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Historie

Als Wien noch Zentrum war

Vor 150 Jahren eröffnete Kaiser Franz Joseph I. in seiner Haupt- und Residenzstadt die Weltausstellung

Eberhard Straub
01.05.2023

Mit der Weltausstellung, die vor 150 Jahren, am 1. Mai 1873, in Wien eröffnet wurde, wollte Franz Joseph, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, mit berechtigtem Stolz die Besucher auf die ungebrochene Macht der „Donaumonarchie“ hinweisen. Der Pechvogel, wie er sich selbst nannte, hatte die Niederlagen 1859 bei Solferino im Krieg mit den Franzosen und 1866 bei Königgrätz, besiegt von den Preußen, trotz des Verlustes der Lombardei, Venetiens und des Ausschlusses aus dem Deutschen Bund erstaunlich gut überstanden. Seine Völker begehrten nicht gegen ihn auf. Für den Fasching 1867 gab Johann Strauß mit seinem neuesten Walzer den Rat: „Was nutzt das Bedauern, / das Trauern! / Drum froh und heiter seid“. Dieser Walzer blieb als Lobpreis der schönen, blauen Donau, mit später veränderten Worten, bis heute unvergessen. In diesem Sinne gab sich auch Franz Joseph einige Tage vor der Eröffnung des festlichen Ereignisses zuversichtlich: „Unter günstigen Voraussetzungen tritt das große Unternehmen ins Leben. Der Friede Europas ist ungetrübt und Österreich nach allen Richtungen in erfreulichem Aufschwung begriffen“.

Der Kaiser hatte wieder einmal Pech: Es regnete fürchterlich bei der Eröffnung, und der Mai begann mit ungewöhnlicher Kälte. Das war allerdings nur ein Missgeschick im Vergleich zu der großen Katast­ro­phe, dem Börsenkrach am 9. Mai aufgrund hitziger Spekulationen, die von Berlin aus im Zusammenhang mit den französischen Kriegsentschädigungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 auch in Wien ansteckend wirkten. Der Ausbruch der Cholera verstärkte das plötzliche Misstrauen in die Berechenbarkeit der Dinge. Viele der verwegenen Glücksritter suchten im Selbstmord den einzigen Ausweg, um Not und Schande zu entgehen. Dennoch erschütterte auch diese Krise weder den Thron noch den Zusammenhalt des Reichsverbandes. In gewisser Weise erwiesen sich die jeweiligen, vorübergehenden Erschütterungen sogar als vorteilhaft. Denn Österreich musste von nun an nicht mehr hartnäckige Anstrengungen unternehmen, um in Deutschland und Italien weiterhin führende Aufgaben wahrzunehmen. Ein Verzicht auf die Hegemonie in der Mitte Europas, von der Ostsee bis zum Mittelmeer, konnte viele Energien wecken, um zu einer wirklich überzeugenden Großmacht zu werden, die aus der eigenen Substanz lebt, ohne deshalb deutsche wie italienische Anregungen entbehren zu müssen.

Kaiserlicher Pechvogel

Das Ziel der deutschen Politik Wilhelms I. und Otto von Bismarcks war trotz des Krieges von 1866 eine enge Übereinstimmung mit Österreich, eine Einigkeit, die auf staatlich-politische Einheit nicht angewiesen war. Auf diesem Wege wurde von beiden erreicht, was den nationalliberalen Revolutionären nicht gelungen war: ein engerer deutscher Bund, ein Nationalstaat, gruppiert um Preußen, und ein weiterer Bund mit Österreich als dauerndem Verbündeten. Das setzte allerdings voraus, dass die Reichsdeutschen davon absahen, um die Deutschen in Österreich zu werben und ihnen eine Heimkehr ins Reich als wünschenswert zu suggerieren. Die Deutschen in Österreich sollten vielmehr unbedingt Österreicher werden und sich nicht als erlösungsbedürftige Auslandsdeutsche verstehen. Auch als selbstbewusste Österreicher konnten sie weiterhin teilhaben an der Kulturnation, zu der sie ja selbstverständlich gehörten. Die pompöse Ringstraße, deren erster Abschnitt 1867 eröffnet worden war, wurde zum Symbol für das neue Österreich. Je österreichischer die Donaumonarchie wurde, desto mehr zog sie Deutsche aus dem Reich an und gewann darüber einen erheblichen Einfluss auf Deutsche, den sie mit solcher Intensität früher gar nicht ausgeübt hatte.

Wien blieb nicht nur, was es schon immer gewesen, die einzigartige Hauptstadt des guten Geschmacks mit einer weltläufigen, vornehmen Gesellschaft. Wien wurde nun auch zu einer Stadt der Wissenschaften, eine Weltstadt des Geistes, die selbstbewusst die Norddeutschen herausforderte, nicht zuletzt die Unfehlbarkeiten am grünen Strand der Spree. Ohne Wien und das übrige Österreich wären die Reichsdeutschen recht versponnene Provinzler geblieben. Sie durften unter keinen Umständen Prag, Graz, Innsbruck, Triest, Budapest, Agram (Zagreb), Lemberg (Lwiw), ja nicht einmal das ferne Czernowitz vernachlässigen, wollten sie nicht riskieren, den Anschluss an aufregende Tendenzen und Ideen zu verlieren. Die deutsche Kultur empfing aufgrund der österreichischen und ungarischen Dynamik eine erstaunliche Weite. Sie wurde über die geistig belebenden Wirkungen, die aus Österreich-Ungarn kamen, hineingezogen in eine mitteleuropäische Weltkultur, die sich im Austausch der Städte entfaltete, der viele Sonderformen zuließ und nicht nach gleichen Lebensverhältnissen und homogenisierten Weltbildern strebte.

Gründerkrach von 1873

Der Austausch blieb nicht einseitig. Auch die „Kakanier“, die Einwohner der k.u.k. Doppelmonarchie, reisten aus allen Städten in die sonderbarsten deutschen Orte, die mit Überraschungen aufwarteten. Wie einst das Latein als Reichssprache alle miteinander verknüpfte, war es jetzt die deutsche Sprache, die beherrschen musste, wer sich wie ein Fisch im Wasser in diesem Kulturraum als einen ihm bequemen Element bewegen wollte. Aber die Deutschen ihrerseits, ob im Reich oder in Österreich-Ungarn, waren noch nicht einsilbig und wortkarg geworden. Sie eigneten sich die Sprachen der anderen Völker an, mit denen sie zusammenlebten, sich einander ergänzend und sich untereinander vermischend. Im Mitteleuropa vor 1914 musste nicht unentwegt Europa als Auftrag und Chance beschworen werden. Es gab immer wieder, betrieben von nationalistischen Eiferern, Sprachkonflikte, doch insgesamt schätzten die beweglichen und ehrgeizigen Temperamente die Vorteile, die sich ihnen boten, wenn sie sich in mehreren Sprachen auszudrücken und darüber ihren eigenen Seelenraum zu erweitern vermochten.

Es gelang von Wien aus, unaufdringlich eine für sämtliche Reichsteile angenehme, umfassende Lebenskultur verbindlich zu machen. Im Kaffeehaus konnte jeder zum „gelernten Österreicher“ werden, auch ein Ungar oder Kroate oder Triestiner. Dort waren die Zeitungen aus allen wichtigen Städten in großer Auswahl vorhanden. Eine gemeinsame, meist vortreffliche Küche stiftete über manche Differenzen hinweg immer wieder das gar nicht so flüchtige Glück übereinstimmender Gemüter in verwandter Atmosphäre. „Die Speisehäuser haben in der ganzen Monarchie die gleiche Einrichtung“, hieß es im Reisehandbuch Baedekers für die gesamte Monarchie 1913. Doch das galt nicht weniger für die Städte von Bregenz bis hinüber nach Czernowitz. Oper, Theater, Bahnhof und Museum, der Stadtpark, und der zum Corso, zur Geselligkeit einladende Boulevard in Anlehnung an die Ringstraße, ähnelten einander überall während der franzisko-josephinischen Epoche, ja noch darüber hinaus bis zum Zweiten Weltkrieg.

Wie einst die Römer versorgten die kaiserlichen und königlichen Beamten die Städte des Reiches mit dem, was ihres Erachtens nach eine Stadt dringend benötigte, um urban zu wirken, wie ein Wien im Kleinen, und den Bürgern zu liebenswürdiger Lebensart zu verhelfen. Der Nationalismus, den die Revolution 1848 auch in Mitteleuropa aufgeregt hatte, konnte über die gefälligen, verwandten Lebensformen gemildert und entschärft werden. Nicht zu reden von Kunst und Wissenschaft, die sich gar nicht abzuschließen vermochten von den jeweils eigenartigen Entwicklungen in den von einem verschiedenen „Volksgeist“ geprägten nationalen Räumen, den Wissenschaftler erforschten und der Musiker oder Maler, Dichter oder Dramatiker auf eigenwillige Gedanken brachte, die überall Aufmerksamkeit fanden. Der rege Austausch half über manche Spannungen hinweg und ermöglichte einen lebendigen Zusammenhang der Teile, die sich gar nicht mehr selbstgenügsam auf sich beschränken konnten. Eine geistige Beweglichkeit entsprach der praktischen Mobilität, wie sie die Eisenbahn verursachte, die auch in ganz entlegene Winkel eindrang und es jedem, der neuer Dinge begierig war, ermöglichte, rasch dorthin zu gelangen, wo er hoffen durfte, sich geistig ins Weite zu versetzen und die entsprechenden Gefährten zu finden, die ihn auf ungewöhnliche Weise bei ihrem Aufbruch zu allen möglichen Entdeckungsreisen mitnahmen.

Verzicht auf die Hegemonie

Die franzisko-josephinische Epoche und die Gründerzeit oder der Wilhelminismus im Deutschen Reich waren gerade wegen der unübersichtlichen Fülle an Versuchen, sich wagemutig auf das Leben einzulassen und sich dabei zu bewähren auf welchem Gebiet auch immer, ein glänzendes Zeitalter voller Verheißungen, die jeden dazu aufmunterte, nicht im Kleinen zu beharren, sondern beherzt auszugreifen, ohne Furcht, vielleicht so zu scheitern wie die kecken Spekulanten 1873. Die Erinnerung daran dämpfte nicht den Elan, der hinaus wollte aus den kleinen, engen Verhältnissen, die viele tatsächlich hinter sich im „wesenlosen Scheine“ ließen, um mit ihren Werken, ob in der Kunst, der Wissenschaft oder anderen kühnen Unternehmen Trägheit in Staat und Gesellschaft zu überwinden. Eine Vorstellung von Mitteleuropa, wie es vor 1914 bestand, hat sich in zwei Weltkriegen und der Unfähigkeit, von der Mitte Europas aus zu einer neuen stabilen Ordnung zu gelangen, vollständig aufgelöst. Die gemeinsame, wechselvolle Geschichte geriet dabei in Vergessenheit. Deutschland ist nun endgültig Provinz geworden, wirtschaftlich vielleicht noch immer mächtig, aber ohne Erinnerung daran, einmal Teil eines erstaunlichen Kulturraumes gewesen zu sein.

Nicht viel anders verhält es sich in Österreich, in Tschechien, der Slowakei und in Ungarn. Die ehedem gemeinsame Welt ist endgültig als Welt von gestern abgetan und irritiert höchstens als fragwürdig gewordenes Erbe. Alle drängen in den ideologisierten Westen und wollen darin als Westeuropäer untergehen, was sie in der Mitte Europas nie waren. Denn eine starke Mitte sollte ja, wie Klemens Wenzel Lothar von Metternich und Bismarck hofften, dazu bereit und fähig sein, den Westen und den Osten vor Eskapaden zu bewahren und ihn damit vor sich selbst schützen. Dieser Verlust der Mitte brachte Europa um seine Balance und Substanz. Davon sprach der Österreicher, der Deutsche und der Mitteleuropäer Hugo von Hofmannsthal, wenn er 1928 bemerkte: „Und so haben wir ein Vaterland, eine Aufgabe – und eine Geschichte – gehabt, und müssen weiterleben.“

• Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören „Zur Tyrannei der Werte“ (2010), „Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert“ (2012) sowie „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (2014, jeweils bei Klett-Cotta).
www.eberhard-straub.de


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Kommentare

Chris Benthe am 10.05.23, 06:34 Uhr

Exzellenter Beitrag zur europäischen und deutschen Geschichte. Mit Vergnügen gelesen.

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