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Steht Deutschland vor einem Herbst der Entscheidungen? Diesen Eindruck versuchen Vertreter der Regierungskoalition derzeit zu vermitteln. Doch im Alltag dominieren bislang vor allem die Bremser. Stimmungsbericht aus einem Land am Scheideweg
Schon wenige Monate nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung fragt man sich immer häufiger: In welcher Welt leben die eigentlich? Man weiß es nicht – aber es ist offenbar nicht die gleiche, in der unsereins sich täglich die Augen reibt.
Die Kommunen sind wegen rasant steigender Sozialkosten, vor allem auch wegen der Folgen der Massenzuwanderung seit 2015, völlig überschuldet und nicht in der Lage, genügend in Schulen, Schwimmbäder und Straßen zu investieren. Die Kranken- und Pflegekassen melden trotz immer höherer Beiträge Milliardenlöcher. Das „Bürgergeld“ nehmen immer mehr Nicht-Bürger in Anspruch, die niemals Beiträge eingezahlt haben. Wirtschaftsforscher sehen die Sozialversicherungen kurz vor dem Bankrott. Die Höhe der wachsenden Abgabenlasten treibt Unternehmen außer Landes, das Wirtschaftswachstum stagniert seit Jahren, die Arbeitslosigkeit steigt, und aus der kommenden, dringend gebrauchten jungen Generation verlassen immer mehr Menschen die Schule ohne Abschluss, viele sogar ohne ausreichende Deutsch- und Mathematikkenntnisse. Derweil steigt die Kriminalität, besonders an sogenannten sozialen Brennpunkten.
Sture Sozialstaatsverteidiger
Was sagt angesichts dieser Lage im Frühherbst 2025 die mächtige Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) mit dem größten Einzeletat in Höhe von 197 Milliarden Euro? Sie erklärt die Forderung, die explodierenden Sozialausgaben in den Griff zu bekommen, für „Bullshit!“ und lehnt „Sozialkürzungen“ ab. Dem „Stern“ teilte sie trotzig mit: „Wir sind ein reiches Land.“ Ihre grandiose Logik: Stattdessen brauche es Wirtschaftswachstum, und hier kommen dann doch Zweifel auf, ob „Volksschule Sauerland“ (Franz Müntefering) ausreicht, um sozialökonomische Grundkenntnisse zu erwerben. Es sind ja gerade die ausufernden Sozialkosten im Verbund mit europaweit hohen Steuern und einer wuchernden, regulierungswütigen Sozialbürokratie, die die Wirtschaft lähmen. Also wird umgekehrt ein Schuh daraus: Den Sozialstaat „updaten“ (Markus Söder), effektiver, sparsamer und gerechter gestalten, um damit eine neue Wachstumsdynamik zu entfalten.
Bei den deutschen Sozialdemokraten ist diese marktwirtschaftliche Logik immer noch nicht angekommen. Der Sozialstaat, wie überbordend und dysfunktional auch immer er geworden ist, gilt als heilige Kuh, die man nicht antasten darf. Dabei will kein Mensch in Deutschland, auch nicht die AfD, einen „Kahlschlag“ des Sozialstaats. Es geht um eine gezielte Nachjustierung. Doch die wirtschaftspolitische Spackenhaftigkeit der einstigen Arbeiterpartei führt zur kompletten Reformunfähigkeit jener SPD, die früher noch frohgemut „Mit uns zieht die neue Zeit“ sang. Die 13-Prozent-SPD ist inzwischen so stockreaktionär, spießig und leblos geworden, geradezu erstarrt, dass sie nur noch das wiederholt, was sie immer schon gesagt hat: Rauf mit den Steuern für Besserverdienende und „Reiche“, mehr Schulden und am liebsten noch mehr Sozialstaat. Hier und da ein paar kleine Placebo-Reförmchen. Weit und breit keine neue „Agenda 2010“. In abenteuerlicher Welt- und Selbstvergessenheit verweigert sie sich jedem Realitätssinn und ignoriert dabei tapfer die alte Volksweisheit: „Wenn Du im Loch sitzt, hör' auf zu graben.“
Aber sie graben weiter und merken nicht, dass sie dabei immer größere Teile ihrer einstigen Wählerschaft an die AfD verlieren. Das alles trägt suizidale Züge. Ein Blick auf die Meinungsumfragen zeigt, dass selbst eine vereinigte rot-rot-grüne Volksfront derzeit nur auf etwa 35 Prozent der Stimmen käme, also kein wirkliches Ziel einer nach links schielenden SPD-Strategie sein kann.
Eine unheilvolle Allianz
In dieser garstigen „Gesamtsituation“ (so Bully Herbig in „Der Schuh des Manitu“) soll nun der „Herbst der Reformen“ (Friedrich Merz) für grundlegende Veränderungen sorgen. Bloß wie?
Nicht nur an diesem Frontabschnitt des von Kanzler Merz ausgerufenen „Politikwechsels“ zeigt sich, dass die schwarz-rote, schon längst nicht mehr „große“ Koalition eine Mesalliance ist. Da passt wenig zusammen, trotz immer wieder erneuerter gegenseitiger Sympathiebekundungen. Man zieht am selben Strick, aber zu oft in die entgegengesetzte Richtung. In der SPD hadert man immer noch mit Friedrich Merz, dem angeblich „neoliberalen“ Privatflieger mit sauerländischem Migrationshintergrund – das Gegenteil eines aufrechten Sozialdemokraten, der die Menschen „mit den schwachen Schultern“ vertritt.
In der CDU-Bundestagsfraktion dagegen fragt man sich, wo denn nun der große Richtungswechsel bleibt. Einzig beim Thema Migration und Grenzsicherung sorgt Innenminister Dobrindt zumindest für das Gefühl, nun werde „einfach mal gemacht“ (Carsten Linnemann) und strenger gegen die illegale Einwanderung vorgegangen. Doch schon jene gut zweitausend Afghanen in Pakistan, die auf alte Einreisezusagen der Ampelregierung pochen und mit allen juristischen Mitteln versuchen, ihre Umsiedlung nach Deutschland durchzusetzen, zeigen die beschränkten Möglichkeiten der neuen Regierung.
Bremsende Bürokratie
Hinzu kommt der steigende Einfluss der Verwaltungsgerichte, deren Entscheidungen zugunsten von Flüchtlingen immer wieder offenbaren, wie sehr sich die deutsche und europäische Asylpolitik mit den selbstgesetzten Rechts-, Europarechts- und Völkerrechtsverpflichtungen gefesselt hat. Selbst untergetauchte Straftäter können immer wieder neu Asyl beantragen, während Abschiebungen mehrheitlich misslingen. Zuletzt hatte das Amtsgericht Hannover den Antrag der zuständigen Ausländerbehörde auf Abschiebehaft für einen 31-jährigen abgelehnten irakischen Asylbewerber verweigert – kurz darauf stieß er mutmaßlich ein 16-jähriges ukrainisches Mädchen, das gerade eine Ausbildung begonnen hatte, am Bahnhof Friedland vor den mit 100 Kilometer pro Stunde durchfahrenden Güterzug. Ein Fall von unzähligen, die ähnlich gelagert sind – „Kollateralschäden“ einer verfehlten Politik, die ihre eigenen Gesetze nicht vollzieht. Nebenbei auch die moralische Katastrophe einer Politik, die so gern mit Moral und humanitären Verpflichtungen argumentiert.
Dass es genau dieser verhängnisvolle Irrsinn ist, der die AfD stark gemacht hat, wollen all jene nicht wahrhaben, die den antifaschistischen Kampf zur Herzenssache gemacht haben und in jüngster Zeit verstärkt auf ein Verbot der Partei drängen.
Kultur des Drumherum-Redens
Dabei ist die vertrackte Lage, in der die staatlichen Institutionen weithin die Kontrolle verloren haben, keine deutsche Besonderheit. In Frankreich kann man gerade beobachten, wie sich drei etwa gleich starke politische Blöcke – rechts, links, Mitte – gegenseitig blockieren und eine regierungsfähige Mehrheit unmöglich machen. Ähnliches gilt in anderen europäischen Ländern, und überall geschieht das gleiche: Die einst dominanten Kräfte der bürgerlichen Mitte von Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen schrumpfen und schrumpfen, während linke und rechte Protestparteien wachsen.
Obwohl es auch in Deutschland eine klare Mitte-Rechts-Mehrheit gibt, sorgt die „Brandmauer“ zur AfD dafür, dass die Union mit den Parteien links der Mitte kooperieren muss und so ihr liberalkonservatives Profil riskiert. Das wiederum stärkt die AfD, obwohl viele ihrer Wähler selbst nicht glauben, dass sie am Ende die bessere Regierungspartei wäre. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik schwindet so immer weiter.
Bei alldem ist der große weiße Elefant im Raum gar nicht mehr unbedingt die illegale Migration, die gegenwärtig sogar stark zurückgeht – es sind die Folgen einer jahrzehntelangen Politik fast aller Parteien, die dazu geführt hat, dass die offenkundigen gesellschaftlichen Probleme eher beschönigt als gelöst werden. Dabei ist eine Kultur des Drumherum-Redens entstanden, die die Benennung unbestreitbarer Tatsachen gerne unter den Verdacht der politischen Unkorrektheit stellt. Währenddessen werden die staatlichen und kommunalen Leistungen schlechter und teurer zugleich. Besser und billiger, das heißt mehr Effizienz, Kreativität und Produktivität – das war einmal.
Der Herbst der Kommissionen
Nun sollen allerlei Kommissionen und Expertengruppen in monatelanger Arbeit herausfinden, was die offiziellen Berater der Regierung, etwa der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ und andere Fachgremien längst formuliert haben – vor allem zur Rentenpolitik. Das Problem ist, wie so oft, nicht die Erkenntnis, sondern die praktische Bewältigung politischer Herausforderungen. Peer Steinbrück, ehemals Kanzlerkandidat der SPD und heute Mitglied eines kleinen, aber feinen Expertenrats zur Staatsmodernisierung, sagte jüngst, die Politik habe die Bürger zu lange „sediert“, das heißt, mit immer mehr Leistungsversprechen und Sozialleistungen geködert und ruhiggestellt.
Kein Wunder also, dass jetzt bei Vorschlägen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und Abstriche bei der Vollkasko-Versorgung zu machen, der große Aufschrei einsetzt. Sozialabbau! Auf dem Rücken der Ärmsten der Armen! Eiskalter Turbokapitalismus! Wider alle Vernunft und gegen jede mathematisch-finanzielle Logik gilt der Primat der Besitzstandswahrung, koste es, was es wolle. Wohin das „Weiter so“ führen würde, kann sich jeder ausmalen.
Deshalb darf man gespannt sein auf den Herbst, der stürmisch zu werden verspricht. Die große Frage wird sein, ob und wie Bundeskanzler Merz seine Diagnose, dass der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht mehr finanzierbar sei, in eine wirksame Therapie überführen kann. Es wird sich zeigen, wie konsequent Merz seine Agenda des Politikwechsels verfolgt, auch wenn die SPD im Bremserhäuschen sitzt und ihre völlig ausgezehrte Strategie der „Verteidigung“ des Sozialstaats bis zum bitteren Ende weiterverfolgt. Vor wenigen Tagen erst verhinderte sie die eigentlich geplante Abschaffung des furchterregenden bürokratischen Monsters namens „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“. Stattdessen wurden nur die irrsinnigen Berichtspflichten gestrichen. Die Haftungsrisiken allerdings bleiben.
Sagen wir so: Wenn die drängenden, absolut unabweisbaren Sozial- und Wirtschaftsreformen in den nächsten Monaten nicht beschlossen und angegangen werden, wird sich die Frage stellen, wie lange die schwarz-rote Koalition noch besteht. Unbeliebt ist sie schon heute. Wenn sie keinen Durchbruch zu einem Neuanfang schafft, steht ihr Ende im Raum. Und dann? Minderheitsregierung Merz? Oder Neuwahlen?
Reinhard Mohr ist freier Autor und schreibt unter anderem für „Die Welt“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Zuletzt erschien die Fortsetzung seines mit Henryk M. Broder geschriebenen Bestsellers „Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik“ (2023) unter dem Titel „Good Morning Germanistan! Wird jetzt alles besser?“ (beide Europa Verlag). www.europa-verlag.com