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Politik

Das Papier der „Ampel“ und die rauhe Wirklichkeit

Mit ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie verkündet die Bundesregierung einen großen Wurf. Doch zum großen Ernstfall dieser Tage hält sie sich bedeckt

René Nehring
22.06.2023

Inmitten der Debatten um Heizungswende, Zuwanderung und Blockaden der „Letzten Generation“ hat die Bundesregierung eine Nationale Sicherheitsstrategie verabschiedet. Unter der Überschrift „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“ legt sie damit als erste deutsche Regierung ein Grundsatzpapier vor, das sich an einer umfassenden Definition unserer sicherheitspolitischen Lage und der Suche nach Antworten versucht.

Ausgehend vom doppelten Schock der Corona-Pandemie (die die Mechanismen der Wohlstandserzeugung in Frage stellte) und des russischen Angriffs auf die Ukraine (der die seit 1989/91 bestehende staatliche Ordnung in Europa in Frage stellt) diskutiert die Regierung in ihrem Papier nicht nur klassische militärische Belange, sondern auch Aspekte wie die Stabilität von Lieferketten, die Gefahren durch Terrorismus und Organisierte Kriminalität, den Schutz vor Naturkatastrophen sowie nicht zuletzt die Sicherung der Kritischen Infrastrukturen und der Cyberfähigkeiten. Natürlich darf auch der Kampf gegen den Klimawandel nicht fehlen.

Besonderen Wert legt die „Ampel“ auf die Resilienz der deutschen Gesellschaft, also „die Sicherung unserer Werte durch innere Stärke“, wie es in dem Strategiepapier heißt. Hierzu zählt sie vor allem die Verankerung in der westlichen Bündnisstruktur aus NATO und EU, die Stärkung der Vereinten Nationen, den Einsatz für eine regel- und wertebasierte Weltordnung, aber auch die Stärkung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit durch eine hohe Innovationskraft der Wirtschaft und Wissenschaft. Auch die Reduzierung bestehender Abhängigkeiten in der Rohstoff- und Energieversorgung werden genannt.

Mag die Welt auch unübersichtlicher und gefährlicher werden, die Bundesregierung – so will es die Strategie verkaufen – hat alles im Blick.

Dass dem bei Weitem nicht so ist, zeigten bereits die ersten Reaktionen darauf. So wies Marina Henke, Direktorin des Centre for International Security der Hertie School of Governance, in der „FAZ“ darauf hin, dass die Nationale Strategie der Bundesregierung in vielen Fragen Mängel aufweise: „Allen voran“, so Henke, „ist die Sicherheitsstrategie keine wirkliche ,Strategie', sondern eher eine Wunschliste von Zielen, die Deutschland anstrebt: Sicherheit, Demokratie, Wohlstand, die Begrenzung der Klimakrise, ein starkes Europa und eine enge Beziehung mit den Vereinigten Staaten. Die deutsche Politik ignoriert, dass sie zwangsweise Kompromisse eingehen müssen wird. Eine Strategie ist notwendig, weil es eben nicht genug Ressourcen gibt, um alle Ziele zu erreichen.“

Scheitern an der Wirklichkeit

Letztlich, so die Expertin, begehe die Bundesregierung mit ihrer neuen Strategie ähnliche Fehler wie die Vorgänger in den vergangenen Jahren: „Den deutschen Bürgern wird versprochen, alles sei möglich: Wohlstand und Sicherheit, Interessen und Wertepolitik. Das Resultat: ein immer größer werdendes Unverständnis, sobald die Realität eintritt.“ Auch versäume es das Papier, neben der Aufzählung aller denkbaren Bedrohungen auch deren Ursachen zu nennen, was wiederum die Einleitung geeigneter Abwehrmaßnahmen erschwere. Dennoch bleibt es das Verdienst der Regierung, das Thema „integrierte Sicherheit“ überhaupt angesprochen zu haben.

Umso erstaunter reibt man sich die Augen, dass über den größten Angriff auf eben jene „integrierte Sicherheit“ unseres Landes noch immer großes Schweigen herrscht. Die Rede ist von der Sprengung der Nord-Stream-Leitungen im vergangenen Spätsommer. Auch wenn die Ostsee-Pipelines ein europäisch-russisches Projekt waren, so waren sie doch bis zu ihrer Zerstörung ein Hauptpfeiler der deutschen Energieversorgung – und gehörten somit zu ebenjenen Kritischen Infrastrukturen, deren verstärktem Schutz sich die Bundesregierung nunmehr verschrieben hat.

Just zum Zeitpunkt der Vorstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie meldeten mehrere US-Medien, dass ein ukrainisches Kommando hinter der Nord-Stream-Sprengung stehe und dass US-amerikanische Geheimdienste sowohl niederländische (da auch Holland an dem Projekt beteiligt ist) als auch deutsche Stellen über die Pläne informiert und die Ukraine zugleich vor dem Anschlag gewarnt hätten.

Wie kann es sein, dass diese Nachricht weitestgehend ohne Echo blieb? Wie kann es sein, dass eine Bundesregierung, die gerade ein Grundsatzdokument verabschiedet, das dem Schutz der Kritischen Infrastrukturen eine erhebliche Bedeutung zuweist, schweigt, wenn es um die mögliche Aufklärung eines Angriffs auf die eigene Energieversorgung geht?

Sicher: In Teilen der Bundesregierung – dort, wo man ohnehin seit Langem das Ende der fossilen Energien herbeisehnt – mag vielleicht sogar Freude darüber geherrscht haben, als die ungeliebte Erdgasleitung über Nacht als Energieversorger ausfiel. Aber der Rest? Warum schweigt zum Beispiel die SPD, die seit den Tagen der Neuen Ostpolitik immer auch die deutsche Erdgaspartei schlechthin war?

Und warum gibt es keine Debatte darüber, welche Konsequenzen es haben müsste, wenn tatsächlich die Ukraine – also ein Land, das seit anderthalb Jahren umfassende militärische Hilfen von Deutschland erhält und dessen Bürger millionenfach vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen sind und in Deutschland Schutz gefunden haben – hinter den Anschlägen stünde? Ist es wirklich denkbar, dass Deutschland in diesem Falle seine Hilfen einfach aufrechterhielte, als wäre nichts gewesen? Zwar dementierten Kiewer Stellen umgehend, für die Nord-Stream-Sprengung verantwortlich zu sein, doch sind die Hinweise der US-Medien zu konkret, um einfach darüber hinwegzugehen.

So oder so steht eines fest: Solange die deutsche Regierung im Ernstfall – und nichts anderes ist die Nord-Stream-Sprengung als erster auch gegen Deutschland gerichteter Kriegsakt seit 1945 – schweigt, solange ist die von ihr verabschiedete Nationale Sicherheitsstrategie kaum mehr als Augenwischerei.


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Kommentare

Ralf Pöhling am 22.06.23, 13:32 Uhr

Der Eingriff bei einer Geiselnahme muss gut vorbereitet sein. Wer aber bei einer Geiselnahme mit dem Eingriff zu lange zögert, erhöht damit nur die Opferzahlen. Bis hin zum Totalverlust.

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