Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Christian Hardinghaus hat die Erlebnisse der damals zehnjährigen Ursula Dorn aufgeschrieben – Ein bewegendes Zeugnis
Dies ist eines der wichtigsten Ostpreußenbücher aus jüngster Zeit. Aus der Sicht eines zehnjährigen „Wolfsmädchens“, der damaligen Ursula Buttgereit, schildert Christian Hardinghaus in „Das Wolfsmädchen“ das furchtbarste Kapitel Ostpreußens und seiner Hauptstadt Königsberg. Dass in allem Grauen immer wieder auch Menschlichkeit aufblitzt, relativiert manches ein wenig, aber es bleibt der Eindruck eines Infernos.
Wolfskinder – dieser Ausdruck hat sich eingebürgert für die nach 1945 aus dem hungernden Königsberg ins benachbarte Litauen geflüchteten Kinder, die meisten zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Diese Halbwüchsigen reagierten mit ihrer Flucht auf die furchtbaren Lebensumstände, die in Königsberg und überhaupt in Ostpreußen seit der Eroberung des Landes durch die Rote Armee im April 1945 herrschten. Die Forschung schätzt heute, dass es etwa 20.000 Kinder waren, von denen über die Hälfte dort verhungert oder erfroren sind. Andere konnten dank mitleidiger Menschen in Wäldern und Dörfern überleben. Ab 1948 wurden die meisten zwangsweise in die DDR abgeschoben.
Königsberg hatte sich noch lange nach Kriegsausbruch vor Zerstörung und Eroberung sicher gefühlt. Aber im August 1944 war die Stadt durch zwei schwere Luftangriffe britischer Bomber zu einem großen Teil zerstört worden. Die immer näher herangerückte Rote Armee hatte im Januar 1945 mit ihrem Sturm auf die Stadt begonnen, die, obwohl vom NS-Regime noch zur „Festung“ deklariert, im April kapitulieren musste. Danach begann für die deutsche Bevölkerung die schon so oft beschriebene Schreckenszeit, der nach neuesten Berechnungen bis 1948 fast 100.000 Menschen zum Opfer fielen, sei es als Opfer von Mord und Vergewaltigung, sei es durch Erschöpfung und Hungertod.
In der Hölle von Königsberg
Hardinghaus, erfolgreicher Autor zeitgeschichtlicher Bücher, hat mit der 88 Jahre alten Ursula Dorn viele Gespräche über ihre Erlebnisse als Wolfskind zwischen 1945 und 1948 führen können und daraus in einer Verbindung von persönlichem und historischem Bericht dieses bewegende Buch gemacht. Die zehnjährige Ursula hatte die Kapitulation Königsbergs und das folgende Jahr hautnah miterlebt. Sie wurde Zeugin von Mord und Selbstmord, musste unzählige Vergewaltigungen auch nächster Angehöriger unmittelbar miterleben, konnte nicht wegsehen, wenn vor ihren Augen Menschen ermordet wurden und erlebte, wie die Menschen von Tag zu Tag mehr verrohten und Mitgefühl und Solidarität füreinander schwanden.
Der Kampf ums nackte Überleben bestimmte alles Denken und Handeln. „Wir waren Raubtiere in Kindergestalt“, sagt die heute bei Göttingen lebende Ursula. Vor allem der ständige Hunger hat sich zeitlebens eingeprägt: „Der Hunger macht einen zum Wahnsinnigen. Man dreht durch. Wir hatten keine Gefühle mehr. Jeder denkt nur noch an sich, es gibt auch kein Mitleid mehr unter den Geschwistern. Das geht ganz schnell, und man kann es sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selber kennt.“ Immer mehr Menschen nehmen sich aus Verzweiflung das Leben, und vielleicht die grausamsten Ereignisse sind Anzeichen von Kannibalismus. In Erinnerungen wird von Klopsen aus Menschenfleisch berichtet, im ehemaligen Kaufhaus Hettlage soll es eine Menschenschlachterei gegeben haben. Der Hungerwahn lässt auch Familien untereinander zu Mördern werden.
Hunger macht wahnsinnig
Im Februar 1946 flüchtet das verzweifelte Mädchen auf abenteuerlichen Wegen ins benachbarte Litauen; später kann Ursula ihre Mutter nachholen. Hier erleben beide fast unerwartet große Menschlichkeit. Viele Litauer, meist bäuerliche Familien in den kleinen Dörfern, helfen den zu Skeletten abgemagerten Menschen, geben ihnen für kurze Zeit Unterkunft und Verpflegung – Ursula erwähnt immer wieder den „Topf mit warmer Milch“ – und nehmen vereinzelt Kinder als eigene an, allerdings um den Preis, dass diese ihre deutsche Identität völlig aufgeben müssen.
Der Leser freut sich förmlich mit, wenn die hungernden, zerlumpten Frauen von mitleidigen Litauern wieder etwas aufgepäppelt werden. Gefahrlos ist gleichwohl das Leben in Litauen nicht. Nicht nur, dass Kost und Unterkunft doch immer nur Glückssache waren; viel gefährlicher war, dass damals ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Sowjets und den sogenannten „Waldbrüdern“ tobte, einer zeitweise ziemlich starken Partisanenarmee litauischer Patrioten, die die neue Sowjetherrschaft noch bis fast 1952 bekämpften. Im Herbst 1948 wurden Ursula und ihre Mutter von der litauischen Geheimpolizei aufgegriffen, dann aber nicht, wie befürchtet, nach Sibirien, sondern in die SBZ abgeschoben.
Sie landen in Eisenach, wo sie in einem Auffanglager des Roten Kreuzes langsam wieder zu Kräften kommen. Von den Ärzten hört Ursula später, dass ihr Körper schon alle typischen Symptome des Verhungerns aufgewiesen habe. Sie kann eine ordentliche Schul- und Berufsausbildung machen. Im Herbst 1953 fliehen Mutter und Tochter in den Westen, 1958 heiratet Ursula, es beginnt ein freundlicheres Leben. Nach der friedlichen Revolution besucht sie im Jahr 2000 noch einmal ihre Geburtsstadt Königsberg; das freudig erwartete Wiedersehen wird zu einem einzigen Albtraum; ihr sensibler Mann hilft ihr, die traumatischen Tage zu überstehen.
Der Autor gibt viele Gespräche wörtlich wieder. Ferner fügt er in Kurzform zwei weitere bittere Schicksale jetzt in Deutschland lebender, zudem zwei Lebensläufe in Litauen groß gewordener Wolfskinder an. Dort leben heute noch etwa 30, in Deutschland knapp 300 von ihnen. Sie alle hoffen, dass ihr Leiden endlich einen angemessenen Platz in unserer Erinnerungskultur findet.
Christian Hardinghaus: „Das Wolfsmädchen. Flucht aus der Königsberger Hungerhölle 1946“, Europa Verlag, München 2022, gebunden, 256 Seiten, 20 Euro
Ritter Bodo von Proskau am 01.06.23, 18:40 Uhr
Dieses Erschrecken über die plötzlich erschienenBilder einer vergangenen Zeit habe ich auch beobachten müssen. Zu Beginn der 90er hat so mancher Reise-Veranstalter auf das Konzept "Heimweh-Tourismus" gesetzt, das genau auf diese Personen gerichtet war, die gegen Ende des Krieges aus ihrer Heimat geflohen sind. Es herrschten damals teilweise schon seltsame Vorstellungen von den Flucht-Ereignissen. ich war damals in der Reise-Vorbereitung tätig, weil von den Vertreibenen kaum jemand all die neuen Ortsnamen, Strassennamen etc. kannte. Teilweise sind da schon die alten Leutchen zusammengebrochen, als sie am Ort ihrer alten Heimat waren und sehen mussten, wie gründlich die "Neu-Siedler" alles getilgt hatten, was einstmals deutsch war. Ich werde nie das entsetzte Gesicht eines alten Herrn vergessen, der am Ort des alten Friedhofs nun eine Müllkippe sehen musste.
Gerd F. Berges am 19.05.23, 11:06 Uhr
Was für ein Horror!