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Mit zweijähriger Verspätung führen die Oberammergauer ihre neuen Passionsspiele auf – Der Regisseur stammt selbst aus dem Ort
Nach zweijähriger Unterbrechung probt der Passionsspielleiter Christian Stückl wieder mit mehreren Hundert Kindern und Erwachsenen den Einzug Jesu in Jerusalem. Damals stand er auf einem Tisch, um die Massen zu dirigieren. Heute aber ist er auf der großen Freilichtbühne rastlos unterwegs. Er spielt vor und spricht mit, feuert an und peitscht ein.
Damals verhinderte die Corona-Pandemie die 42. Spielzeit der seit 1634 aufgeführten Passionsspiele. Nun aber sind alle Beteiligten zuversichtlich, dass „der“ Passion, wie der Oberammergauer sagt, über die Bühne gehen wird. Vom 14. Mai bis 2. Oktober sind 103 Aufführungen vorgesehen, zu denen 450.000 Besucher aus aller Welt erwartet werden.
Hat die Corona-Pandemie Einfluss auf Stückls Aufführungskonzept? Er antwortet: „Jesus wird durch Corona doch kein anderer.“ Stückl leitet die alle zehn Jahre aufgeführten Passionsspiele zum vierten Mal. Er will Jesus im Vergleich zu den vorangegangenen Spielzeiten „weniger aufs Theologische als viel mehr aufs Soziale und Ethische bringen“. Jesus tritt in dem römischen Palästina auf, in dem das Volk Israel unterdrückt und ausgebeutet wird. In dieser Welt fordert Jesus dazu auf, Hass und Gegenhass, Gewalt und Gegengewalt aufzugeben. Seine ersten Worte auf der Bühne lauten: „Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Kommt, die ihr geschwächt seid von der Last des Unglücks und des Kummers!“
Der in Oberammergau geborene Stückl ist Theaterprofi. Der Intendant des Münchner Volkstheaters hat als Gastregisseur Theater- und Operninszenierungen an der Staatsoper Hamburg, dem Wiener Burgtheater, dem Schauspielhaus Zürich und vielen anderen renommierten Spielstätten geleitet. Regie führte er auch bei der Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft 2006 in München. Und was er nun mit etwa der Hälfte der 5000 Oberammergauer zur Aufführung bringt, ist alles andere als ein Laienschauspiel. Denn „wir sind alle mit dem Passionsspiel aufgewachsen“, wie Stückl sagt.
Spielberechtigt sind alle in Oberammergau wohnenden Kinder sowie alle Erwachsenen, die in dem 5400 Einwohner zählenden Ort geboren sind oder in ihm seit mindestens 20 Jahren leben. Als Teilnehmer gelten neben den Schauspielern, Sängern und Musikern ebenso die Oberammergauer, die etwa als Näherin, Platzanweiser oder auf andere Weise vor oder hinter der Bühne ihren Dienst tun.
Bühnenauftritte haben diesmal etwa 500 Kinder und 1500 Erwachsene, unter denen eine Dame mit 97 Jahren den Altersrekord aufstellt. Um die am besten geeigneten Leute für die 20 doppelt besetzten Hauptrollen zu finden, unterzieht Stückl seine Mitbürger einem „Dauercasting“. Ob da einer – wie es früher obligatorisch war – katholisch ist, spielt dabei keine Rolle mehr. Unter den genannten Voraussetzungen sind alle Gemeindemitglieder spielberechtigt, ob christlichen, muslimischen, sonstigen oder keines Glaubens. Und so gibt der Muslim Cengiz Görür den „Judas“, weil Stückl ihn als guten Schauspieler schätzt. Eines aber bedauert der Spielleiter: „Was schade ist, wir haben keinen Juden.“
„Lebende Bilder“ aus der Bibel
„Der“ Passion – wie man hier sagt – hat eine durch eine dreistündige Pause unterbrochene Spieldauer von fünf Stunden. Farbenfrohe „lebende Bilder“, die im Alten Testament geschilderte Ereignisse mit Hilfe von Kulissen und für einige Minuten bewegungslos bleibende Darsteller vorführen, wechseln mit szenischen Vorstellungen aus den letzten Erdentagen Jesu, die wegen der Kostüme der Schauspieler in gedämpften blaugrauen, braunen und beigen Tönen daherkommen.
Auf das „lebende Bild“ der „Vertreibung aus dem Paradies“ etwa folgt „Jesu Einzug in Jerusalem“. Stückl lässt ihn von zahlreichen Salven des Freudenrufes „Hosianna!“ begleiten, den Judas oder Petrus anstimmen und den das Volk wie Donnerhall erwidert. Damit alle Besucher im Bilde sind, führen vor Spielbeginn Mitwirkende in das mit der Auferstehung endende Geschehen ein.
In der katholischen Pfarrkirche begegnet man den ältesten Zeugnissen der Oberammergauer Passionsspiele. Den Mittelpunkt des Kreuzaltars bildet der Christus-Korpus, vor dem die Gemeindevorsteher 1633 das Passionsgelübde ablegten. Mit ihm versprach die Gemeinde, alle zehn Jahre das Spiel von Leiden, Sterben und Auferstehung des Herrn aufzuführen, falls die Einwohner fortan von der Pest verschont bleiben. Das geschah – und so fanden 1634 die ersten Spiele statt.
Der Wechsel auf volle Zehnerjahre erfolgte 1680. Das historische Sterbebuch, in dem Oberammergau für die Jahre 1632 und 1633 die ungewöhnlich hohe Zahl von 84 Toten zu beklagen hatte, gilt als „Gründungsurkunde der Passionsspiele“. Während der Spielzeit ist es neben dem Kreuzaltar ausgestellt.
Bis 1820 fanden die Passionsspiele auf dem Friedhof neben der Kirche statt. Ältestes Requisit aus dieser Zeit ist der Abendmahlstisch. Er wird inzwischen im Oberammergau-Museum aufbewahrt, wo eine Begleitausstellung zu den Passionsspielen läuft: „(Im)Materiell – Stoff, Körper, Passion.“ Große Teile der Fassade des Museums sind bereits mit Platten verkleidet, auf die Volksgewänder der Passionsspiele 2000 und 2010 kaschiert sind. Sie machen neugierig auf das für die Sonderschau umgestaltete Innenleben des kulturhistorischen Museums, das zu den schönsten Bayerns gehört.
Jeder Besucher der Begleitausstellung bekommt zum Abschied ein kleines Stück Stoff der alten Volksgewänder mit aufgestempeltem Palmzweig – und erhält so eine dauerhafte Verbindung zu den Oberammergauer Passionsspielen.
• Oberammergauer Passionsspiele 14. Mai bis 2. Oktober, Karten: www.passionsspiele-oberammergau.de. Kirchliches Begleitprogramm: www.pfarrverband-oberammergau.de und www.oberammergau-evangelisch.de. Die Sonderschau im Oberammergau-Museum läuft bis zum 16. Oktober, Eintritt, 3,50 Euro: www.oberammergaumuseum.de