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Geschichte und Gegenwart

Die Wunde bleibt offen

Vor 75 Jahren begann die Winteroffensive der Roten Armee. Sie läutete nicht nur den Untergang des deutschen Ostens ein, sondern auch das Vergessen ganzer historischer Landschaften. Die Folgen sind bis heute spürbar

René Nehring
01.01.2020

Am 12. Januar 1945, vor fast genau einem Dreivierteljahrhundert, begann die Winteroffensive der Roten Armee gegen die deutsche Ostfront. Binnen Tagen konnten die Russen große Geländegewinne verzeichnen; schon Ende Januar erreichten sie die Oder. Da das NS-Regime seinen Bürgern jegliche Vorbereitungen untersagt hatte, mussten Millionen Landsleute völlig überstürzt auf eine chaotische Flucht gehen. Sie erlitten Hunger und Erfrierungen, Vergewaltigungen und Ermordungen sowie nicht zuletzt den Verlust der Heimat. Die Ereignisse von damals sind – nach langen Jahrzehnten des Verdrängens – in den letzten Jahren wieder stärker in der Öffentlichkeit thematisiert worden. Fernsehfilme wie „Die Flucht“ oder „Die Gustloff“ und Dokumentationen wie „Die Vertriebenen“ oder „Fremde Heimat“ erreichten ein Millionenpublikum.

Folgen für das Selbstverständnis

Weitaus weniger bewusst – wenn überhaupt – sind den Deutschen die Folgen der mit dem Kriegsende erlittenen Verluste für ihr Selbstverständnis. Wenn ein Land ein Viertel seines Staatsgebietes verliert, dann gehen auf lange Sicht auch bestimmte regionale Lebensarten, Bräuche, Dialekte und Perspektiven verloren. Im heutigen Deutschland, dessen Aufgabe als kontinentale Zentralmacht es ist, die unterschiedlichen Interessen und Konflikte innerhalb Europas auszubalancieren (Herfried Münkler), fehlen diejenigen Landsleute, denen St. Petersburg, Warschau, Riga oder Kiew näher sind als Paris, London, Brüssel oder Amsterdam. Während Deutschland noch immer eine zentrale Beziehungsgröße für Russen, Polen, Balten und Ukrainer ist, sind den Deutschen ihre östlichen Nachbarn meistens egal. Für Konflikte wie in der Ukraine fehlt ihnen jedes Gespür.

Wenn es überhaupt ein Bild von den Ländern und Nationen östlich der Bundesrepublik gibt, dann meistens kein gutes. Galten die Polen, Ungarn, Slowaken, Tschechen und Balten in den 90er Jahren noch als demokratische Musternationen, die sich in friedlichen Revolutionen von Kommunismus und sowjetischer Fremdherrschaft befreit hatten, so werden sie heute – da sie zunehmend ihre Eigenständigkeit bewahren wollen – in westlichen Kommentaren bestenfalls als vormoderne Hinterwäldler dargestellt.

Diese Kultivierung von Klischees gibt es durchaus auch innerhalb Deutschlands: Wann immer hierzulande ein schreckliches Ereignis die öffentlichen Gemüter bewegt und dabei ein Bezug zu den neuen Bundesländern erkennbar ist, wird dies in den Berichten breit herausgestellt. Wenn zum Beispiel in Dresden Neonazis durch die Straßen marschieren, wird dies gern mit „typisch Sachsen“ oder „typisch Osten“ kommentiert – bei einem ähnlichen Aufmarsch in Dortmund unterbleibt jedoch der Verweis auf die Region.

Als nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 nach einer Erklärung für das starke Abschneiden der AfD gesucht und schnell der hohe Stimmenanteil der Partei in den neuen Bundesländern in den Blick kam, schrieb der Historiker Magnus Brechtken in der „FAZ“: „Wir haben es in den neuen Bundesländern mit dem verbreiteten Phänomen eines nachhängenden Deutschland-Bildes autoritärer Tradition zu tun, dessen Wurzeln weit in die Zeit vor 1945 zurückreichen.“ Mit anderen Worten: Die „Ossis“ wählen deshalb populistisch, weil „der Osten“ – und damit ist nicht nur der Osten der heutigen Bundesrepublik gemeint, sondern auch der historische preußisch-deutsche Osten – schon immer reaktionär, rückständig und obrigkeitsgläubig war.

Brechtken ist freilich nicht irgendjemand, sondern stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. Wie kommt ein solcher Mann zu solch einem Urteil? Weiß er nichts von den großen kulturellen Traditionen des Ostens der heutigen Bundesrepublik und des historischen deutschen Ostens? Weiß er nichts von Bach, Händel und Wagner, die allesamt aus Regionen kamen, die zum heutigen Osten der Republik gehören? Weiß er nichts von Immanuel Kant, vom Oberpräsidenten Theodor von Schön, vom ersten Präsidenten des Paulskirchenparlaments Eduard von Simson und von der Philosophin Hannah Arendt, die allesamt in Königsberg geboren oder durch die Stadt am Pregel geprägt wurden? Weiß er nichts von den Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle, Karl Schiller und Hans-Ulrich Klose, die ebenso aus Breslau kamen wie der liberale Historiker Fritz Stern und der Theologe Dietrich Bonhoeffer?

Systematische Unwissenheit

Die pauschale Herabwürdigung des Ostens ist keinesfalls Zufall, sondern ein bis heute kaum wahrgenommenes Relikt des Kalten Krieges, als der „Eiserne Vorhang“ Deutschland und Europa in Ost und West trennte und vormals unpolitische Himmelsrichtungen eine symbolhafte Aufladung erfuhren.

Das Berliner Haus der Kulturen der Welt zeigte zum Beispiel im vergangenen Jahr in seiner Ausstellung „Parapolitik. Kulturelle Freiheit und Kalter Krieg“, wie während der Teilung Europas auch Kunst und Kultur in das Wettrüsten der Systeme integriert wurden. So spannte der 1950 in West-Berlin gegründete Congress for Cultural Freedom (CCF) ein weltweites Netzwerk aus führenden Philosophen, Schriftstellern und Publizisten, die in ihren Arbeiten den „Westen“ fortan als Heimat von Freiheit, Fortschritt und Wohlstand schilderten – und den „Osten“ als Ort der Unfreiheit, Stagnation und Verarmung. Derlei Zuschreibungen wirken bis heute.

Das vor uns liegende Gedenkjahr ist somit nicht nur Anlass, die Toten von NS-Herrschaft, Krieg, Flucht und Vertreibung zu beklagen. Vielmehr ist es auch ein geeigneter Rahmen zu fragen, welche Folgen der Verlust des alten Ostens hatte – für Deutschland und Europa. Nicht zuletzt ist es ein guter Anlass, diesen Osten wiederzuentdecken – in den Bibliotheken und Museen sowie persönlich vor Ort.


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