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Internationale Beziehungen

„Der Schrei eines Verzweifelten“

Die deutsch-russischen Beziehungen stecken in einer schweren Krise. Über westliche Anmaßungen und östliche Wahrnehmungen – sowie langfristige Konsequenzen der gegenseitigen Entfremdung

Alexander Rahr
04.04.2021

Er gilt als einer der besten deutschen Russland-Kenner und ist seit Jahren bemüht, zwischen Ost und West zu vermitteln. In seinem neuen Buch geht Alexander Rahr der Frage nach, welchen Anteil Deutschland an der Verschlechterung der Beziehungen in den letzten Jahren hat. Sein Anliegen: einen Beitrag dafür zu leisten, dass zwei Nationen wieder zusammenfinden, deren Schicksale untrennbar miteinander verbunden sind.

Herr Rahr, schon der Titel Ihres Buches verspricht einen besonderen Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen: „Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“. Wer die Medien hierzulande verfolgt, muss den Eindruck bekommen, dass vor allem die Russen an Ansehen verlieren.
Zu jeder Wahrheit gehört, dass man auch die andere Seite zu Wort kommen lässt. Wenn man einen Konflikt wie den zwischen Russland und Deutschland ausräumen möchte, kann dies nur gelingen, wenn die Konfliktparteien gleichermaßen gehört werden. In Deutschland kommt jedoch das, was die Russen über die Deutschen denken, überhaupt nicht mehr vor. Niemand muss sich mit den Russen identifizieren, aber wir sollten wenigstens ihre Argumente kennen.

Sie schreiben in Ihrem Buch nicht aus der Sicht der Politik, sondern lassen vielmehr Menschen aus dem Alltag zu Wort kommen. Warum?
Zum einen denke ich, dass man die Leser besser erreichen kann, wenn man ihnen Geschichten aus dem tatsächlichen Leben erzählt. Zudem wollte ich bewusst nicht nur wieder diejenigen zu Wort kommen lassen, die wir ohnehin schon aus den Nachrichten kennen – nämlich Politiker oder Kreml-Kritiker. So beschreibt das Buch, was ganz normale Russen über die Deutschen denken, welche Hoffnungen sie mit Deutschland verbinden, welche Enttäuschungen sie gespürt haben und wie es vielleicht weiterlaufen kann. Angesichts der außenpolitischen Lage kommt es gerade recht. Mit dem Fall Nawalnyj haben die deutsch-russischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wir haben teilweise eine Rhetorik, die wir selbst im Kalten Krieg nicht gehört hatten. Und das macht mir Angst.

Welche Fehler haben deutsche Politiker, Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft in Bezug auf Russland begangen?
Seit Peter dem Großen haben sich die Russen nach deutschem Knowhow und deutscher Technologie gesehnt, aber auch nach deutscher Ordnung und Gründlichkeit. Die Deutschen haben demgegenüber oft hochnäsig auf Russland geblickt und die Russen herablassend behandelt.
Konkret sehe ich drei strategische Fehler der Deutschen in den letzten Jahren. Der erste war, dass mit dem Ende des Kalten Krieges zwar die deutsche Frage gelöst wurde, die russische Frage jedoch offenblieb. Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einer Rückverlagerung des Moskauer Machtbereichs um bis zu mehrere tausend Kilometer, durch die NATO-Osterweiterung wurde Russland weiter in die Enge getrieben. Auf die damit verbundenen Gefühlslagen hat der Westen nie Rücksicht genommen.
Fehler Nummer zwei ist, dass Deutschland die Modernisierungspartnerschaft, die wir mit den Russen in den 90er Jahren eingegangen sind, 2012 aufgekündigt hat. Und zwar mit der Begründung, dass die Russen keine Demokratie wollten und wir zu einem nichtdemokratischen Staat auf Distanz gehen müssten.
Der dritte Fehler war die Äußerung von Kanzlerin Merkel bei ihrem Amtsantritt, dass sie nach Russland nur über Warschau und das Baltikum fliegen würde. Das bedeutete, dass jeder Schritt der deutschen Russlandpolitik mit Polen und Balten abgesprochen wird. Diese Haltung kann man angesichts dessen, dass Deutschland und Russland wiederholt zulasten ihrer Nachbarn paktiert haben, durchaus verstehen. Andererseits stellt sich die Frage, ob man den Polen und Balten deshalb ein Mitspracherecht in den russisch-deutschen Beziehungen einräumen muss.

Haben wir nicht generell das Problem, dass die Deutschen, aber auch die westlichen Europäer insgesamt, kaum wissen, was unsere östlichen Nachbarn bewegt?
Absolut. Die Europäer im Westen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesöhnt und mit der EU einen Staatenbund geschaffen, der ihnen geholfen hat, in Frieden und Wohlstand zu leben. Gegenüber dem Osten zeigen sie seit langer Zeit eine unverständliche Ignoranz, die wir uns gar nicht leisten können.
Wir müssen akzeptieren, dass Europa mehr ist als die EU, dass es zum Beispiel auch eine starke orthodoxe Komponente hat. Deshalb ist das heutige EU-Europa noch unfertig und wird so, wie es jetzt ist, über die Jahrhunderte keinen Bestand haben, jedenfalls nicht als Friedens- und Ordnungsmacht.

Welche Fehler haben die Russen in den letzten Jahren gemacht?
Natürlich tragen die Deutschen nicht allein die Schuld an der Verschlechterung der Lage. Und mir geht es auch nicht darum, Russland von Fehlern freizusprechen oder Menschenrechtsverstöße zu relativieren. Vergiftungen zum Beispiel sind absolut zu verdammen.
Die Russen hätten sicherlich weniger aggressiv auf die NATO-Osterweiterung reagieren und stattdessen versuchen sollen, eine europäische Friedensordnung, zum Beispiel im Rahmen der OSZE, zu errichten. Andererseits gab es von ihrer Seite gute Vorschläge, die ignoriert wurden. Wiederholt hat etwa Präsident Putin von einem gemeinsamen Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok gesprochen. Ein solcher Vorschlag hätte zumindest verdient, erörtert zu werden.
Richtig ist allerdings auch, dass ebenso wie im Westen keine konstruktive Ostpolitik gegenüber Russland erkennbar ist, dort eine konstruktive Westpolitik fehlt. Zu den Versäumnissen der Russen zähle ich auch, dass sie sich mit den Polen und Balten nicht versöhnt haben. Es hätte ihnen als einer europäischen Großmacht gut angestanden, auf die mittleren und kleineren Nachbarn zuzugehen. Andererseits sollten sich diese Nachbarn fragen, ob sie sich mit dem Festhalten an ihrer historischen Opferrolle für die Zukunft einen Gefallen tun. Länder wie die Slowakei, Tschechien oder Ungarn streben ja auch ein normales Verhältnis zu Russland an.

In der Geschichte gibt es ein starkes Ungleichgewicht in der gegenseitigen Wahrnehmung beider Nationen. Während sich die Deutschen wenig für Russland interessiert haben, war Deutschland für die Russen immer ein zentraler Bezugspunkt.
Das ist genau der Leitgedanke meines Buches. Deutschland ist für die Russen das Musterland, nach dem man sich sehnt und mit dem man zusammenarbeiten will. Und dies, obwohl Russen und Deutsche den schlimmsten Krieg der Geschichte gegeneinander geführt haben, der auf beiden Seiten zu schlimmen Verwüstungen geführt und Millionen Menschenleben gekostet hat. Trotzdem waren die Deutschen bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts für die Russen das Lieblingsvolk.
Wenn die Deutschen dies überhaupt wahrgenommen haben, dann jedoch allenfalls als etwas Selbstverständliches. Im Bewusstsein ihrer vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit waren sie der Meinung, dass sich die Russen gefälligst nach ihnen zu orientieren hätten. Die Russen haben sogar eine Weile zugehört. Doch irgendwann war der Punkt erreicht, wo wir nicht mehr als Vorbilder wahrgenommen wurden, sondern als besserwisserische Lehrmeister. Und das nicht nur bei Politikern, sondern gerade auch bei den ganz normalen Menschen abseits des Kremls.
Nahezu überall wurde so aus großer Bewunderung eine noch größere Enttäuschung – und Abkehr. Heute droht uns eine Trennung, die für lange Zeit irreversibel ist. Insofern ist mein Buch der Schrei eines Verzweifelten, der sagt: „Lasst das nicht zu! Es gibt noch Möglichkeiten, sich zu verständigen.“

Selbst in der Hochphase des Kalten Kriegs gab es in der alten Bundesrepublik ein positives, beinahe romantisches Russland-Bild. Man las zum Beispiel Klassiker wie Dostojewskij und zeitgenössische Autoren wie Solschenizyn oder Kopelew. Heute spielt Russland in der Kultur kaum noch eine Rolle. Was ist da schiefgelaufen?
Deutschland hat sich eben nicht nur politisch, sondern auch geistig von Russland abgewendet. Zu Sowjetzeiten gab es hierzulande immer wieder Berichte, die bemüht waren, das Leben der Menschen zu verstehen. Heute schreiben unsere Qualitätsmedien Russland ständig kaputt. Bei uns dürfen sich Kommentatoren äußern, die noch nie vor Ort waren und auch nicht hinfahren wollen! Trotzdem glauben sie, das Recht zu haben, über Russland urteilen zu dürfen. Welcher deutsche Journalist hat sich denn schon mal mit einem Abgeordneten der Duma unterhalten? Das alles ist ein gefährlicher Prozess, der nicht ohne Folgen bleiben wird.

Inwiefern?
Unsere Welt wird seit Jahren multipolarer. Überall, wo wir uns nicht engagieren, tun dies andere. Wenn wir uns nicht um die Russen bemühen, tun es die Chinesen auf jeden Fall. Zusammen würden das größte und das bevölkerungsreichste Land der Erde einen Block bilden, der eine neue Weltordnung prägen könnte. Es ist ein Irrglaube, dass die künftige Weltpolitik nach westlichen Regeln funktionieren muss. Deshalb wird man mit den Russen und Chinesen einen ganz anderen Dialog führen müssen. Und ich rate uns Europäern, diesen Dialog dringend zu beginnen.

Wer sollte diesen Dialog führen? Ist die Situation zwischen dem politischen Spitzenpersonal nicht zu verfahren?
Diplomatie wird heute ja nicht nur von Regierungen betrieben, sondern auch von Nichtregierungsorganisationen. Diese können auf Ebenen agieren, die von der Politik kaum erreicht werden. Auch die Russen haben wichtige NGOs. Allerdings werden diese von deutscher Seite kaum anerkannt. Auch hier wird wieder nur zwischen „kremltreu“ und „regimekritisch“ unterschieden, für alles dazwischen ist kein Platz. Selbst die Slawistik-Institute an den Hochschulen sind immer weniger an Austausch interessiert und lassen sich einspannen für die Verbreitung westlicher Werte. Wir müssen jedoch akzeptieren, dass Russland einen anderen Weg geht als wir, in der Geschichte ebenso wie in der Gegenwart.
Ein grundsätzliches Problem ist meines Erachtens die Frage der Nation. Während im Westen und vor allem in Deutschland viele Eliten von Nationalstaatlichkeit wenig wissen wollen, halten die Russen am Nationalstaatsgedanken unbedingt fest. Das müssen wir einfach akzeptieren.

Wie sehen Sie Äußerungen wie die jüngsten Aussagen des neuen US-Präsidenten Joe Biden, dass Putin ein Killer ist?
Ich glaube, dass die US-Politik inzwischen hysterisch ist – nach außen wie nach innen. Die US-amerikanische Nation ist zutiefst gespalten und muss wieder zu einer Konsolidierung kommen. Was ich befürchte ist, dass die USA versuchen wird, von eigenen Problemen abzulenken, indem sie je nach Bedarf Chinesen oder Russen als Feindbilder inszeniert. Immerhin hat Biden Putin auch dazu eingeladen, zusammen mit China über eine globale Klima- und Umweltagenda nachzudenken. Das ist ein ermutigendes Zeichen.

Wie sollte Deutschland auf eine mögliche Klimaverschlechterung zwischen Russen und Amerikanern reagieren?
Deutschland muss in diesem Konflikt an sich und an Europa denken. Wir dürfen uns nicht vor den Karren anderer Mächte spannen lassen. Wer wäre denn der Leidtragende, wenn sich Russen und Amerikaner mitsamt ihrem Vernichtungsarsenal wieder feindlich gegenüberstünden? Deshalb versuche ich, wann immer möglich, die Leute wachzurütteln, damit das nicht passiert.

Das Interview führte René Nehring.

• Alexander Rahr war bis 2012 Programmdirektor für Russland/Eurasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ist seit 2012 Forschungsdirektor beim Deutsch-Russischen Forum.
www.deutsch-russisches-forum.de


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Kommentare

Siegfried Hermann am 04.04.21, 09:40 Uhr

Was die russische Seele angeht, mag Herr Rahr sehr wohl recht haben und folgert richtig:
"Deutschland muss in diesem Konflikt an sich... denken."
Ist beim Deutschen Volk alles im Lot, profitieren die Nachbarn autom! Das war immer so.
Mit einen bunten Corona-Königin-System, egal in welcher Farb-schattierung ist das UNMÖGLICH!
Genauso ist das Mafia-Shithole-Brüssel genau der Garant, das Europa nach 70 Jahren mühevoller Einigungsversuche, aus grenzenloser Raffgier, Korruption und Macht-geilheit wieder auseinander fallen wird.
Und das Thema deutsche Ostgebiete (Schlesien, Pommern, Ostpreußen, Danzig, Memel) ist ein immer wieder kehrendes Thema der PAZ und erst dann abgeschlossen, wenn wir nach über 100 !! Jahren -aktuellen- Krieg (mit Waffen, Finanzen, Migranten) gegen das Deutsche Volk einen Friedensvertrag, die Souveränität und die deutsche Reichsgebiete jenseits der Neiße auf friedliche Mittel alternativlos und OHNE jede Bedingung wieder bekommen.
Ergo:
Eigentlich hätte er das auch zum Thema machen müssen, weil es ohne Russland nicht geht und jede russische Initiative dahin, durch die Kanzler*Darsteller*Innen (s/l/d) systematisch auf Weisung und Druck aus der wallstreet (M. Friedman, G. Soros) und Woschingtän verweigert worden ist.
Insofern bedarf es schon, das einige finstere Politfiguren und Marionettenbediener Erwähnung bekommen sollten.
Kaum ein normale Bürger hat das Verständnis die Vorgänge hinter den Bühnenvorhang zu verstehen!
Frohe Ostern!

Jan Kerzel am 04.04.21, 09:02 Uhr

Die deutschrussische Frage wird in Kaliningrad gelöst, oder auch nicht. Russland ist weit weg, sein Potential ist überschaubar. seine Bedeutung wird mehr herbeigeredet als sie es substantiell wirklich ist. Eine Konfrontation mit den USA, quasi das Schreckgespenst, ist unrealistisch, zero chance for Russia. Niemand wird hier ein Opfer sein, auch Deutsche und Deutschland nicht. Das ist nichts weiter als ein sinnfreies endloses Spiel, und dazu altes überflüssiges Gejammere. Die Beziehungen zu Russland gehen mal rauf, dann gehen sie auch wieder runter, trotzdem ist die wirtschaftliche Kooperation relativ vielfaeltig, die Zahlen sind positiv. Die russische Seite legt ausschlieszlich Wert auf Kontakte auf höchster Ebene, politisch wie wirtschaftlich. Für das Empfinden und Leben der deutschen Bürger ist dies weitgehend bedeutungslos, trotzdem besteht allseits Interesse an Russland und man ist allgemein relativ positiv eingestellt. Viele russische Bürger leben in Deutschland, noch mehr haben den Wunsch, es tun zu können. Das Pseudokrisengerede nervt gewaltig. Wir haben es nicht in der Hand und wir sollten uns auch nicht in eine Bringschuld hineinfantasieren. Es besteht keine. Erster Zug Kaliningrad (Sonderwirtschaftszone, Niederlassungsfreiheit, Garantien für Besitz und Handlungsfreiheit, Statussicherheit usw.), dann beginnt ein neues Spiel.

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