Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Über ein einzigartiges Engagement zugunsten der „Wolfskinder“, die Kämpfe mit der deutschen Bürokratie, die ihnen die Anerkennung verweigerte – und den bleibenden Raum unserer Landsleute in der deutschen Erinnerungslandschaft
In das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit rückte das Schicksal der „Wolfskinder“ erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Zu denjenigen, die sich – neben den verschiedenen Gliederungen der Landsmannschaft Ostpreußen – seitdem um sie kümmern, gehört der langjährige Bundestagsabgeordnete Wolfgang v. Stetten. Seine Erlebnisse während seines Engagements hat er vor Kurzem in einem Buch zusammenfasst.
Herr v. Stetten, in Ihrem Buch „Wolfskinder – Glücksmomente“ blicken Sie auf ein dreißigjähriges außerordentliches Engagement zurück. Wie kamen Sie als Mitglied einer alten süddeutschen Familie Anfang der 90er Jahre dazu, sich mit dem Schicksal dieser Landsleute zu befassen?
Das kam dadurch, dass ich damals Vorsitzender des Deutsch-Baltischen Freundeskreises, später dann der deutsch-baltischen Parlamentariergruppe wurde. Bei den Begegnungen im Rahmen dieser Tätigkeit kam eines Tages die Vorsitzende des Wolfskinder-Vereins „Edelweiß“, Frau von Sachsen nannte sie sich, auf mich zu und schilderte mir das Schicksal dieser Landsleute. Das Auswärtige Amt hatte ihr den Hinweis gegeben. So hörte ich erstmalig von den ostpreußischen Hungerkindern. Leider erst im Sommer 1992.
Warum „leider“?
Weil viele „Wolfskinder“ damals, ein Jahr nach dem Zerfall der Sowjetunion, bereits die litauische Staatsbürgerschaft angenommen hatten. Hätten sie noch die sowjetische besessen, hätten sie ohne Probleme unsere Staatsangehörigkeit annehmen können, weil ihnen die sowjetische nach dem Zweiten Weltkrieg zwangsweise übergestülpt worden war. Für die litauische Staatsbürgerschaft hatten sie sich jedoch freiwillig entschieden, deshalb galten sie für die Bundesrepublik nun als Ausländer. Und damit waren unsere Landsleute leider auch von den Leistungen des deutschen Sozialstaats ausgeschlossen.
Mir ging das Schicksal dieser ostpreußischen Bettelkinder natürlich zu Herzen. Darum haben wir angefangen, uns für sie auf verschiedenen staatlichen und privaten Ebenen einzusetzen. Damals lebten in Litauen noch einige Hundert von ihnen. Viele davon in bitterer Armut und unterprivilegiert, weil sie keine Schule besuchen konnten. Manche kannten noch nicht einmal ihre wahre Identität und wussten allenfalls, dass sie Deutsche waren. Und dann waren sie natürlich auch verbittert über den Umgang der Bundesrepublik mit ihnen nach 1991. Sie glaubten, dass Deutschland sie mit großem Hallo als Deutsche annehmen würde, aber dem war leider nicht so.
Sondern?
Zunächst lief alles unbürokratisch. Auch das Auswärtige Amt sagte, dass die „Wolfskinder“ keine besonderen Anträge zu stellen bräuchten, da sie Deutsche sind und deshalb wie Staatsbürger behandelt würden. Und diejenigen, die damals schnell ihre Anträge gestellt haben, sind auch ohne Weiteres mit allen Rechten als Deutsche anerkannt worden. Sie konnten ausreisen und bekamen in der Bundesrepublik ihre entsprechenden Renten.
Dann kamen jedoch aus den Tiefen der Bürokratie Beton-Juristen auf die Idee, dass die „Wolfskinder“ staatsrechtlich keine Deutschen mehr seien, weil sie – wie oben geschildert – inzwischen die litauische Staatsangehörigkeit angenommen hatten. Dass zuvor niemand unsere Landsleute über die Konsequenzen einer Annahme der litauischen Staatsbürgerschaft aufgeklärt hatte, war den Verwaltungsjuristen egal.
Letztlich einigten wir Unterstützer der „Wolfskinder“ uns mit den Bürokraten auf einen faulen Kompromiss, der besagte, dass die Landsleute von da an wie Aussiedler behandelt werden sollten. Also wie die Nachfahren von Leuten, die vor dreihundert Jahren nach Russland ausgewandert waren und nun nach Deutschland wollten. Dabei waren die „Wolfskinder“ als Deutsche in Deutschland geboren und als Kinder ohne jedes eigene Verschulden aus ihrem Vaterland verdrängt worden. Dieser Kompromiss war sehr bitter für die Betroffenen und auch für mich. Ich habe ihm dennoch zugestimmt, weil die Debatten sonst noch länger gedauert hätten und angesichts des inzwischen hohen Alters vieler Betroffener viele verstorben wären, bevor sie überhaupt eine Anerkennung durch Deutschland erhalten hätten.
Und warum sind Sie dennoch persönlich aktiv geworden?
Als ich merkte, dass die in Litauen lebenden Landsleute noch immer keine finanzielle Hilfe bekamen – sie bekamen nicht einmal die Mindestsätze der Sozialhilfe –, haben wir eben angefangen, für sie zu sammeln, damit sie wenigstens etwas Unterstützung hatten. Das waren am Anfang 30 D-Mark monatlich, damals eine halbe litauische Monatsrente, in den letzten zehn Jahren waren es dann 150 Euro pro Person. Aber der deutsche Staat hat bis heute keine Verantwortung für sie übernommen. Sie bekamen zwar vor zwei Jahren – von den einst dreihundert lebten noch ungefähr 35 in Litauen – einen Einmalbetrag von 2500 Euro, doch die meisten haben dies natürlich nicht mehr erlebt, weil sie längst tot waren. Und eine Rente oder Sozialhilfe bekommen sie heute noch nicht.
Wie haben unsere Landsleute auf diese Behandlung durch ihr Heimatland reagiert?
Schon mit erheblicher Bitterkeit. Obwohl sie von den Litauern nach dem Kriege als deutsche Kinder aufgenommen worden waren, mussten sie in der Sowjetunion über vierzig Jahre ihre Abstammung verschweigen. Man hatte ihnen ihre deutsche Identität genommen, und deshalb konnten auch die meisten von ihnen ihre Muttersprache entweder gar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt sprechen. Viele sind Analphabeten gewesen, weil sie in prägenden Jahren ihrer Kindheit keine Schule besuchen konnten. Das alles hatten sie gelernt zu ertragen, aber dass der deutsche Staat auch nach dem Fall der Grenzen stur geblieben ist und ihnen nicht wenigstens Sozialhilfe wie in Deutschland gezahlt hat, hat viele verbittert – und ist mir heute noch unverständlich. Deshalb spreche ich auch von „Beton-Juristen“, die an den Buchstaben des Gesetzes kleben, ohne die menschlichen Tragödien unserer Landsleute zu sehen.
Sie schildern in Ihrem Buch auch viele Begegnungen mit unseren ostpreußischen Landsleuten. Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders bewegt hat?
Da gibt es einige. Eine Dame zum Beispiel hatte einen Mann, der Säufer war und sie ständig geschlagen hat. Als der Mann tot war, haben die Kinder sie geschlagen. Deshalb hat sie sich zurückgezogen in ihre Wohnung und lässt niemanden mehr hinein, aus Angst vor weiteren Drangsalierungen. Das zeigt, wie das Schicksal der Nachkriegsjahre viele Biographien bis heute prägt.
Auf der anderen Seite, und das ist ja auch ein Kernpunkt meines Buches, gab es für die „Wolfskinder“ auch viele Glücksmomente. Es sind bei Kriegsende etwa zehn- bis fünfzehntausend Ostpreußen-Kinder nach Litauen geflohen, von denen wären die meisten sicher verhungert, wenn nicht die Litauer, die ja selber nicht viel hatten, ihnen geholfen hätten. Im Königsberger Gebiet sind die meisten Zurückgebliebenen verhungert. In Litauen haben sie hingegen nicht nur etwas zu essen bekommen, sondern nach langer Zeit endlich mal wieder in einem Bett schlafen können oder sogar ein echtes Zuhause gefunden. Das waren wahre Glücksmomente in einer furchtbaren Situation. Deshalb widme ich mein Buch auch dem litauischen Volk.
Was konnten Sie mit Ihrer privaten Hilfsinitiative erreichen?
Wir haben bis heute insgesamt rund 1,1 Millionen an die Wolfskinder übergeben können. Das ist, glaube ich, schon eine ganze Menge. Aber die Mittel mussten zusammengebettelt werden, ich konnte die Gelder natürlich nicht aus meiner Tasche zahlen.
Wer ist in diesem Falle „wir“?
Eine wichtige koordinierende Funktion hatte meine Chefsekretärin Monika Mandt. Wichtige Unterstützung leistete im Hintergrund der deutsch-baltische Parlamentarische Freundeskreis und auch die Stauder-Stiftung. Hinzu kamen rotarische Freunde und die Johanniter sowie weitere Vereinigungen, denen ich angehöre. Sehr stark moralisch und materiell unterstützt wurde ich von den verschiedenen Vereinigungen der Ostpreußen, vor allem der langjährige Sprecher Wilhelm v. Gottberg hat sich hier eingebracht. Die Landsmannschaft hat immer wieder materielle Hilfe geleistet und war auch eine große Hilfe bei der Suche nach Verwandten. Hier brauchte ich natürlich niemanden zu überzeugen, den Ostpreußen war das Schicksal ihrer Landsleute nur allzu bewusst.
Gibt es bei den heute in Litauen lebenden Nachfahren der „Wolfskinder“, die ja alle litauische Staatsangehörige sind, ein Bewusstsein, ostpreußischer und deutscher Abstammung zu sein?
Wenn die Erlebnisgeneration in Litauen nicht mehr existiert, dann wird da nicht mehr viel übrigbleiben. Die Kinder derjenigen, die damals nicht nach Deutschland gegangen, sondern in Litauen geblieben sind, sind vor Ort voll integriert und fühlen sich auch als Litauer. Sie kennen zwar das Schicksal ihrer Großeltern, aber sie leiten daraus kein landmannschaftliches Gefühl ab.
Gibt es auf Seiten Litauens Bestrebungen, diesen besonderen Teil der eigenen Geschichte in Erinnerung zu halten?
Ja, das ist sehr deutlich. Es gibt sogar ein Museum, das eine große Ausstellung organisiert hat, die auch in Deutschland mehrfach gezeigt wurde. Allerdings gibt es in Litauen traditionell ein großes Wohlwollen gegenüber Deutschland. Das hat vieles erleichtert.
Welchen Raum wünschen Sie sich für die „Wolfskinder“ in der deutschen Erinnerungskultur?
Es ist natürlich wünschenswert, dass wir diesen Teil unserer Geschichte nicht in Vergessenheit geraten lassen. Auch wenn es zahlenmäßig im Vergleich zu anderen Opfergruppen vielleicht weniger waren, so haben wir es hier doch mit Landsleuten zu tun, die in keiner Weise für die Schrecken der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges verantwortlich sind, die jedoch mit am härtesten für die Verbrechen anderer bezahlt haben.
Zum Glück gibt es bereits seit Jahren zahlreiche Bücher, Filme, Dokumentationen und Ausstellungen, die an die „Wolfskinder“ erinnern. Ein Ort für eine dauerhafte Erinnerung ist sicherlich das neue Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin oder auch das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg und das Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen. Ein ganz besonderer Gedenkort in der alten Heimat ist das Wolfskinderkreuz in Pogegen, dessen Pflege die heutige Stadtverwaltung von Pagėgiai inzwischen übernommen hat.
Grundsätzlich gilt, dass die Erinnerung nicht nur eine Aufgabe der Ostpreußen ist, sondern der gesamten Nation. Denn die „Wolfskinder“ haben ihr hartes Schicksal erleiden müssen, weil sie Deutsche waren.
Das Interview führte René Nehring.
• Prof. Dr. Wolfgang v. Stetten ist Rechtsanwalt, Landwirt und Unternehmer. Von 1990 bis 2002 war er Abgeordneter des Wahlkreises Schwäbisch Hall-Hohenlohe für den Deutschen Bundestag. Die Erlebnisse seines Engagements für die ostpreußischen Hungerkinder beschreibt er in seinem 2021 erschienenen Buch „Wolfskinder – Glücksmomente. 30 Jahre litauisch-deutsche Begegnungen“(Molino Verlag).
www.wolfgang-stetten.de