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Zum 150. Geburtstag Rainer Maria Rilkes widmen sich zwei Ausstellungen Leben und Werk des Lyrikers
Am 4. Dezember 1875 kam in Prag René Rilke zur Welt. Sein Vater Josef war Bahnbeamter und sah für den Sohn eine militärische Laufbahn vor. Seine Mutter Sophia aber steckte den kleinen René in Mädchenkleider und vermittelte ihm die Überzeugung, ein ganz besonderer Mensch zu sein.
Rilke mauserte sich zum bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Anlässlich des 150. Jahrestags seiner Geburt sind gleich zwei neue Biographien über ihn erschienen (siehe unten), darunter eine von Sandra Richter, der Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Mitkuratorin der Rilke im dortigen Literaturmuseum der Moderne ab 4. Dezember gewidmeten Sonderschau. Bereits eröffnet ist eine Ausstellung im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum: „Rilke und die bildende Kunst um 1900“.
Wie aber wurde aus dem Jüngling René der gestandene Reimer Rainer? Den neuen Vornamen gab ihm die 15 Jahre ältere Lou Andreas-Salomé. Die verheiratete Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, die einst Friedrich Nietzsche einen Korb gegeben hatte, war 1898 bis 1901 Rilkes mütterliche Muse und Geliebte. Nach dem von ihr herbeigeführten Ende der Liebesbeziehung blieb sie bis zu Rilkes Tod seine enge Vertraute. Ihr widmete er den 1899 bis 1903 in drei Teilen entstandenen Gedichtzyklus, der mit dem Titel „Das Stunden-Buch“ 1905 als erstes seiner Werke im Insel Verlag erschien. Mit seinem erfolgreichsten Werk – der „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ – begann 1912 die erfolgreiche Reihe der Insel-Bücherei.
In der bei Bremen gelegenen Künstlerkolonie Worpswede lernte der Dichter neben den erfolgreichen Landschaftsmalern die angehenden Künstlerinnen Paula Becker und Clara Westhoff kennen. Nachdem Clara von ihm schwanger geworden war, heiratete er sie 1901. Doch schon im folgenden Jahr verließ er die Gattin und Tochter Ruth, um in Paris und Meudon über den Bildhauer Auguste Rodin zu recherchieren, dessen Privatsekretär er später für einige Monate war.
Geisterbeschwörung in Duino
Ein Exemplar der 1903 erschienenen Rodin-Monographie ist in der Bremer Schau „Rilke und die Kunst“ zu sehen. Aufgeboten sind Briefe, handschriftliche Gedichte und Widmungen, die Rilke in von ihm verschenkte Bücher gesetzt hat, sowie Werke von Künstlern, mit denen er sich beschäftigt hat. Ausgestellt sind auch drei Figurenstudien zu Rodins theatralisch gestikulierenden „Bürgern von Calais“ (1895–1899), drei „hingehauchte“ Landschaftsaquarelle (um 1888) Paul Cézannes und Pablo Picassos Radierung zweier Gaukler (1905). Clara Rilke-Westhoff ist mit Porträtbüsten vertreten. Das faustgroße Bronzeporträt, das sie 1905 von ihrem Mann angefertigt hat, zeigt Rilke mit nach vorn geneigtem Haupt. Lässt er traurig den Kopf hängen – oder lauscht er inneren Stimmen?
Von der mit dem Maler Otto Modersohn verheiratet gewesenen Paula Modersohn-Becker sind Stillleben, Landschaften und Figurenbilder ausgestellt. Zentrales Werk ist ihr „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, 25. Mai 1906“. Die bis unter den Bauchnabel nackte Paula imaginiert auf diesem Gemälde ihre noch nicht eingetretene Schwangerschaft. Im Jahr darauf war es soweit. Aber 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter starb sie an einer Embolie.
Der erschütterte Rilke widmete ihr das „Requiem für eine Freundin“ (1908). In diesem langen Monolog mit der platonischen Freundin Modersohn-Becker geht Rilke auf das Selbstbildnis ein und bringt zentrale Motive seiner Dichtkunst zur Sprache. Da heißt es „du gehst um“. Rilke glaubte an die Fortexistenz der Verstorbenen. Auf Schloss Duino bei Triest, wo er 1912 die ersten seiner 1922 abgeschlossenen „Duineser Elegien“ schrieb, nahm er sogar an Geisterbeschwörungen teil. Weiter heißt es im Requiem: „Lieben heißt allein sein.“
Der von Sandra Richter als „Mädchenfänger“ bezeichnete Dichter hatte keine Bedenken, seine Geliebten zu verlassen, um ungestört an seinen Werken zu arbeiten. Er wusste: „Denn irgendwo ist eine Feindschaft zwischen dem Leben und der großen Arbeit.“ Letztere ging für ihn ohne Rücksicht auf menschliche Verluste vor. Für seine anspruchsvolle Schriftstellerei „war er, und das forderte Rilke von seinem Umfeld energisch ein, von allen Verpflichtungen freizustellen und zu alimentieren“, wie Richter ausführt.
Sigmund Freuds Analyse
Die Biographin schreibt: „Rilke genoss den Luxus, den seine Mäzene ihm boten, ließ sich aushalten, verachtete den schnöden Mammon und die guten Dinge nicht, scheute nicht davor zurück, andere mit seinen Begierden zu nerven, sich als unterhaltsam schnorrender Lebenskünstler zu nehmen, was er brauchte.“ Und das nicht nur für sich: Seinen Verleger Kippenberg sowie seine Mäzene brachte er dazu, auch für seine Gattin, seine Tochter und bedürftigen Geliebten zu sorgen.
Der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freund beurteilte ihn als „großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter“. Da ist Richter ganz anderer Meinung: „Tatsächlich war Rilke robust, durchsetzungsfähig, alert, mitunter heiter und selbstironisch, ein Zentralgestirn der zeitgenössischen Gesellschaft, umtriebig und mit vielen verbunden.“ Ihre Biographie und die Sonderschau in Marbach stützen sich auf neue Einsichten, die aus der Erforschung des „Rilke-Archivs Gernsbach“ hervorgegangen sind.
Das 2022 aus dem Besitz von Rilkes Nachkommen für Marbach erworbene Archiv umfasst Manuskripte, Lebensdokumente, Tausende von Briefen an und von Rilke, Notizhefte, 400 Fotografien und seine Bibliothek. Vieles davon war kaum bekannt oder sogar gänzlich unbekannt. Die Sonderschau stellt anhand von 200 Exponaten Rilkes soziale, intellektuelle und künstlerische Welten sowie seine familiären, freundschaftlichen und amourösen Beziehungen vor. Ebenso werden einige Werkgeschichten des Autors der „Aufzeichnungen des Malte Laurits Brigge“ (1910) und der „Sonette an Orpheus“ (1922) vorgestellt.
Rilke, dessen Werke oft vom Tod handeln, starb am 29. Dezember 1926 an zu spät diagnostizierter Leukämie.