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Warum ein Volksstamm in Namibia wieder nach einem deutschen Reichskanzler benannt werden möchte
Es mutet wie ein Anachronismus an: Während die Regierung Namibias seit Jahren im Rahmen eines Entkolonialisierungsprogramms immer mehr Straßen und vereinzelt auch Ortschaften umbenennt, die aus der deutschen Kolonialzeit und der Ära der südafrikanischen Administration herrühren, wollen die Angehörigen des Volkes der Lozi partout weiterhin als stolze „Caprivianer“ gelten und damit diese Bezeichnung aus den Tagen der deutschen Herrschaft beibehalten. Die Lozi oder Caprivianer setzen sich hauptsächlich aus vier Stämmen (Clans) zusammen, nämlich den Mafwe, den Mashi, den Masubia und den Mayeyi. Beheimatet sind sie im äußersten Nordosten Namibias, dem Caprivizipfel. Der trägt diesen Namen seit dem Jahre 1890, in dem Leo von Caprivi als Reichskanzler mit den Briten den Helgoland-Sansibar-Vertrag abschloss.
In jenem Abkommen vom 1. Juli 1890 erhielt das Deutsche Reich die Insel Helgoland, die seit 1807 britische Kronkolonie gewesen war, und verzichtete dafür auf den Schutzvertrag mit dem Sultanat Witu (Wituland) in Ostafrika sowie Ansprüche auf die Insel Sansibar. Außer Helgoland erwarb das Reich mit dem Caprivizipfel – den Anstoß zu dieser Bezeichnung soll der seinerzeitige Gouverneur Deutsch-Südwestafrikas, Theodor Leutwein, gegeben haben – einen rund 450 Kilometer langen und zwischen 50 und 100 Kilometer breiten Landstreifen im Nordosten der Kolonie mit einem Zugang zum Sambesi. Anfänglich war die Region, die durch die Flüsse Okavango, Kwando und Sambesi begrenzt wird, auch als Deutsch-Barotseland oder Deutsch-Sambesiland bekannt.
Um den deutschen Herrschaftsanspruch durchzusetzen und abzusichern, entsandte Gouverneur Bruno von Schuckmann im November 1908 eine Expedition unter der Leitung des Hauptmanns der Schutztruppe Kurt Streitwolf in das Gebiet. Anfang 1909 wurde der Ostteil des Caprivizipfels erreicht, und am 27. Januar des Jahres – Kaisers Geburtstag – erfolgte die administrative Eingliederung des Territoriums als „Kaiserliche Residentur“ in das Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika. Wenige Tage später gründete man den Verwaltungssitz Schuckmannsburg, benannt zu Ehren des Gouverneurs.
Unabhängigkeit Namibias seit 1990
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Schuckmannsburg schon am 21. September 1914 von einer Polizeitruppe aus dem benachbarten Nordrhodesien (heute Sambia) besetzt, und nachfolgend kam der Caprivizipfel unter die Verwaltung des Britischen Hochkommissars für das Protektorat Betschuanaland (heute Botswana). Ende 1919 erfolgte die Teilung in die Gebiete Ost-Caprivi und West-Caprivi, wobei ersteres von Kasane, letzteres von Maun aus verwaltet wurde (beide Orte liegen in Botswana). Mit Inkrafttreten des Friedens von Versailles am 1. Januar 1921 übernahm dann der Britische Hochkommissar für das Südliche Afrika die Verwaltung (bis 1929), ehe sie für weitere zehn Jahre auf den Administrator von Südwestafrika überging. 1935 wurde zudem der Verwaltungsmittelpunkt Schuckmannsburg nach Katima Mulilo verlegt. Von 1939 bis 1981 war schließlich der südafrikanische Minister für Eingeborenenangelegenheiten in Pretoria für Ost-Caprivi zuständig, während der Westteil des Landstreifens verwaltungsmäßig beim Eingeborenenkommissar von Kavango lag. 1940 erklärte man den Caprivi-Zipfel zum Eingeborenen-Reservat, 1963 zum Eingeborenen-Park, zu dem Weiße nur mit einer besonderen Erlaubnis Zugang erhielten.
Von 1972 bis zur Unabhängigkeit Namibias 1990 unterstand das Gebiet wieder der Administration für Südwestafrika, wobei es allerdings im Mai 1972 im Zusammenhang mit der südafrikanischen Politik der getrennten Entwicklung zur Bildung des Homelands Ost-Caprivi kam, das im Jahr darauf zunächst autonom wurde und am 1. April 1976 unter dem Namen Lozi die Selbstverwaltung erhielt. Neue Hauptstadt wurde Linyanti, doch erfolgte schon bald hernach wieder die Verlegung nach Katima Mulilo, das verkehrsgünstiger lag und zudem über den von der Südafrikanischen Luftwaffe (SAAF) neu angelegten Flughafen M'pacha verfügte.
Festlegung der Regionen 1992
Mit der Revolution in Portugal 1974 und dem damit einhergehenden Verlust seiner Kolonien begann auch für Südafrika eine neue Zeit. Nachdem schon 1966 erstmals Guerilla-Trupps der Südwestafrikanischen Volksorganisation (SWAPO) von Angola aus über die Grenze nach Südwestafrika eingedrungen waren, verstärkten sich solche Angriffe ab 1974/75. Während bis 1973 die Südafrikanische Polizei (SAP) die Abwehr bewältigen musste, lag diese Aufgabe von da an in den Händen der Südafrikanischen Streitkräfte (SADF), die dafür mit zunehmender Stärke an der Nordgrenze stationiert wurde. Betraf die Gefahr anfänglich vor allem das Ovamboland, fanden in den Jahren 1977 und 1978 auch massive Übergriffe von Buschkämpfern im Gebiet von Ost-Caprivi statt, wo die Südafrikaner aber schnell die Oberhand gewannen, sodass die Zeit von 1979 bis 1989 weitgehend ruhig blieb.
Mit der Caprivi African National Union (CANU) war 1963 eine Befreiungsbewegung entstanden, die sich im Jahr darauf der SWAPO anschloss und mit dieser zusammen den bewaffneten Kampf propagierte. 1980 kam es jedoch zum Bruch zwischen den Führern der beiden Organisationen, denn die CANU bestand auf einer weitgehenden Selbständigkeit, wohingegen die SWAPO einen zentralistischen Staat anstrebte. 1985 ging die CANU schließlich in der neugegründeten UDP (United Democratic Party – Caprivi Freedom) auf, deren Forderung in einer völligen Unabhängigkeit des Caprivizipfels vom künftigen namibischen Staat bestand. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass sich die Politiker auf die Seite der von Südafrika favorisierten Demokratie-Bewegung (unter anderem Demokratische Turnhallen Allianz/DTA) schlugen. Auch waren jetzt viele Caprivianer bereit, sich den südafrikanischen Streitkräften anzuschließen und somit gegen ihren einstigen Koalitionspartner SWAPO ins Feld zu ziehen. Im August 1977 wurde das aus Angehörigen des Lozi-Volkes bestehende 33. Bataillon gegründet, das nach Aufstellung der landeseigenen Streitkräfte 1980 zum 701. Bataillon wurde und sich bis 1989 im Anti-Terror-Kampf bewährte. Im Unterschied zum Rest des Landes, in dem Afrikaans die vorherrschende Verkehrssprache war, bildete im Caprivizipfel von jeher Englisch die Lingua franca – was nun auch für die Kommandosprache in den Streitkräften galt –, weil die Verbindungen zu den britischen Kolonialgebieten Rhodesien und Betschuanaland enger waren als zur entfernt liegenden Landeshauptstadt Windhoek.
Neue Regionen seit 2013
Zurückblickend wundert es nicht, dass die DTA von 1989 bis 1999 die dominierende Partei in Ost-Caprivi war, wollte man doch ein Gegengewicht zur im Lande herrschenden SWAPO bilden. Nachdem Namibia 1990 unabhängig geworden war, plante die neue Staatsmacht eigentlich, die koloniale Bezeichnung Caprivizipfel durch „Liambezi“ zu ersetzen, doch die Proteste der Bewohner des Gebietes fielen derart heftig aus, dass der alte Name letztlich bestehen blieb. Als aber klar wurde, dass die Unabhängigkeit Ost-Caprivis kein Thema mehr für die Regierung in Windhoek war, etablierte die UDP 1994 die Caprivi Liberation Army (CLA), die aus der Sezessionsbewegung Caprivi Liberation Movement der 1980er Jahre hervorgegangen war. Nachdem die namibischen Streitkräfte (NDF) im Oktober 1998 ein Ausbildungslager der CLA ausgehoben hatten, flohen 2500 Caprivianer nach Botswana, und bei den Regionalwahlen im Dezember des Jahres übernahm die SWAPO alle Sitze, weil die DTA diese nicht mehr besetzen konnte. Am 2. August 1999 kam es dann zur offenen Rebellion gegen die Regierung in Windhoek, die durch Polizei und Armee niedergeschlagen wurde, nachdem Namibias Gründungspräsident Sam Nujoma noch den Notstand ausgerufen hatte. Die Anführer des Putsches flohen nach Botswana und erhielten bald darauf politisches Asyl in Dänemark. Mehrere hundert Personen wurden jedoch wegen Hochverrats und Mordes verurteilt.
Ab 1994 war der Caprivizipfel aufgeteilt: West-Caprivi wurde als Teil der Region Kavango verwaltet, Ost-Caprivi bildete die Region Caprivi. Die dort lebende Bevölkerung hielt an der Bezeichnung Caprivianer fest, und am 7. Oktober 2002 erklärte man die Heimatregion sogar zum „Free State of Caprivi Strip“. 2013 fand dann eine größere „Entkolonialisierungsaktion“ statt, mit der am 8. August des Jahres die Caprivi-Region in Region Sambesi umbenannt wurde. Außerdem erhielt das nur noch 800 Einwohner zählende Schuckmannsburg den neuen Namen Luhonono. West-Caprivi wurde zum selben Zeitpunkt in Region Kavango-Ost umbenannt. Katima Mulilo erlebte im August 2014 Massenproteste, bei denen gefordert wurde, die Umbenennungen rückgängig zu machen.
Protest gegen Umbenennungen
Zehn Jahre später ist die Thematik nun wieder aktuell: Zwei Aktionsgruppen – Namibian Lives Matter Movement (NLMM) und Zambezi Development Associations (ZDA) – forderten im Mai 2024 lautstark die Rückbenennung der Region in Caprivi, außerdem müsse die Region Kavango-Ost (ehemals Caprivi-West) erneut an den Osten angeschlossen, also der Caprivizipfel in seinen historischen Grenzen wiederhergestellt werden, wobei man sich auf eine Vereinbarung vom 4. Mai 1977 berief, in der Häuptlinge aus Kavango und Caprivi die Mitte des Kavango-Flusses als Grenze zwischen den Regionen festlegten. Die diesjährigen Aktivisten entfernten gewaltsam das Schild „Zambezi Region“, was allerdings Regionalgouverneur Lawrence Sampofu verärgerte, der ansonsten eine Petition der Protestierenden entgegennahm, die er an den Präsidenten Namibias weiterleiten wollte, und zugleich betonte, das Anliegen grundsätzlich zu unterstützen. Ein Demonstrant brachte zum Ausdruck, dass die Bewohner der Region sich selbstverständlich immer noch als Caprivianer empfinden, und wenn man ihnen das nehmen wolle, bedeute es den Verlust ihrer Identität. Er selbst jedenfalls sei sowohl stolzer Caprivianer als auch stolzer Namibier.
Ob das Anliegen letztlich zum Erfolg führen wird, bleibt abzuwarten. Man verweist in dem Zusammenhang aber gerne auf das Beispiel der Stadt Lüderitzbucht, die 2013 ebenfalls umbenannt werden sollte, sich aber erfolgreich dagegen wehrte. Schon 1993 hatte der Nama-Häuptling Dawid Fredericks vorgeschlagen, Lüderitzbucht in !Nami‡Nûs (Klicklaut) umzubenennen, was die Regierung 2012 schließlich billigte und am 9. August 2013 bekanntgab. Kurz darauf, am 27. August des Jahres, protestierten Bewohner mehrheitlich gegen die Umbenennung, woraufhin die Regierung erklärte, alles beruhe auf einem „Missverständnis“, denn nur der Wahlkreis sei umbenannt worden, während die Stadt selbst weiterhin ihren Namen behalte. 2015 unternahm der Nama-Häuptling allerdings einen neuen Versuch, auch die Stadt umzubenennen, was einmal mehr auf den Widerstand der Einwohner und des Lüderitz Heritage Committee stieß, die ein Plebiszit forderten. Die Bürgermeisterin stellte im Februar 2015 im Übrigen klar, dass noch keine Entscheidung zur Umbenennung getroffen worden sei, und daran hat sich seither nichts geändert. Sie betonte jedoch in aller Deutlichkeit, der deutsche Name sei Teil „unserer Identität und hat uns immer ausgezeichnet“. Am Rande sei noch erwähnt, dass es in Windhoek nach wie vor eine Caprivi-Straße gibt, bei der man offenbar übersehen hat, sie umzubenennen.