27.07.2024

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Die unvollendete Republik

Vom Provisorium zum Nationalstaat der Deutschen hat die Bundesrepublik einen weiten Weg zurückgelegt. Ganz angekommen bei sich selbst und ihrem Land ist sie auch nach 75 Jahren noch nicht

René Nehring
19.05.2024

Die Intention war unmissverständlich. Als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedeten, machten sie in jeder nur denkbaren Weise deutlich, dass sie hier lediglich ein Provisorium auf den Weg bringen wollten. So erklärte der Präsident der Versammlung, Konrad Adenauer, anlässlich der Verkündung des Grundlagendokuments, „der festen Überzeugung“ zu sein, „dass wir durch unsere Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung des ganzen deutschen Volkes und auch zur Rückkehr unserer Kriegsgefangenen und Verschleppten leisten. Wir wünschen und hoffen, dass bald der Tag kommen möge, an dem das ganze deutsche Volk unter dieser Fahne wieder vereint sein wird.“ Und er erwähnte auch, dass der Schritt notwendig sei, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“.

Auch sonst taten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates alles dafür, dass ihr Vorhaben nicht als Staatsgründungsprojekt erschien, sondern als provisorische Neukonstituierung des seit der Verhaftung der Regierung Karl Dönitz am 23. Mai 1945 – auf den Tag genau vier Jahre zuvor – nicht mehr geschäftsfähigen deutschen Gesamtstaates. Beharrlich hatten sie sich geweigert, die Forderung der westlichen Besatzungsmächte zu erfüllen und einen Separatstaat zu gründen, stattdessen sprachen sie von einer überregionalen Organisation für die westlichen Besatzungszonen, die denn auch wegen ihres besonderen Status' keine Verfassung, sondern lediglich ein „Grundgesetz“ erhalten sollte, das die wichtigsten Grundsätze festhielt. Und sowohl in der Präambel als auch im Schlussartikel 146 erklärten sie, dass es Aufgabe des deutschen Volkes sei, eines Tages eine Verfassung für die gesamte Nation zu beschließen.

Vom Provisorium zum Nationalstaat
Die Geschichte wollte es bekanntermaßen anders. Wenige Monate später, am 7. Oktober 1949, gründete die sowjetische Besatzungsmacht in ihrer Zone einen eigenen deutschen Staat, und zuvor war bereits der deutsche Osten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von allen Besatzungsmächten „unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt“ und die dort angestammte Bevölkerung vertrieben worden. Damit freilich war die volle Umsetzung des proklamierten Zieles – die staatliche Vereinigung Deutschlands in den Grenzen vor den nationalsozialistischen Eroberungsfeldzügen – von Beginn an fragwürdig. Gleichwohl hielten für immerhin zwei Jahrzehnte alle im Bundestag vertretenen Parteien und anschließend noch eine Hälfte des Parlaments die Forderung auf die staatliche Vereinigung mit Ostpreußen, Pommern, Schlesien und der Neumark aufrecht und gaben diese offiziell erst auf, als die Alliierten den Verzicht auf den Osten zur Voraussetzung für ihre Zustimmung zur Vereinigung von West- und Mitteldeutschland erhoben.

Dass selbst diese beiden Landesteile lange Zeit nicht zueinanderfanden, lag daran, dass die beiden deutschen Nachkriegsstaaten umgehend zum Frontgebiet des Kalten Krieges wurden und der Eiserne Vorhang sie voneinander trennte. Den Kampf der Systeme gewann der Westen haushoch. Während die DDR aufgrund der kommunistischen Mangelwirtschaft ständig mit Versorgungsengpässen zu kämpfen hatte, sorgten D-Mark und „Wirtschaftswunder“ für einen zuvor nicht gekannten Wohlstand – und eine immer größere Sogwirkung auf die Brüder und Schwestern im Osten. Ihre Niederlage im Systemwettstreit gestanden die DDR-Machthaber bereits im August 1961 ein, als sie eine Mauer durch Berlin zogen und die Grenze zu den westlichen Besatzungszonen zum Todesstreifen ausbauten. Als dann 1989 die DDR auch offiziell am Ende war, hatte sie dem Einheitsdrang ihrer Bürger nichts entgegenzusetzen, sodass die Vereinigung nahezu vollständig zu den Bedingungen des westlichen Teilstaates erfolgte. Der sichtbarste Ausdruck dieser Kapitulation war, dass Bundesrepublik und DDR zwar einen Einigungsvertrag schlossen, der zahlreiche Modalitäten des täglichen Lebens regelte, staatsrechtlich jedoch die Vereinigung durch den Beitritt der wiedergegründeten Länder der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erfolgte.

Spätestens damit – sowie mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ (offiziell: „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“) – war aus dem Provisorium Bundesrepublik ein Nationalstaat geworden – und aus der bescheiden „Grundgesetz“ genannten Gründungsurkunde eine gesamtdeutsche Verfassung. Doch anstatt auf diese Erfolgsgeschichte – zu der neben dem Sieg im Kampf der Systeme auch die Integration von Millionen Ostvertriebenen, Flüchtlingen aus der DDR sowie ausländischen Gastarbeitern nicht zuletzt auch ein hohes Ansehen in der internationalen Staatengemeinschaft gehört – stolz zu sein und daraus gar ein zeitgemäßes positives Verhältnis zum eigenen Land zu entwickeln, erfasste die führenden Repräsentanten von Politik und Gesellschaft schnell ein großes Misstrauen gegen die eigene Nation – und der Wunsch, diesem Deutschland durch ein Aufgehen in einem vereinten Europa möglichst zu entfliehen.

Flucht aus der Nation
Ursache für diese in anderen Ländern undenkbare Haltung waren diverse innere Häutungen, die die Bundesrepublik während der Jahre der Teilung durchlebte. Hatte sie in den 50er Jahren noch den Anspruch erhoben, der einzige rechtmäßige deutsche Staat zu sein, so setzte zu Beginn der 70er Jahre nicht nur die Neue Ostpolitik ein, die auf die faktische Anerkennung zweier deutscher Staaten hinauslief, sondern es entwickelte sich nach und nach geradezu eine Absetzbewegung aus der eigenen Nation. Die Westbindung, als Folge sicherheits- und militärpolitischer Weichenstellungen im Kalten Krieg durchaus im Interesse des Landes, wurde nach und nach zur schicksalhaften Verortung der Nation erklärt. Der Wunsch nach Wiedervereinigung – immerhin das höchste Ziel des Grundgesetzes – wurde als „Lebenslüge der Deutschen“ verunglimpft. Und an die Stelle traditioneller Liebe zu Heimat und Vaterland sollte nach dem Willen nicht weniger Intellektueller ein „Verfassungspatriotismus“ treten.

Allein über die Flucht zahlreicher Westdeutscher aus der eigenen Nation und ihrer Geschichte ließen sich ganze Bücher schreiben. Zu den wirkmächtigsten Ursachen gehört, dass die Bundesrepublik zwar in der Kontinuität des Deutschen Reiches gegründet worden war, im politischen Alltag jedoch – neben dem ideologischen Kampf mit der DDR – vor allem damit beschäftigt war, die Trümmer zusammenzukehren, die dieses Reich hinterlassen hatte. Dass mit dem Wirtschaftswachstum schon bald ein nie gekannter Wohlstand einsetzte, verstärkte derweil die Überzeugung, dass mit der Ausrufung der Bundesrepublik etwas völlig Neues eingesetzt habe, das mit dem Geschehen davor rein gar nichts zu tun hat.

Spuren einer Entfremdung
Hinzu kamen „Bildungsreformen“, die seit den 70er Jahren dazu führten, dass nachwachsende Generationen immer weniger mit Goethe und Schiller, Kant und Schopenhauer, Dürer und Riemenschneider oder auch Kopernikus und Adam Ries etwas anzufangen wussten. Das Wissen um die eigene Geschichte verkümmerte, bis irgendwann kaum mehr übrigblieb als die Erinnerung an die NS-Zeit und den Holocaust. Hinzu kam nicht zuletzt die Kraft des Faktischen einer jahrzehntelangen Teilung. Dass Fahrten in die DDR oder gar in den nun fremd verwalteten deutschen Osten mit allerlei Schikanen verbunden waren, während Urlaubsreisen ins Ausland – vor allem gen Süden – immer einfacher und erschwinglicher wurden, führte mit der Zeit dazu, dass die Strände der Adria, der Ägäis und erst recht der Baleareninsel Mallorca den Westdeutschen oft näher waren als die Sandburgen Rügens oder gar die Dünen der Kurischen Nehrung. Das Ergebnis dieser langen Entfremdung der Deutschen im Westen von ihren eigenen Ursprüngen war ein Staat, der sich den Ruf erwarb, ökonomisch ein Riese zu sein und politisch ein Zwerg.

Immerhin zeigte sich nach dem Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989, dass die Deutschen noch immer ein Zusammengehörigkeitsgefühl verband, das weit über den Jubel für die Fußballnationalmannschaft hinausreichte. So dauerte es vom Rücktritt des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 18. Oktober 1989 bis zur staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 nicht einmal ein ganzes Jahr. Noch erstaunlicher ist das Schultern der finanziellen Kosten des Einigungsprozesses, die trotz der Höhe von jährlich etwa 100 Milliarden Euro von keiner politischen Kraft je in Frage gestellt wurden. Und in den Tagen dramatischer Naturkatastrophen wie den Hochwassern an Oder (1997) und Elbe (2002), als Bayern, Hessen und Rheinländer ihren Jahresurlaub opferten, um in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen Deiche zu bauen, zeigte sich, dass die Deutschen noch immer durch ein tiefes Gefühl des Zusammenhalts verbunden sind, dass niemand verordnen kann.

Was einen Staat zusammenhält
Womit wir bei der Gegenwart wären. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zweifellos zu den großen Erfolgskapiteln der deutschen Geschichte. Seit Jahrzehnten erfahren der Staat und seine Institutionen hohe Zustimmungswerte in Meinungsumfragen, im Ausland ist die Bundesrepublik ein angesehener Bündnispartner. Und doch zeigen schon die regelmäßigen Beschwörungen von Spitzenpolitikern, heute „im besten Deutschland, das es je gab“ zu leben, dass dem Verhältnis der Deutschen zu ihrem Staat auch nach 75 Jahren noch immer etwas Selbstverständliches fehlt. Ein Grund dafür mag sein, dass die Bundesrepublik als Provisorium angefangen und sich erst nach und nach zum Nationalstaat gemausert hat. Ein anderer Grund mag indes sein, dass – siehe oben – noch immer zahlreiche Eliten dieses Staates mit ihrer Nation fremdeln. Was wiederum die Frage aufwirft, warum sich die Angehörigen dieser Nation für sie erwärmen sollen.

Zu den großen Leistungen der Bundesrepublik gehört auch das sogenannte Böckenförde-Diktum aus dem Jahre 1964, das – nach dem Staats- und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde benannt – mit den Worten „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ kurz und bündig das Dilemma beschreibt, dass moderne politische Systeme – so sie nicht mit Zwang regiert werden – nicht nur von theoretischen Texten wie einer Verfassung getragen werden, sondern von einem tiefen Gefühl der Zusammengehörigkeit der Bürger untereinander sowie der gemeinsamen Akzeptanz überlieferter Normen und Werte.

Hier liegt – bei allen Erfolgen der letzten Jahrzehnte – ein großes Manko der Bundesrepublik und vor allem ihrer Eliten der jüngeren Vergangenheit. Die Folgen der Globalisierung, in der immer mehr Menschen grenzübergreifend arbeiten, kulturelle Angebote konsumieren oder quer durch die Welt reisen, führen bei zahlreichen politischen Entscheidern und medialen Großkommentatoren zu dem Glauben, dass Nationalstaaten nicht mehr gebraucht würden. Doch hängt gerade in einer sich permanent verändernden Welt die fortdauernde Bereitschaft der Bürger zur Einhaltung von Gesetzen sowie zur Zahlung von Steuern und Abgaben an den Staat wesentlich davon ab, was sie mit diesem Staat verbinden. Böckenförde, Jahrgang 1930, sowie erst recht den Müttern und Vätern des Grundgesetzes, die allesamt im Kaiserreich geboren waren, war durchaus bewusst, dass eine Verfassung allein noch keinen Staat macht.

Insofern sind all jene, die es gut mit den Deutschen und ihrer Republik meinen, gut beraten, weniger den Neubeginn in der deutschen Geschichte – den die Gründung der Bundesrepublik zweifellos markiert – zu betonen als vielmehr die Kontinuität, in der sich nicht zuletzt ihre prägenden Gründer vor 75 Jahren selbst sahen.


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Kommentare

walter meiher am 24.05.24, 09:57 Uhr

Warum sollte man Demut vor einen GG haben und den Politikern, die gegen
das deutsche Volk sich von den USA GB F zu einer nicht vom Volk
beschlossenen Gesetzes Sammlung genannt GG missbrauchen ließen um ein
Diktat sich aufzwingen zu lassen und damit das Recht des Deutschen
Volkes auf seinen völkerrechtlichen Nationalstaat bis heute 2024 zu
untergraben um es als Melkkuh zu missbrauchen, wer ohne Scheuklappen
sich die sogenannte Staatsgründung der BRD anschauen tut, weis das der
sogenannte parlamentarische Rat nicht die Aufgabe und Befugnis hatte
einen neuen deutschen Staat auf dem Boden des besetzten Deutschen
Reiches zu gründen, sondern nur ein Grundgesetz zur Verwaltung der
damaligen Trizone die dann 1990 durch Mitteldeutschland erweitert wurde,
egal OP ihr das heute wahrhaben wollt oder nicht, das ist die historische Wahrheit.

Kersti Wolnow am 21.05.24, 11:55 Uhr

Wenn es eine Kontinuität geben soll, dann wäre schon 1982 eine geistig moralische Wende angebracht gewesen, von der Helmut Kohl zwar sprach, aber Gegenteiliges tat. Die giftige Saat der 68er ging von da an erst richtig auf. Weiberwahn bis zur Quote, dann dem völlig widersprechender Sexismus und Abstruses wie Gender, der verstärkte Fremdenwahn ab 1990 und der Niedergang der Bildung bis zum Chaos der Schlechtschreibreform.
Die Meinungsumfragen sind manipuliert und drücken eher das Gegenteil von Zufriedenheit aus (Politiker können sich auf der Straße nicht mehr sehen lassen), den Medien glaubt kaum noch jemand bei Verstand.
Alle warten auf Veränderungen. Wie lange noch?
Aus dem Provisorium wurde kein Staat, sondern eine US-Kolonie.
Putin sprach davon, den 2+4 Vertrag aufzukündigen, aber das kann er nicht alleine. Es braucht wieder eine Zusammenkunft aller Täter, die uns die Selbstbestimmung nahmen, aber nun rechtmäßig zurückgeben müssen.

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