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Die estnischen Historiker Anti Selart und Mait Laur beschreiben die von Fremdherrschaft beeinflusste Entwicklung ihrer Stadt
Die estnische Stadt Tartu, unter ihrem deutschen Namen Dorpat bekannt, ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas. Nach der Hauptstadt Tallinn/Reval ist Dorpat mit knapp 100.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. Ihr Ruhm gründet sich in der 1632 von Schweden gegründeten Universität, der zweitältesten Universität Schwedens nach Uppsala (1477), die 1802 von Russland wiederbelebt wurde.
Autoren des Buches „Dorpat/Tartu. Geschichte einer Europäischen Kulturhauptstadt“, das vom Deutschen Kulturforum östliches Europa angeregt wurde, sind die beiden in Dorpat lehrenden Historiker Anti Selart und Mati Laur. Wie alle kleineren Völker Ostmitteleuropas waren auch die Esten fast immer nur Spielball großer Mächte ringsum. Das gilt auch für das 1030 erstmals urkundlich erwähnte Dorpat. Ab 1224 herrschten dort die Kreuzfahrer, womit ein Jahrhunderte dauernder deutscher Einfluss im Alltag verbunden war. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts folgten eine kurze russische, dann bis 1625 eine polnische und bis 1725 eine schwedische Zeit.
Zeit unter russischer Herrschaft
Ab 1725 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs stand das Baltikum unter russischer Herrschaft. Dorpat, noch im
15. Jahrhundert eine relativ prosperierende Hansestadt, erlebte in den folgenden Jahrhunderten ein Auf und Ab.
Erst das 19. Jahrhundert wurde bis zur Russifizierung ab 1890 so etwas wie ein goldenes Zeitalter. Die Stadt erholte sich, die Universität errang durch europaweit bekannte – deutsche – Gelehrte den Ruf eines Vorpostens deutschen Geistes im Osten. Es sollte sich freilich rächen, dass die Esten, mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung, noch bis 1900 nahezu rechtlos blieben. Als sich nach der russischen Niederlage 1917 drei unabhängige Staaten im Baltikum bildeten, erlebten die Deutschen Enteignungen, Plünderungen und Verfolgungen.
Dorpats Geschichte ist Estlands Geschichte: kurze staatliche Selbstständigkeit von 1918 bis 1940, russische und dann deutsche Gewaltherrschaft, ab 1944 wieder sowjetische Herrschaft mit einer Estnischen SSR. 1991 erneute Unabhängigkeit; heute Mitglied in EU und NATO; die Universität, eine Volluniversität mit 14.300 Studenten, vertreten in allen europäischen akademischen Gremien.
Die Autoren schreiben streng konventionell-historiographisch; sozialgeschichtliche Aspekte wie heute in fast aller westlichen Geschichtsschreibung fehlen weitgehend. Man hätte sich beispielsweise noch nähere Angaben zum deutsch-estnischen Verhältnis, vor allem zur emotionalen Eruption 1919/20 gewünscht, überhaupt zu den dramatischen Ereignissen von 1919 (Unabhängigkeit), 1940 (sowjetische Okkupation) und 1991 (wieder unabhängig) – aber letztlich Marginalien bei einem Buch, dem man viele Leser wünscht.
Anti Selart/Mati Laur: „Dorpat/Tartu. Geschichte einer Europäischen Kulturhauptstadt“, Böhlau Verlag, Wien 2023, gebunden, 220 Seiten, 28 Euro