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Nachruf

Der Russe, den die Deutschen liebten

Als Hoffnungsträger eines erneuerten Kommunismus gestartet, wurde Michail Gorbatschow zum Zauberlehrling der Weltpolitik, der die Reformgeister, die er rief, nicht mehr loswurde. Während er in seiner Heimat seit Langem als Totengräber der Sowjetunion gilt, verehren ihn die Deutschen als Ermöglicher ihrer staatlichen Einheit

René Nehring
31.08.2022

Der Tod Michail Gorbatschows in der vergangenen Nacht ist eine historische Zäsur. Mit ihm starb der letzte große Gestalter jener weltgeschichtlichen Umwälzungen der Jahre 1989/91, die den jahrzehntelangen Ost-West-Konflikt beendeten und eine kurze Phase der Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden – der Historiker Francis Fukuyama sprach gar vom „Ende der Geschichte“ – einläuteten, die mit den Anschlägen des 11. September 2001 endete.

Angefangen hatte Gorbatschow als Hoffnungsträger der Kommunisten. Nach dem Tod des KPdSU-Chefs Leonid Breschnew 1982 lotste ihn dessen Nachfolger und vormalige KGB-Chef Jurij Andropow ins Politbüro; im März 1985 dann wählte die greise Garde der Apparatschiks den mit 54 Jahren jungen Gorbatschow zu ihrem neuen Anführer, verbunden mit der Hoffnung, dass er den seit Langem kriselnden Sowjetkommunismus noch retten könne.

Doch war dieser zu jener Zeit bereits verloren. Zwar versuchte Gorbatschow unter den Schlagwörtern „Glasnost“ und „Perestroika“ („Offenheit“ und „Umgestaltung“) die Erstarrung des Systems aufzubrechen und neue Kräfte freizusetzen, doch war die östliche Supermacht durch jahrzehntelange Unterdrückung und Misswirtschaft innerlich morsch sowie durch das jahrelange Wettrüsten mit den USA und einen niedrigen Ölpreis auf den Weltmärkten finanziell am Ende. Anstatt von einem Aufbruch berichteten die Korrespondenten der späten 1980er Jahre aus der Sowjetunion von leeren Schaufenstern und Regalen in allen Läden. Bürgerkriege wie der um Bergkarabach zeigten, dass Moskau über Teile eines Riesenreiches längst die Kontrolle verloren hatte. Der von Gorbatschow eingeleitete Abzug aus Afghanistan im Februar 1989 belegte endgültig, dass die einstige Weltmacht Sowjetunion am Ende war.

In der Welt geliebt, zu Hause verflucht

Schon früh zeigte sich eine zweigeteilte Sicht auf das Wirken Gorbatschows. Während er im Westen als Reformer gefeiert wurde und als Hoffnungsträger für eine Beendigung des Kalten Krieges galt, war er für die meisten Menschen zuhause der Verantwortliche für einen historischen Niedergang, der nicht nur zu einer immer größer werdenden Wirtschafts- und Versorgungsnot führte, sondern auch zum Zerfall des Riesenreiches und dem Verlust der damit verbundenen einstigen Größe – sowie schließlich zur Auflösung jeglicher staatlichen Ordnung.

Ein besonderes Verhältnis pflegte Gorbatschow zu den Deutschen. Im Juni 1989, also vor dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus, besuchte er die Bundesrepublik und wurde auf den Straßen von Hunderttausenden stürmisch empfangen. Beim Besuch eines Stahlwerks im Ruhrgebiet konnte der KPdSU-Chef sehen, wie die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft ihm zujubelte – und zugleich den eigenen Bundeskanzler auspfiff. Kohl wird es recht gewesen sein, konnte er seinem Gast damit doch zeigen, was im freien Teil Deutschlands möglich war. Besonders prägend für das im Folgenden vertrauensvolle Verhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow wurde ein abendlicher Spaziergang am Ufer des Rheins.

Doch Gorbatschow war nicht nur ein Mann der schönen Bilder, sondern auch der konkreten Taten. Die Aufhebung der Verbannung des Regimekritikers Andrej Sacharow und dessen Frau Jelena Bonner im Dezember 1986 sowie die Zulassung regimekritischer Schriften markierten einen echten Wandel. Zusammen mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan leitete er die Abrüstung der beiden atomaren Supermächte ein.

Zum Hoffnungsträger all jener, die im kommunistischen Weltreich gefangen waren, wurde er, als er bereits während der Beisetzungsfeierlichkeiten für seinen Vorgänger Konstantin Tschernenko die jahrzehntelang gültige „Breschnew-Doktrin“ von der „begrenzten Souveränität“ der Ostblock-Staaten für beendet erklärte, was angesichts der Tatsache, dass die meisten sozialistischen Satellitenregime nur auf der Macht der sowjetischen Panzer aufgebaut waren, als selbsterklärter Auftakt zum Ende des eigenen Herrschaftsbereichs gewertet werden kann.

Symbolfigur der Zeitenwende

Als der sowjetische Staats- und Parteichef (so die jahrzehntelang gewohnte Bezeichnung für die Herrscher in Moskau) 1989 die deutschen Genossen zum 40. Jahrestag der Gründung ihres Satellitenstaates besuchte, war die Ost-Berliner Führung in Panik – und die regimekritischen Demonstranten jubelten ihm mit „Gorbi! Gorbi!“-Rufen zu. So etwas hatte es zuvor nicht gegeben. Für die Demonstranten war dieser Besuch ein Segen, konnten sie sich doch in ihren Forderungen nach einem Wandel in der DDR nun auf die höchste Instanz des Weltkommunismus berufen.

Die während seines Besuchs ausgesprochene Mahnung an die deutschen Genossen, die verkürzt mit „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ wiedergegeben wurde, ist längst als politisches Bonmot und eine der wichtigsten Initialzündungen für den Untergang der DDR in die Geschichte eingegangen. Zwei Tage nach dem Jahrestag am 7. Oktober 1989, am Montag, dem 9. Oktober, gingen in Leipzig mehr als 70.000 Menschen auf die Straße.

Getreu der vorher verkündeten Aussage über den Verzicht auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der verbündeten Staaten hielt Gorbatschow denn auch still, als im Anschluss die historischen Umwälzungen einsetzten. Als die Mauer fiel, griff die Sowjetmacht ebenso wenig ein wie beim Zusammenbruch der anderen politischen Systeme ihrer Satellitenstaaten.

Von der Bundesrepublik völlig unerwartet war die sowjetische Führung unter Gorbatschow schon bald sogar bereit, in einem ungeheuren Tempo über die deutsche Einheit zu verhandeln. Vom Rücktritt des SED-Chefs Erich Honecker am 18. Oktober 1989 bis zum 3. Oktober 1990 dauerte es weniger als ein Jahr. Ein Ergebnis der damaligen Verhandlungen war auch, dass hunderttausende Ostpreußen ab 1991 erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in das Königsberger Gebiet, die sowjetische Oblastj Kaliningrad, reisen und ihre Heimat wiedersehen konnten.

Zur historischen Wahrheit gehört freilich auch, dass Gorbatschow seinen Weg der Reformen und des Brückenbaus – zumindest am Anfang – keineswegs freiwillig ging, sondern unter dem Druck des totalen Zusammenbruchs seines politischen Systems und dessen Machtbereichs. Der Ostblock insgesamt war schlichtweg so pleite, dass es nichts mehr gab, wofür sich zu kämpfen gelohnt hätte.

Bestatter der Sowjetunion

Die westliche Welt dankte Gorbatschow mit allerlei Ehrungen, von denen die bedeutendste der Friedensnobelpreis im Jahr 1990 war. Den US-Präsidenten Ronald Reagan und George Bush, die zusammen mit Gorbatschow die Entspannungspolitik betrieben hatten, wurde diese Ehrung nicht zuteil.

Dass Gorbatschow in seinem Inneren noch immer ein Sowjetfunktionär war, zeigte er an anderer Stelle. Die Grenze des Nachgebens zog er dort, wo es um den Bestand der Sowjetunion ging. Als auch die Balten ihre staatliche Unabhängigkeit anstrebten, sandte er im Januar 1991 Spezialeinheiten nach Litauen, Lettland und Estland. Beim „Blutsonntag von Vilnius“ kamen Dutzende Menschen zu Tode, mehr als tausend wurden verletzt.

Zur vollständig tragischen Figur wurde Gorbatschow im August 1991, als Steinzeitkommunisten versuchten, den Lauf der Geschichte noch einmal zurückzudrehen. Der Präsident der Sowjetunion, so inzwischen sein offizieller Titel, wurde während seines Urlaubs auf der Krim unter Arrest gestellt. Da waren jedoch die deutsche Einheit und das Ende des Warschauer Vertrags bereits vollzogen, und auch in der Sowjetunion hatten die Menschen längst den Geschmack der Freiheit gekostet und keine Lust mehr auf ein Wiederaufleben der kommunistischen Diktatur.

Der Held dieser Tage war jedoch ein anderer – der Präsident der sowjet-russischen Teilrepublik Boris Jelzin. Dieser organisierte zunächst den Widerstand in Moskau – in die Geschichte ging vor allem das Bild einer Rede Jelzins auf einem Panzer ein – und verbot per Dekret die KPdSU in Russland. Mit dem Scheitern des Putsches zerfiel die Sowjetunion endgültig, nur wenige Monate später war sie auch offiziell Geschichte.

Geachteter Elder Statesman

Fortan war Michail Gorbatschow Politrentner und wurde zu einem Inbegriff des „Elder Statesman“, vor allem im Westen. Im vereinigten Deutschland wurde und wird er als derjenige verehrt, der den Deutschen „die Wiedervereinigung schenkte“. Was nicht ganz korrekt ist, da die US-Präsidenten Ronald Reagan (1987 in seiner Forderung „Mr. Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Reißen Sie diese Mauer nieder!“ am Brandenburger Tor) und George Bush (mit seiner frühen Unterstützung für den Einigungsprozess) deutlich vor Gorbatschow die Deutschen zur Einheit ermutigten und die Bundesrepublik immerhin etliche Milliarden D-Mark für die Zustimmung zur Aufgabe der DDR an Moskau zahlte. Doch immerhin bleibt es Gorbatschows Verdienst, im entscheidenden Moment die Waffen in den Depots gelassen zu haben.

Als Gesprächspartner, Redner und Autor war Gorbatschow fortan nahezu überall auf der Welt gefragt. Bis ins hohe Alte fanden seine Worte eine breite mediale Resonanz. Nicht zuletzt zeigten er und seine westlichen Partner, dass ein entspanntes Verhältnis zwischen Russland und den großen Nationen des Westens möglich ist.

Die Sicht der Russen ist seit Langem eine andere. Für sie galt und gilt Gorbatschow mehr und mehr als derjenige, der die Größe des untergangenen Zaren- und Sowjetreiches verspielte. Die von Gorbatschow eingeleitete, vom Westen bejubelte Transformation der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, bezeichnete sein Nachnachfolger Wladimir Putin als die „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Gleichwohl lebte Gorbatschow bis zuletzt in seiner Heimat. Putin und er sagten zumindest öffentlich nichts Negatives übereinander.

Alles in allem geht Michail Gorbatschow als eine tragische Figur in die Geschichte ein. Als Stifter des Friedens und Gescheiteter beim Versuch, ein Weltreich zu retten, das nicht mehr zu retten war. Zu wünschen ist, dass künftige Generationen in Russland die Einsicht finden, die Leistungen anzuerkennen, die sein Handeln letztlich auch für ihr Land bedeuteten. Auch wenn Gorbatschow etwas anderes vorgehabt hatte, so hat er doch mit zahlreichen Schritten auch den Russen den Weg in eine neue Zeit geebnet.

Eine letzte Tragik

Zur letzten großen Tragik in Gorbatschows Leben wurde der Zeitpunkt seines Todes. Während die anderen großen Gestalter der Jahre 1989/91 zu Zeiten starben, in denen die Russen und die westlichen Nationen in friedlicher Koexistenz lebten, schied Gorbatschow inmitten eines neuen Krieges aus dem Leben. Als vor fünf Jahren Helmut Kohl das Zeitliche segnete, gehörte beim Festakt in Straßburg auch der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew zu den Trauerrednern. Heute ist unklar, ob überhaupt westliche Gäste zu Gorbatschows Beisetzung kommen werden.

Zu wünschen ist, dass angesichts der historischen Verdienste dieser Ausnahmefigur zumindest ein paar hochrangige Vertreter aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA nach Moskau reisen. Und vielleicht kommt es dabei auch zu ein paar Gesprächen der Annäherung, die es ermöglichen, weiter aufeinander zuzugehen. Käme es dazu, würde Michail Gorbatschow der Welt post mortem einen letzten großen Dienst erweisen.

Die Welt – und vor allem Deutschland – hält inne vor einem Großen der Weltpolitik. Sie hält inne vor dem Leben eines Mannes, der einen weiten Weg gegangen ist und in den meisten Situationen seines politischen Handelns das Richtige getan hat.


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Kommentare

Kersti Wolnow am 05.09.22, 08:07 Uhr

Der Deutsche ist Meister im Verzeihen. Da wird der Russe hochgelobt, der 2 Kriege gegen das Deutsche Reich angefangen und 1945 das Restdeutschland mit geteilt hat. Nun hat er dem Ami geholfen, die 2 Stücke wieder zusammenzufügen. Und nun?
Alle lügen sich weiterhin durch die Geschichte, auch das Putin-Rußland.

H. Schinkel am 04.09.22, 20:18 Uhr

Schon erstaunlich das sich Gorbi mit den beiden deutschen Lügnern an einen Tisch gesetzt hat.

sitra achra am 02.09.22, 11:13 Uhr

Gorbatschow war kein Freund Deutschlands oder des Westens, er gehorchte den Regeln des Selbsterhalts, bevor die Sowjetunion implodierte. Tatsächlich vertrat er nachdrücklich weiterhin die imperialen Ansprüche der Sowjetunion, wie Boris Reitschuster berichtet.
Für seine intelligente Politik wurde er von Jelzin und Putin verachtet, wobei letzterer gerne einen Atomkrieg in Kauf genommen hätte.
Nennen wir also seine Haltung amicitia und nicht familiaris. Ich verstehe allerdings die Sehnsucht der Deutschen, aus der Politik eine Kaffeeklatschrunde voll gefühliger Glückseligkeit zu machen. Alle Menschen werden Brüder ..., wenn es die Realität nicht gäbe!

Strffen Hennig am 01.09.22, 16:54 Uhr

Dem Andenken dieses Mannes sollte wir Deutsche höchste Achtung entgegenbringen.

Tom Schroeder am 31.08.22, 19:12 Uhr

Gorbi war schon ein Guter! Ohnmaechtig stand der gesamte Westen vor der entkommunisierten Sowjetunion - nur dazu faehig in der Wildwestzeit der zusammengebrochenen Ordnung moeglichst viel fuer sich herauszuholen. Was kam dabei raus? Russenmafia, die heute im Kreml sitzt. Das war total misslungen. Deutschland haette eigentlich die Rolle inne gehabt Russland zu helfen geordnete Strukturen aufzubauen. Vielleicht war die Gemengelage zu kompliziert, man wurde nicht wirklich akzeptiert von dem besoffenen Jelzin und seiner Entourage, war auf die Wiedervereinigung fixiert und feierte sich und ebenso besoffen selbst und Kohl (der konnte doch nix dafuer!), waehrend andere Laender Angst vor Deutschland bekamen (Frankreich z.B.), wiederum andere pluenderten im zusammengebrochenen Ostblock solange und soviel wie eben ging.

Immer noch restalkoholisiert bzw. verkatert schlaegt man sich nach Jahrzehnten nun mit dem Resultat herum: Putin und seine Gang! Die Politiker waren damals genau so unfaehig wie heute, wenn nicht noch mehr - niemand verstand die einmalige historische Chance wirklich produktiv zu nutzen. Der Schauspieler Reagan und Gorbatschow waren die weitblickendsten Akteure jener Zeit - zu dumm, nun ist Krieg in der Unkraine!

Gustav Leser am 31.08.22, 17:42 Uhr

Russland kann auch heute noch
sehr viele Deutschen für sich gewinnen

Es braucht nur Ostpreußen zu öffnen.
Mit Niederlassungsrecht und 2. Amtssprache Deutsch.

Chris Benthe am 31.08.22, 12:37 Uhr

Danke für diese angemessene Würdigung.

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