Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Vor 50 Jahren setzte die Regierung Brandt mit dem Moskauer Vertrag den ersten Markstein ihrer Neuen Ostpolitik. Die betroffenen Heimatvertriebenen aus dem Osten wurden nicht auf diesen Weg mitgenommen
Es war und ist eine der spektakulärsten und weitreichendsten Kehrtwenden der deutschen Geschichte. Am 12. August 1970 unterzeichneten Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) für die Bundesrepublik Deutschland sowie Ministerpräsident Alexej Kossygin und Außenminister Andrej Gromyko (beide KPdSU) für die Sowjetunion in Moskau einen Vertrag, in dem sie ihren Wunsch bekundeten, die gegenseitigen Beziehungen zu verbessern und auszubauen. Das Verhältnis zur Volksrepublik Polen und zur Deutschen Demokratischen Republik wurde anschließend – in ähnlichem Duktus – im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 und im Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 separat geregelt.
Anerkennung des Status quo
Der Moskauer Vertragstext umfasste einschließlich der Präambel lediglich knapp 360 Wörter oder 3.500 Zeichen, doch er hatte es in sich. Er begann mit diplomatischen Formeln, die aus heutiger Sicht banal erscheinen mögen, damals jedoch – 25 Jahre nach dem mörderischen Aufeinandertreffen zweier großer europäischer Nationen – alles andere als selbstverständlich waren. So betonten beide Seiten in der Präambel ihr „Bestreben, zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa und in der Welt beizutragen“, und in Artikel 2 versicherten die Unterzeichner, künftige „Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen“ zu wollen.
Der Dreh- und Angelpunkt des Vertrages war Artikel 3, in dem sich die Bundesrepublik und die UdSSR dazu verpflichteten, „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten“. Zudem erklärten sie, „daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden“ und dass sie „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich“ erachteten, „einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“. Hatten bis dato alle im Bundestag vertretenen Parteien einschließlich der SPD am Maximalziel einer Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 festgehalten, so erkannte mit dem Moskauer Vertrag erstmals eine Bundesregierung die im Zuge des Zweiten Weltkriegs entstandene Ordnung in Europa faktisch an.
Allerdings hatte die Bundesregierung Hintertüren offengehalten. So heißt es in Artikel 3, dass die bestehenden Grenzen „unverletzlich“ seien – nicht etwa „unveränderlich“ oder „unverrückbar“. Zudem betonte Außenminister Scheel in einem separaten „Brief zur deutschen Einheit“ an den sowjetischen Außenminister Gromyko, dass „dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.
Und in begleitenden diplomatischen Noten an die Westalliierten erklärte die Bundesregierung, dass deren Rechte als Besatzungsmächte durch den Moskauer Vertrag weder in Bezug auf Berlin noch auf Deutschland als Ganzes angetastet würden. Gerade diese Noten verdeutlichen die mangelnde Souveränität Deutschlands zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung sowie die Erkenntnis, dass jegliche Veränderungen nur in Übereinkunft mit allen vier Besatzungsmächten möglich waren.
Heftige Debatten
Trotz dieser Erklärungen löste der Moskauer Vertrag – zusammen mit den folgenden Ostverträgen – eine der heftigsten Debatten der alten Bundesrepublik aus, in deren Folge Abgeordnete der Regierungsfraktionen zur Opposition übertraten und ein Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Brandt gestellt wurde (der freilich an einem Stimmenkauf durch die Ost-Berliner Staatssicherheit scheiterte). Oppositionsführer Rainer Barzel, selbst 1924 im ostpreußischen Braunsberg geboren, sagte etwa im „Spiegel“ (Nr. 34/1970): „Ich sehe in diesem Vertrag (...) eine schwere Beeinträchtigung unserer Lebensinteressen und keine Verbesserung für Gesamteuropa“ und weiter: „Zum Beispiel hat die Regierung den Akzent sehr auf die Wahrung der Rechte der Alliierten gelegt. Ich bestreite, daß sie mit gleichem Nachdruck sich bemüht hat, das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zu verankern.“
Bundeskanzler Brandt erklärte noch von Moskau aus in einer Fernsehansprache: „25 Jahre nach der Kapitulation des von Hitler zerstörten Deutschen Reiches (...) ist es an der Zeit, unser Verhältnis zum Osten neu zu begründen – und zwar auf dem uneingeschränkten gegenseitigen Verzicht auf Gewalt, ausgehend von der politischen Lage, wie sie in Europa besteht.“ Für Brandt entsprach es „dem Interesse des ganzen deutschen Volkes, die Beziehungen gerade zur Sowjetunion zu verbessern“, denn diese „ist nicht nur eine der großen Weltmächte – sie trägt auch ihren Teil der besonderen Verantwortung für Deutschland als Ganzes und für Berlin“. Europa, so Brandt, „endet weder an der Elbe noch an der polnischen Ostgrenze“ und „Rußland ist unlösbar in die europäische Geschichte verflochten, nicht nur als Gegner und Gefahr, sondern auch als Partner – historisch, politisch, kulturell und ökonomisch.“
Wie sein Außenminister in dessen Brief an Gromyko betonte auch Brandt in seiner Moskauer Fernsehansprache, am Ziel der Wiedervereinigung festhalten zu wollen: „Morgen sind es neun Jahre her, daß die Mauer gebaut wurde. Heute haben wir, so hoffe ich zuversichtlich, einen Anfang gesetzt, damit der Zerklüftung entgegengewirkt wird, damit Menschen nicht mehr im Stacheldraht sterben müssen, bis die Teilung unseres Volkes eines Tages hoffentlich überwunden werden kann.“
Die Haltung der Vertriebenen
Eine der zentralen Aussagen in Brandts Ansprache war die Feststellung: „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war.“ Dies konnte man – im Kontext des Vertragstextes und der begleitenden Erklärungen – als leicht verklausulierte, aber letztlich deutliche Aussage interpretieren, dass die Bundesregierung die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße als endgültig verloren ansah und etwaige Bestrebungen zur Wiedervereinigung fortan lediglich auf die DDR und Berlin beschränkt blieben.
Auch wenn Brandt mit seiner Feststellung nicht Unrecht hatte – schließlich war es nicht die Politik der Bundesrepublik, die zum Verlust des deutschen Ostens geführt hatte; diese hatte vielmehr die Aufgabe, die materiellen und ideellen Trümmer des zerstörten Landes zusammenzukehren – so verspielte der Bundeskanzler doch mit der Art und Weise, in der er seine Neue Ostpolitik betrieb, nicht nur das Vertrauen der ostdeutschen Heimatvertriebenen, sondern vertiefte auch die Gräben in der deutschen Gesellschaft.
Wer sich die damaligen Stellungnahmen der Heimatvertriebenen und ihrer publizistischen Organe ansieht, wird feststellen, dass auch ihnen durchaus bewusst war, dass es in der Ostpolitik nicht einfach so weitergehen konnte wie bisher. So hält etwa der Chefredakteur des Ostpreußenblatts, Hugo Wellems, der Bundesregierung keineswegs Vokabeln wie „Verzicht“ oder „Verrat“ vor, sondern fragt in seinem Kommentar vom 15. August 1970: „Worin liegt denn unser Gewinn?“ und „Was also sind die Gegenleistungen für die Bonner Unterschrift unter das Moskauer Vertragswerk?“
Die Verbandsposition formulierte eine Woche später der damals amtierende Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Gerhard Prengel: „Mit der Inkraftsetzung dieses Vertrages hätten die Sowjets (...) ihren Machtbereich endgültig bis zur Elbe und Werra ausgedehnt und könnten sich dafür noch auf die Zustimmung der deutschen Regierung berufen.“ Auch Prengel beklagt, dass der Moskauer Vertrag „nicht die geringste Gegenleistung für die Besiegelung der Dreiteilung Deutschlands“ enthalte: „Millionen deutscher Mitbürger in Ost- und Mitteldeutschland müssen weiter in Unfreiheit leben, Mauer, Stacheldraht und Schieß-befehl bleiben bestehen!“
Zugleich betont Prengel den guten Willen der Landsmannschaft: „Auch wir treten ein für eine zielgerichtete Friedenspolitik. (...) Wir, die wir selbst durch die grausame Vertreibung soviel Leid erdulden mußten und auch heute noch im seelischen, menschlichen, teilweise noch immateriellen Bereich ertragen müssen, haben am ehesten erkannt, was Haß und Krieg zwischen den Völkern vermag. (...) In unzähligen Verlautbarungen der verschiedensten Gremien der Heimatvertriebenen“, so Prengel, haben diese immer wieder zum Ausdruck gebracht, „daß sie zu einer echten Versöhnung bereit sind. Wir sind davon überzeugt, daß eine solche Versöhnung, wie sie auch mit unseren westlichen Nachbarn möglich gewesen ist, bereits ebenso Geschichte wäre, wenn das polnische und russische Volk frei seinen Willen bekunden könnte.“
Vertane Chancen
Passagen wie diese zeigen, welche Möglichkeiten zur Stiftung des inneren Friedens die Bundesregierung mit ihrem Vorgehen verschenkt hat. Es hätte den Bundeskanzler nichts gekostet, in seiner Moskauer Fernsehansprache einige anteilnehmende Worte an die Ostpreußen, Pommern, Schlesier, Ost-Brandenburger in der Bundesrepublik sowie an die Landsleute in der DDR zu richten und ihnen zu versichern, dass ihm ihr besonderes Schicksal bewusst ist. Es hätte ihn nichts gekostet, sie direkt um Verständnis dafür zu bitten, dass die Anerkennung des Faktischen ein Vierteljahrhundert nach dem Kriege aus diesem oder jenem Grunde unerlässlich sei, und dass der Blick nach vorn vielleicht auch ihren Interessen mehr nützt als das Festhalten an Rechtspositionen, die zu keinem Zeitpunkt einlösbar waren. Nur wenige Worte in diesem Sinne – und das politische Klima der Bundesrepublik wäre in der Folgezeit vermutlich weit weniger vergiftet gewesen. Immerhin waren führende Repräsentanten der Vertriebenen wie Wenzel Jaksch, Herbert Hupka und Reinhold Rehs lange Zeit Mitglieder der SPD.
Doch Willy Brandt wählte einen anderen Weg. Während er außenpolitisch auf Entspannung setzte, ließ er im Inneren die Betroffenen rechts liegen. Zahlreiche Medien assistierten ihm dabei. Wer Brandts Ostpolitik mittrug, wurde nunmehr als Teil der Entspannungspolitik gewürdigt; wer diese auch nur hinterfragte, galt fortan als „Revanchist“, „kalter Krieger“ oder „Ewiggestriger“.