkulose vor allem junge Erwachsene, die sich anschickten, ihre Karriere zu gestalten. Wer sich infizierte, war mindestens um Jahre zurückgeworfen, musste möglicherweise lange Zeit in Sanatorien verbringen und hatte noch Glück, wenn ihn die Krankheit nicht hinwegraffte. Entsprechend groß war die Angst.

Hygienisch saubere Orte

Bis Ende des 19. Jahrhunderts war noch nicht bekannt, welcher Erreger die so unheimliche Tuberkulose auslöste. In Verdacht gerieten die Staub- und Schmutzansammlungen vor allem in Wohnungen. Schlechte Gerüche, sogenannte Miasmen, die aus Staub und Unrat hervordrangen, wurden als Ansteckungsherd ausgemacht. Aber auch feuchte und dunkle Wohnungen galten als gefährlich.

Nach dem von Deutschland gewonnenen Krieg gegen Frankreich erlebte das Land einen gewaltigen Bauboom. Mit der Industrialisierung wuchsen die Städte in bisher nie dagewesener Weise. Die Architekten und Baumeister entwarfen ausufernde Vorstädte, neue Verwaltungsgebäude und auch Industrieanlagen im historistischen Stil. Sie kopierten die Bauformen vorausgegangener Jahrhunderte wie Gotik, Renaissance oder Barock und überzogen selbst technische Bauten mit aufwendigen, plastisch ausgeführten Stilzitaten. Die Möbel in den gründerzeitlichen Villen wurden ebenfalls mit Schnitzereien reich ornamentiert. Plastiken, Bilder, Teppiche und schwere Vorhänge ergänzten das üppige Raumprogramm historistischer Ästhetik.
Die Wohnungseinrichtungen waren jedoch gerade durch ihre vielen Winkel und Ecken und durch die gerne verwendeten Polster ideale Orte für die gefürchteten Miasmen. In den ersten Jahren und Jahrzehnten der Industrialisierung machten sich die Städter darüber kaum Gedanken, sie waren mit dem Aufbau der Betriebe, der Unternehmen und der Städte beschäftigt. Sie hatten kaum Zeit, sich um allgemeine Gesundheitshygiene zu kümmern. Sie genossen geradezu die Geschwindigkeit der Entwicklung und die immer neuen Spielformen der Gestaltung – ja, das ausgehende 19. Jahrhundert war eine gestalterische Ekstase.

Allerdings gab es bereits in den 1860er Jahren deutliche Vorboten des Unheils. Immer mehr Tuberkulose-Kranke mussten behandelt werden – ohne dass es eine Therapie gab. Zu dieser Zeit gab es erste Sanatorien in Schlesien und in den Alpen, die eine neuartige Behandlung anboten: die wochenlange Exposition der Kranken an die frische Luft und das Sonnenlicht, bevorzugt in den Bergen. Die Licht-Luft-Therapie wurde die Behandlung der ersten Wahl im Falle einer Tuberkulose.

Thomas Manns Zauberberg

Auf dem Gelände des Sanatoriums Arnold Rikli im heute slowenischen Veldes (Bled) waren Licht-Luft-Hütten errichtet worden, die wohlhabenden nordeuropäischen Kranken Heilung versprachen. Die Patienten lebten für Wochen oder Monate in einfachen Hütten, die allein aus einem schlichten Schlafraum und einer großen Licht-Luft-Terrasse bestanden. Aus Gründen der Hygiene waren die Hütten einfach eingerichtet, es gab keine Teppiche und Polster. Die Insassen dieser Hütten, die ihre oft großzügigen Villen in den Industriestädten verlassen hatten, erlebten in Veldes eine Architektur, die im diametralen Gegensatz zur historistischen Architektur und Gestaltung der Zentren stand, sie erlebten die Hütten als Architektur der Gesundheit, als eine Hausform, die ein gesünderes Leben verspricht.

Bald wurden die asketischen Licht-Luft-Hütten gereiht und gestapelt. Schaut man sich die Bilder von Lungensanatorien um 1900 an, dann ist das prägende Element der Architektur die Reihung von Loggien oder Balkonen. Jeder Patient bekam seine eigene kleine zur Bergsonne ausgerichtete Zelle – mit privater Terrasse. Im Jahr 1911 wurde in Davos-Platz das Waldsanatorium „Dr. Jessen“ errichtet. Bekanntester Gast des heutigen Waldhotels war Thomas Mann, der die Aufenthalte dort und seine Spaziergänge zum höher gelegenen Sanatorium Schatzalp in dem Roman „Der Zauberberg“ verarbeitete.

Die Patientenzimmer des Sanatoriums verfügten natürlich alle über eine Loggia. Die Räume waren mit weißen, abwaschbaren Möbeln ausgestattet, die Böden mit Linoleum ausgelegt. Der Speisesaal, im Roman Schauplatz für Gespräche, Diskussion und politische Auseinandersetzungen, erinnerte mehr an Industriehallen denn an die damals üblichen Gastronomie-Räume.
Die Erfahrung der hygienischen, abwaschbaren Architektur der Gesundheit, die tausende junge Leute, darunter viele Intellektuelle und Künstler, in Sanatorien machten und von der sie nach ihrer Rückkehr in den Städten erzählten, brachte den ornamentreichen lustvollen Historismus in den Städten in Verruf. Schnell verbreitete sich die Ansicht, dass historistische Gestaltung direkt krank mache, dass zwischen den historistischen Ornamenten die Tuberkulose-Erreger warteten. Die ornamentreiche Fassadengestaltung wurde in einer Epoche, als Freud die Träume zu analysieren begann, zu einem unbewussten Zeichen der Krankheit umgedeutet. Junge Architekten wollten nun nicht länger historistisch bauen, sie suchten nach neuen modernen und „gesunden“ Formen ohne Ornamente und Stilzitate.

Ein erster Schritt hin zu einer als gesund verstandenen Bauweise war die Reformarchitektur. In Berlin errichtete Hermann Muthesius Reformvillen, in Hamburg waren es neben anderen die Architekten Gebrüder Gerson, in Bremen Heinz Stoffregen. Bauten sollten wie natürlich aus dem Boden gewachsene Pilze erscheinen, möglichst einfach und natürlich gestaltet. Große Terrassen, Freitreppen zum Garten und Rankhilfen an den Fassaden wurden üblich.

Warten auf die Rehabilitierung

Aus der schlichten Reformarchitektur entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine klinisch reine Moderne mit weißen Fassaden, Fensterbändern und Flachdächern. Wenn man die Wohnsiedlungen des Neuen Bauens – in Berlin sind sie heute Weltkulturerbe – mit den alpenländischen Lungensanatorien vergleicht, dann sind die Ähnlichkeiten frappierend. Die bekanntesten Architekten der weißen Moderne waren Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Hans Scharoun.
Auch die Häuser des Neuen Bauens, ab den 1930er Jahren auch „International Style“ genannt, waren zur Sonne ausgerichtet, sie boten allen Bewohnern Terrassen, Balkone oder Dachgärten, die Innenausstattung war in der Regel karg und hygienisch. Abwaschbare Linoleumböden, Stahlrohrmöbel waren die Regel.

Nach 1945 wurde diese Architektur, die aus den Sanatorien kam, weltweiter Standard – und ist in ihrer Klarheit und Reinheit bis heute Vorbild für die aktuelle Architektur. Daran haben auch die Entdeckung des Penicillins und das Ende der Angst vor dem Bakterium nichte mehr ändern können, die kulturelle Änderung hatte sich eingeschliffen.

Die Angst vor der Tuberkulose war die Basis der Moderne. Gleichzeitig hat die Angst vor der Tuberkulose die dekorative unbeschwerte Architektur des 19. Jahrhunderts abrupt abgelöst, eine Architektur, die bis 1900 schönere Stadträume geschaffen hatte, als es die Moderne je vermocht hat. Der Historismus, ab 1900 als krankmachend diffamiert, wartet bis heute auf eine Rehabilitierung.


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