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Südtirol

Eine bleibende Wunde

Während Deutschland in diesem Herbst an die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vor 30 Jahren erinnert, bleiben andere Jahrestage unerwähnt. Neben dem Trianon-Trauma Ungarns vor allem die Annexion Südtirols durch Italien vor 100 Jahren

Reinhard Olt
22.10.2020

Der Oktober 2020 zwingt auf vielfältige Weise zur Vergewisserung bedeutender Ereignisse, die miteinander korrespondieren. Wenngleich nicht auf den ersten Blick zu erkennen, so besteht zwischen der Erinnerung an 30 Jahre Vereinigung zwischen Bundesrepublik und DDR, an 100 Jahre Volksabstimmung in Kärnten, an die territoriale Kastration Ungarns sowie an die formelle Annexion des südlichen Teils des einstigen Kronlandes Tirol durch Italien eine – wenn auch kontrastive, so doch – innere Verbindung.

Kärnten, wo die Siegermächte des Ersten Weltkriegs auf US-amerikanischen Druck hin am 10. Oktober 1920 eine Volksabstimmung erlaubt hatten, entging – maßgeblich zufolge des Kärntner Abwehrkampfs sowie mehrheitlichen Votums der slowenischen Minderheit Südkärntens für den Verbleib bei Österreich – der vom jugoslawischen SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) verlangten Landesteilung. Ohne Volksabstimmung wurden hingegen per Vertrag von Saint-Germain-en-Laye (1919) das Mießtal dem SHS-Staat sowie das Kanaltal Italien übereignet.

Die Teilung Tirols

Das einschneidendste Ereignis für die als Nachfolgerin des österreichisch-ungarischen Imperiums entstandene und zunächst an ihrer Existenzfähigkeit zweifelnde Republik (Deutsch-)Österreich war die erzwungene Abtretung Südtirols (mitsamt Welschtirol/Trentino) an Italien. Das Zerreißen Tirols, die formelle Annexion des südlichen Landesteils am 10. Oktober 1920 – just also am Tag der Kärntner Volksabstimmung – ist und bleibt, wie der im selben Jahr am 4. Juni im Friedensdiktat von Trianon bestimmte Verlust Ungarns von zwei Dritteln seines Territoriums, eine Wunde, die nicht verheilen kann. Denn damit sind nicht nur Menschen- und Selbstbestimmungsrechte verletzt worden, sondern Völker und Seelen.

„Bella Italia“ muss sich all seinen beschönigenden Parolen zum Trotz gefallen lassen, als hinterhältiger, sich verstellender politischer Akteur eingestuft zu werden. Schon Bismarck sagte nach der quasi parallel vollzogenen Einigung Italiens und der maßgeblich von ihm herbeigeführten Reichsgründung 1870/71, dass im Gegensatz zum saturierten preußisch-deutschen Kaiserreich das sardinisch-toskanisch-sizilianische Königreich Italien ein „hungriger“ Staat sei: „Italien hat einen großen Appetit, aber sehr schlechte Zähne.“

Vielfach lieferte Italien hernach Beweise für Bismarcks abfälliges Diktum. Um seinen national-romantisch verbrämten, quasi der Idee des „Imperium Romanum“ verschriebenen und von „sacro egoismo“ („heiligem Eigennutz“) getriebenen „Hunger“ nach territorialer Ausweitung zu stillen und stets zielgerichtet auf Sieger-Seite zu sein, wechselte es nach Belieben die Fronten. Südtirol war das kontinentale „Tortenstück“ dieses dem Macht- und Landhunger geschuldeten Seitenwechsels von 1915 während des Ersten Weltkriegs. Schon lange hatten italienische Nati­onalisten die Ziehung der Grenze entlang der Wasserscheide am Brenner gefordert.

Nichts von dem, was der einstige Ministerpräsident Luigi Luzzatti nach der Unterzeichnung des Friedensdiktats von St. Germain (10. September 1919) im römischen Parlament sagte – „Es muss eine Ehrenpflicht für die Regierung und für das Parlament sein, den Deutschen, die nur wegen der absoluten Notwendigkeit, unsere Grenzen verteidigen zu können, angegliedert wurden, ihre autonomen Einrichtungen zu bewilligen“ – wurde nach der Einverleibung des südlichen Tirols zugestanden. Im Gegenteil: Selbst die trientinischen (Welsch-)Tiroler Reichsratsabgeord­neten Enrico Conci und Alcide DeGasperi – er sollte nach dem Zweiten Weltkrieg, als den Südtirolern wiederum die Selbstbestimmung verweigert wurde, abermals eine verhängnisvolle Rolle spielen – schlugen Töne an, die sich nicht im geringsten von jenen der Schwarzhemden Mussolinis unterschieden. So schrieb DeGasperi in einem Artikel unter dem Titel „Tirolo addio“, der am 4. Dezember 1918 in der von ihm herausgegebenen Zeitung „Il Nuovo Trentino“ erschien: „Tiroler, euer Leben war unser Tod, nun wird unser Leben euer Tod sein.“

Der faschistische Furor

Mit dem ersten von faschistischen Schlägertrupps am 24. April 1921 in Bozen Getöteten, dem Marlinger Lehrer Franz Innerhofer, nahm die Knechtschaft der Südtiroler ihren Lauf. Erniedrigung, Drohungen, Gewalt, Folter, Mord waren fortan an der Tagesordnung. Geschichtsfälschungen und die Italianisierung von Vor- und Familiennamen sowie von Orts- und Flurnamen, das Verbot des öffentlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, verbunden mit der massenhaften Ansiedlung von ethnischen Italienern in den aus dem Boden gestampften Industrie- und Gewerbezonen, die Zerschlagung von Vereinen und Verbänden mittels Verbots sowie der Installation rein italienischer Strukturen, das Ersetzen gewählter Ortsvorsteher durch faschistische Amtsbürgermeister, der Austausch der Ordnungskräfte sowie die Unterdrückung von Medien und Kultureinrichtungen, schließlich die Errichtung des unsäglichen „Siegesdenkmals“ in Bozen und vieles mehr hatten zum Ziel, den südlichen Teil Tirols in eine rein italienische Provinz zu verwandeln.

Als sich alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“, gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, als fruchtlos erwiesen, zwangen die „Achsenpartner“ Mussolini und Hitler die Südtiroler in einem perfiden Optionsabkommen, sich entweder für das Deutsche Reich zu entscheiden und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen „Italianità“ anheimzufallen. Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung.

1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab, woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft zugunsten der Südtiroler verständigten, die Bestandteil des Friedensvertrags mit Italien wurde. Das Gruber-DeGasperi-Abkommen vom 5. September 1946 sah die politische Selbstverwaltung vor, und im Kulturellen wurden muttersprachlicher Unterricht sowie die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens garantiert.

Der Rosstäuscher DeGasperi

Zwar erließ Rom dann 1948 das vorgesehene Autonomie-Statut und deklarierte es – wie zwischen Vertragspartnern und Siegermächten verabredet – zum Bestandteil der italienischen Verfassung. Allerdings wurde die Provinz Bozen-Südtirol mit der Nachbarprovinz Trient in einer Region („Trentino-Alto Adige“) zusammengefasst. Dieser Trick DeGasperis führte die Majorisierung der deutschen und der ladinischen Volksgruppe durch die italienische herbei, die im Trentino absolut dominant war.

Dagegen und gegen die vom demokratischen Italien ungebrochen fortgeführte Ansiedlung weiterer Italiener protestierten die Südtiroler 1957 unter der Parole „Los von Trient“. Mit Anschlägen auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen machte der „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) die Welt auf die verweigerte Selbstbestimmung und die uneingelösten vertraglichen Zusicherungen Roms aufmerksam.

1960 trug der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky (SPÖ) den Konflikt vor die Vereinten Nationen, und da Italien trotz zweier UN-Resolutionen nicht einlenkte, erreichten die Anschläge im Sommer 1961 ihren Höhepunkt. Rom verlegte 22.000 Soldaten sowie Carabinieri in den Norden und stellte das Land unter Ausnahmerecht mit all den damit verbundenen rigorosen Gewaltmaßnahmen gegen die Bevölkerung, insbesondere das Foltern von inhaftierten BAS-Aktivisten. Südtirol rückte infolgedessen auch international in den Mittelpunkt des Weltgeschehens.

„Paket“ und zweites Statut

Nach unzähligen Verhandlungsrunden zwischen Wien und Rom im Beisein von Vertretern beider Tirol einigte man sich auf die Entschärfung des Konflikts, indem man 137 Einzelmaßnahmen an einen „Operationskalender“ band – also an eine zeitliche Vorgabe für die Umsetzung – und in einer sogenannten „Paket-Lösung“ verschnürte. Bevor diese am 20. Januar 1972 als „Zweites Autonomiestatut“ in Kraft treten konnte, musste ihm die Südtiroler Volkspartei (SVP), die seit 1945 maßgebliche politische Kraft im Bozener Landhaus, zustimmen. Auf der SVP-„Landesversammlung“ in der Kurstadt Meran kam 1969 eine knappe Mehrheit dafür zustande.

Es sollte weitere 20 Jahre und ungezählte Verhandlungen in Anspruch nehmen, die Bestimmungen über die Selbstverwaltung umzusetzen sowie die annähernde Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache im öffentlichen Leben sowie die Stellenbesetzung gemäß ethnischem Proporz zu verwirklichen. Erst 1992 konnte das „Paket“ für erfüllt und am 11. Juni der Südtirol-Konflikt durch Abgabe der „Streitbeilegungserklärung“ vor den Vereinten Nationen für beendet erklärt werden. Zuvor hatte der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti im römischen Parlament sowie mittels eines Briefes nach Wien die Zusicherung gegeben, dass Änderungen daran nur mit Zustimmung der Südtiroler vorgenommen werden dürften.

Letzteres ist seitdem vielfach nicht eingehalten oder im Sinne der von Rom in Anspruch genommenen zentralstaatlichen „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) stark verwässert worden. Die SVP fand sich immer öfter bereit, von Rom dekretierte Änderungen an Substanz und Charakter des Statuts hinzunehmen, um den Anschein von „Convivenza/Zusammenleben“ aufrechterhalten und die angeblich „beste Autonomie der Welt“ nach innen und außen als „modellhaft“ anpreisen zu können. Nicht zuletzt auch, um ihre politische Macht in der Provinz zu erhalten, von deren ökonomisch-finanziellen wie sozialen Pfründen das Gros ihrer Funktionsträger profitiert.

Sehnsucht nach der Einheit Tirols

Von der „Autonomie-Partei“ SVP, deren einstiges geduldiges, mitunter bis zur Selbstverleugnung reichendes politisches Wirken für ein erträgliches Dasein der Südtiroler nicht gering geschätzt werden soll, ist daher unter ihrer gegenwärtigen Führung nicht zu erwarten, dass sie je an eine Änderung des Status quo auch nur denkt.

Demgegenüber zeigen mehrere demoskopische Erhebungen der letzten Jahre – sowohl in Südtirol als auch in Österreich –, dass sich die überwiegende Mehrheit der Befragten stets für die Beseitigung beziehungsweise Überwindung des Teilungszustands ausgesprochen hat. Es kann daher nicht verwundern, dass die Tiroler im Zusammenhang mit dem deutschen Staatsfeiertag am 3. Oktober die Frage stellten, was „das Bundesland Tirol, die Autonome Provinz Bozen-Südtirol und die Republik Österreich zur Vereinigung Süd-, Ost- und Nordtirols unternehmen“.

Vereinigungen wie Schützen (SSB), Heimatbund (SHB) und deutschtiroler Landtagsopposition halten indes daran fest, immer wieder das völkerrechtswidrige Zerreißen Tirols und die stete Verweigerung der Selbstbestimmung ins Gedächtnis zu rufen. Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang das „Kenntlichmachen der Mitte Tirols“ durch einen geweihten Markierungsstein, den der Schützenbezirk Brixen in unmittelbarer Nähe des Schutzhauses „Latzfonser Kreuz“ errichtete, sowie die von Trient bis Wien organisierte Plakataktion des SHB unter der Losung „100 Jahre Unrecht schaffen keinen Tag Recht“.

• Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war von 1985 bis 2012 Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und von 1994 bis zu seinem Ausscheiden deren politischer Korrespondent in Wien. Er hatte Lehraufträge an diversen deutschen, österreichischen und ungarischen Hochschulen inne.


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