Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Im Herbst 1948 wurde die Landsmannschaft Ostpreußen gegründet. Zusammen mit den anderen Verbänden der Heimatvertriebenen agierte sie stets als konstruktive politische Kraft. Eine Würdigung
Vor einigen Wochen hat der renommierte bayerisch-sächsische Politikprofessor Werner Patzelt in der Preußischen Allgemeinen Zeitung auf Seite 1 einen sehr nachdenklichen Artikel veröffentlicht zu dem Thema, dass viele Deutsche zunehmend das Vertrauen in Parteien und Demokratie verlören. Das ist besorgniserregend. Klar ist aber auch, dass für die Krise der Demokratie heute niemand – mehr – die Landsmannschaften der deutschen Heimatvertriebenen verantwortlich macht.
Das war nicht immer so. Und der 75. Geburtstag der Landsmannschaft Ostpreußen (LO), einer der großen und wichtigsten Landsmannschaften der Vertriebenen aus den historischen deutschen Staats- und Siedlungsgebieten in Ostmitteleuropa, ist ein sehr guter Anlass, sich noch einmal gründlicher damit auseinanderzusetzen. Damit, dass die Vertriebenenverbände lange immer wieder als eine Belastung für unsere Demokratie hingestellt worden sind, als Revanchisten, als Versöhnungsfeinde, als Fußkranke deutscher Vergangenheitsbewältigung, ja als mindestens halbe Rechtsradikale. Ich muss sagen, ich habe solche Zuschreibungen immer für ein ideologisches Zerrbild gehalten.
Ideologisches Zerrbild
In Wirklichkeit haben die meisten Vertriebenenverbände unserer Demokratie nicht nur nicht geschadet, sie haben ihr sogar – im Gegenteil – ganz erheblich zum Vorteil gereicht. Ich meine mit „Vertriebenenverbände“ dabei nicht nur die Organisationen selbst, als Ganzes, sondern auch ihre führenden Vertreter und deren politisches Agieren in den Parteien und in den Institutionen unseres demokratischen Gemeinwesens. Bekanntlich gab es leider auch einige radikale Irrläufer, aber die wären ein Thema für sich und bestätigen letztlich nur die Regel: Gerade in den Gründerjahren unserer Bonner Republik waren die Landsmannschaften nicht nur irgendein stabilisierender Faktor der Demokratie, sie waren viel mehr: Sie waren einer ihrer ganz festen Anker. Und wären sie das nicht gewesen als Vertreter eines Fünftels unserer Bevölkerung – ich weiß wirklich nicht, wie diese Bundesrepublik sich dann überhaupt hätte entwickeln können. So, die Katze haben wir damit aus dem Sack gelassen. Ich will das aber gerne auch noch etwas näher erläutern.
Wegweisend war zunächst schon einmal, dass viele tüchtige Vertriebene sehr bald nach ihrer Ankunft im Westen in die „lizenzierten“ demokratischen Parteien eingetreten sind. Und auch in der eigenständigen Vertriebenenpartei Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) haben sie ab 1950 in entscheidenden Fragen eine konstruktive Rolle gespielt. Hinzu kam der zehnjährige, zutiefst demokratische Dualismus zwischen dem eher sozialpolitisch orientierten Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD) und der eher heimatpolitisch fokussierten Dachorganisation der Landsmannschaften, dem Verband der Landsmannschaften (VdL). Dabei ging es immer auch darum, ob CDU/CSU, BHE oder SPD in den Verbänden das Sagen haben würden. Diese bundesdeutsche Demokratie, vergessen wir das nicht, war zuvorderst eine Parteiendemokratie.
Werfen wir deshalb zunächst einen Blick auf die Rolle der Vertriebenen in den großen demokratischen (Volks-)Parteien. Im Rahmen eines komprimierten Vortrags kann das natürlich nur ein Blick aus der bundespolitischen Adlerperspektive sein, vor allem auf die großen Landsmannschaften und die Spitzenverbände der Vertriebenen gerichtet. Was sehen wir da in den Gründerjahren der zweiten deutschen Demokratie? Zunächst fällt sofort auf, dass wir besonders viel sehen in CDU und CSU, die ja auch die führenden Staatsgründungsparteien dieser Bundesrepublik waren.
Vertriebene in den Parteien
Wir sehen etwa bei den Schlesiern den Volkswirt Walter Rinke aus Kattowitz, nach der Vertreibung Anfang der 1950er Jahre längere Zeit erster Vorsitzender der Landsmannschaft. Rinke kam aus der katholischen Zentrumstradition und ging in seiner neuen bayerischen Heimat dann logischerweise zur CSU. Bei den Sudetendeutschen galt Ähnliches etwa für einen Hans Schütz, im Bundestag für das Allgäu ab 1949.Bei den Ostpreußen ist natürlich Ottomar Schreiber zu nennen, der erste Sprecher der Landsmannschaft. „Unter den Mauern der Marienburg geboren“ war Schreiber später ins Memelland gegangen und hatte dort der Volkspartei angehört. Die stand politisch-programmatisch der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) Gustav Stresemanns im Reich nahe. Schreiber wird nach dem Krieg, 1950, Staatssekretär im CDU-geführten Bundesvertriebenenministerium.
Wichtig auch der Deutsch-Balte Georg Baron von Manteuffel-Szoege, 1950 bis 1953 Präsident des Hauptamtes für Soforthilfe (Lastenausgleich), dann für die CSU im Bundestag. Ab 1954 stand Manteuffel auch dem Verband der Landsmannschaften vor. In dieser Funktion war der Protestant der große Gegenspieler eines CDU-Kollegen in der gemeinsamen Bundestagsfraktion, des knorrigen – katholischen – Ostpreußen Linus Kather. Der Ermländer, CDU-Bundestagsabgeordneter ab 1949, führte seit dieser Zeit auch den Zentralverband der vertriebenen Deutschen.
Kather und Manteuffel hatten nicht nur ein anderes Gesangbuch, sie waren sich auch sonst oft spinnefeind. Trotzdem haben die beiden, zusammen mit anderen CDU/CSU-Politikern der ersten Stunde von Rinke bis Schütz, ein gemeinsames großes Verdienst: Sie haben durch ihr Engagement in den Regierungsparteien als Repräsentanten der organisierten Vertriebenen ein Zeichen gesetzt, ein Zeichen in die Reihen ihrer vielen Millionen Mitglieder hinein: Diese zweite deutsche Demokratie ist auch unsere Republik, und es lohnt sich, in ihr an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Ganz so wie es das Grundgesetz nach den Erfahrungen der sprichwörtlichen Weimarer „Parteienprüderie“ als Aufgabe der Parteien ausdrücklich beschrieben hatte.
Engagement in CDU/CSU
Es lohnt sich – obwohl beim wichtigsten sozialpolitischen Projekt der jungen Bundesrepublik, beim Lastenausgleich, längst nicht alle Wünsche der Heimatvertriebenen in Erfüllung gingen. Es lohnt sich, weil Kather dem Bundeskanzler immerhin in zwölfter Stunde bei den Entscheidungen des Bundestages zum Ausgleichsgesetz im Mai 1952 noch einen zusätzlichen Milliardenbetrag hatte abringen können.
Das war umso höher einzuschätzen, als es sich bei den Vertriebenen eben nun einmal nur um eine Minderheit der Bevölkerung handelte. Eine Minderheit, 20 Prozent höchstens, die sich definitiv auch nicht mehr wesentlich vergrößern konnte, obwohl es in der Demokratie eigentlich zu den Grundprinzipien gehört, dass die Minderheiten von heute die Mehrheiten von morgen sein können – und umgekehrt.
Ein Soziologe hat die konstruktive Haltung der Vertriebenen in einem frühen Standardwerk zur Integration einmal sehr gewürdigt: als eine „sittliche Leistung sozialer Selbstbeherrschung“. Trotz aller Entwurzelung, die mit dem Schicksal der Vertreibung verbunden war, hätten Ostpreußen oder Sudetendeutsche nicht „den Desperado als Führertyp ... aufkommen“ lassen. Bei der Auswahl der politischen Führung habe es vielmehr einen „konservativen Zug“ gegeben.
Aber welche Rolle spielten die Vertriebenen damals eigentlich in der wichtigsten Oppositionspartei im Bund, in der SPD? Die frühe Sozialdemokratie verfügte durchaus über prägende ostdeutsche Gestalten, man denke nur daran, dass sogar ihr erster Nachkriegsvorsitzender, Kurt Schumacher, ein Westpreuße aus Kulm an der Weichsel war, oder an den ersten Bundestagspräsidenten Paul Löbe aus dem schlesischen Liegnitz, oder an den ebenfalls schlesischen evangelischen Pfarrer Heinrich Albertz, Flüchtlings- und Sozialminister in Niedersachsen.
Trotz Schumacher hatte die SPD-Führung allerdings im Verhältnis zu den Ostdeutschen gleich anfangs schwere Fehler gemacht. Sie hatte erstens noch zu Besatzungszeiten vor 1949 nicht dafür stimmen wollen, das Vereinigungsverbot gegen die Vertriebenen aufzuheben – was die CDU ausdrücklich und clevererweise gefordert hatte. Und danach hatte die SPD, zweitens, hin- und hergeschwankt, ob man die eigenen Genossen zum Beitritt in die entstehenden Vertriebenenorganisationen auffordern sollte oder nicht. Manche SPD-Parteibezirke hatten sogar ausdrücklich empfohlen, nicht einzutreten. Das folgende Nein der SPD zu eigenen Flüchtlingsstimmkreisen bei der ersten Bundestagswahl machte die Sache nicht besser.
Fehler der SPD
Erst Mitte der 1950er Jahre sind die Karten wieder neu gemischt worden. Der Niedergang der Vertriebenenpartei BHE ließ damals ein Vakuum entstehen, das politisch gefüllt werden wollte. Dafür stehen vor allem die Namen des ostpreußischen SPD-Bundestagsabgeordneten Reinhold Rehs, Vorsitzender des Vertriebenenausschusses beim SPD-Parteivorstand, und natürlich von Wenzel Jaksch, des tapferen Böhmen und führenden Kopfs der sudetendeutsch-sozialdemokratischen Seliger-Gemeinde. Mit Jaksch und Rehs schoben sich SPD-Politiker nach vorne, die auch selbst in den Vertriebenenverbänden und ab 1958 im neuen Bund der Vertriebenen (BdV) aktiv waren und dort Funktionen übernahmen. Ausgerechnet in den schwierigen 1960er Jahren wurden Jaksch und Rehs sogar zu BdV-Präsidenten gewählt – nachdem der Gründungspräsident von der CDU gekommen war.
Dem Ringen zwischen SPD- und CDU-nahen Kräften im BdV war in den 50er Jahren eine lange Phase vorausgegangen, in welcher der Hauptgegner der Unionspolitiker noch ein ganz anderer war, nämlich der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Der war 1950 maßgeblich vom Ostpreußen Alfred Gille, bald darauf auch Sprecher der LO, und von dem Posener Waldemar Kraft aus der Taufe gehoben worden. Der BHE wurde auch deshalb gegründet, weil die gewaltigen sozialen Probleme der Vertriebenenintegration von den bestehenden Parteien nicht schnell genug gelöst worden waren, sei es die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot oder das Thema Lastenausgleich.
Der BHE hatte nur von Anfang an ein Grundgebrechen: Er kam an das kirchlich-katholische Drittel der Heimatvertriebenen nur schwer heran. Dort hatten sich die meisten bereits in der CDU oder der CSU engagiert, nachdem eigene Vertriebenenparteien bis 1949 ja verboten gewesen waren. Der BHE entwickelte sich deshalb notgedrungen in den meisten Regionen zu einer sehr stark protestantischen Partei. Und nicht zuletzt wegen seines katholischen Defizits ging der BHE außerdem bald dazu über, einheimisch-westdeutsches Wählerklientel anzusprechen: die qua Entnazifizierung „Entrechteten“, wie es hieß, und die von Fliegerbomben im Krieg Geschädigten. Dieser Kurs führte aber unweigerlich dazu, dass das Profil des BHE allzu früh ausfranste, weil er Vertriebeneninteressen teilweise nicht mehr eindeutig genug vertreten konnte.
In der Zeit vorher, nach dem Einzug des BHE in den Bundestag 1953, hatten lange erst einmal fast alle Landesvorsitzenden von Kathers „Zentralverband“, aber auch die Sprecher der „Oder-Neiße-Landsmannschaften“ (Ostpreußen, Pommern, Schlesien) dem BHE angehört. Das war in einer Phase, als das konkrete Agieren dieses BHE innerhalb des politisch-parlamentarischen Systems für die Stabilität der bundesdeutschen Demokratie besonders wichtig wurde. Gerade in den Bundesländern, die sehr viele Vertriebene aufgenommen hatten, konnte der BHE in den ganzen 50er Jahren, und teilweise noch darüber hinaus, das Zünglein an der Waage spielen.
Eines der prominentesten BHE-Mitglieder war der besagte Waldemar Kraft, 1950 bis 1953 Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein, dann Bundesminister für besondere Aufgaben, etwa Wasserversorgung und -energie – deshalb übrigens gerne als „Wasserkraft-Minister“ verspottet. Ebendieser Kraft spielte bei der Kompromissfindung zwischen Bundesrat und Bundestag zum Lastenausgleichsgesetz im Sommer 1952 eine konstruktive Rolle. Trotz vieler Vorbehalte gegenüber dem letztlich halbherzigen Projekt hat Kraft sich ihm nicht frontal in den Weg gestellt. Sein realpolitisches Kalkül war es, dass bei den „gegenwärtigen Machtverhältnissen im Bundestag“ ein besseres Gesetz derzeit einfach keine Chance haben würde. Es war ein Akt demokratischer Reife.
Statt sich zu verweigern, wenn die eigenen Ziele nicht hundertprozentig durchsetzbar waren, ging der BHE auch in den Ländern Kompromisse und Koalitionen ein – sowohl mit CDU und CSU wie mit der SPD. Das war für die Bildung parlamentarischer Mehrheiten oft außerordentlich hilfreich. Und es prägte die politische Kultur mehrerer Bundesländer auf lange Zeit. In Hessen verhalf der BHE 1954 bis 1966 der SPD zur Regierungsmehrheit, in Bayern zunächst zwar auch der SPD in einer sogenannten Viererkoalition, dann aber von 1957 bis 1962 der CSU. Und als die Vertriebenenpartei in den 60er Jahren allmählich zerfiel, da dockten ihre politischen Repräsentanten in Bayern meist auch gleich bei der CSU an – man denke nur an den späteren Sudetensprecher Walter Becher. In Hessen gingen viele zur dort bereits vorherrschenden SPD, etwa der zeitweilige BHE-Vorsitzende Frank Seiboth, der ab 1967 dann für etliche Jahre Agrarstaatssekretär in Wiesbaden war.
Integration von Ex-Parteigenossen
Der BHE war aber nicht nur wegen seines Koalitionsverhaltens wichtig für die Stabilität der bundesdeutschen Demokratie, er war es auch noch aus einem anderen Grund. Der ist allerdings sehr viel ambivalenter. Ich meine den BHE in seiner Funktion als Resozialisierungsagentur ehemaliger Parteigenossen der NSDAP. Wer vom BHE redet, kann über die nationalsozialistischen Biographieanteile vieler führender BHE-Politiker, die oft gleichzeitig in Vertriebenenverbänden Ämter und Würden hatten, in der Tat nicht schweigen. Der erwähnte Seiboth etwa, lange Jahre auch Landesobmann bei den Sudetendeutschen, war im „Dritten Reich“ einige Jahre Gauschulungsleiter im Sudetengebiet gewesen. Und Kraft hatte von 1940 an mehrere Jahre lang als Geschäftsführer der „Reichsgesellschaft für Landbewirtschaftung in den eingegliederten Ostgebieten mbH“ („Reichsland“) in Berlin gewirkt, zuständig auch für die Enteignung polnischen Grundbesitzes.
Der BHE war sogar seinem eigenen Selbstverständnis nach eine Partei, wie es hieß, „auch der ehemaligen Nazis“ – der „ehemaligen“ nota bene. Gleichzeitig lehnte es der BHE aber ausdrücklich ab, eine Partei derjenigen zu sein, „die heute noch Nazis sind“. Dennoch: Aus der Rückschau wirkt es sicherlich verstörend, wenn Personen ein politisches Mandat in der Bundesrepublik begleiteten, die vordem ziemlich exponierte NS-Akteure gewesen waren. Andererseits kann man sich fragen, was es für den demokratischen Neuaufbau bedeutet hätte, wenn man das Millionenheer der Mitläufer und der zumindest nicht schwerer, durch Beteiligung an Gewaltverbrechen Belasteten komplett ausgegrenzt hätte. In welche definitiv rechtsradikalen Parteien wären die Ausgegrenzten sonst wohl massenweise abgewandert? Oder hätte man etwa Millionen Menschen womöglich über Jahrzehnte das Wahlrecht vorenthalten sollen?
Die Frage war letztlich immer nur, bei welchem Grad an individueller Belastung genau eine Grenze gezogen werden musste. Da hat es angesichts der Vielzahl der Fälle leider auch schwere Fehler gegeben. Aber die Grenzziehung war eben in vielen, vielen Einzelfällen auch außerordentlich mühsam. Biographien in einer Diktatur lassen sich oft nicht leicht auf einen Nenner bringen. Und es war ein Segen für die junge deutsche Demokratie, dass der glasklare Nazi-Gegner und erste Bundeskanzler Konrad Adenauer das noch wusste.
Schädlicher Verbandsdualismus
Adenauer hat allerdings auch einmal beklagt, dass es bei den Vertriebenen bis 1958/59, als endlich der BdV gegründet wurde, nicht die eine Telefonnummer gab, mit der man alles regeln konnte. Vielleicht zu Recht. Denn im Grunde haben sich die Ostvertriebenen mit ihrem zehnjährigen Verbandsdualismus in den Gründerjahren der Republik am meisten selbst geschadet. Gerade in den Jahren entscheidender Novellierungen des Lastenausgleichs zwischen 1952 und 1957 waren wegen des Richtungsstreits zwischen ZvD und VdL die politischen Voraussetzungen nicht so beschaffen, dass die Vertriebenen hinreichend großen Druck im Kessel der Demokratie hätten erzeugen können.
Sozialpolitisch gesehen kann man also sagen, dass die Vertriebenen vielleicht eher unbeabsichtigt zur Stabilität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen beziehungsweise den Staatshaushalt nicht stärker beansprucht haben. In der Außen- und Europapolitik sehe ich dagegen einen sehr bewussten und aktiven Beitrag. Erwähnt sei nur, wie die Vertriebenenverbände trotz mancher Bedenken letztlich Adenauers Kurs der Westbindung, der EWG- und der NATO-Politik, mitgetragen haben, Mitte der 50er Jahre, als das weiter links bei Gewerkschaften oder der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) noch keineswegs so selbstverständlich war. Hilfreich waren dabei die ebenso tiefsitzenden wie vernünftigen antikommunistischen Grundüberzeugungen der Vertriebenen nach den Erfahrungen mit der Roten Armee 1945/46. Hilfreich war auch die Idee des christlich-europäischen Abendlandes, von besonders schlauen „Intellektuellen“ heute gerne mal verspottet. Hilfreich war vor allem aber auch die politische Vaterfigur des charismatischen Adenauer, der infolge eines Autounfalls im Jahre 1917 in etwa so aussah, wie man sich einen alten Indianerhäuptling vorstellte.
Die Vertriebenen hatten außerdem bereits sehr früh, 1950, in der Stuttgarter Charta ihr vielleicht wichtigstes politisches Bekenntnis überhaupt abgelegt. Sie versprachen nicht mehr und nicht weniger, als selbst bei der Durchsetzung ihres wichtigsten politischen Ziels, der Rückkehr in die Heimat, nie und nimmer Gewalt anwenden zu wollen: ein urdemokratisches Bekenntnis zum friedlichen Konfliktaustrag! Und eben alles andere als selbstverständlich, wenn man weiß, wie bis dahin noch nach jedem Krieg der Verlierer auf Rache und Vergeltung gesetzt hatte. Bereits in den frühen 1960er Jahren kamen außerdem ähnlich zukunftweisende Erklärungen hinzu, etwa die der Ostdeutschen Landesvertretungen vom 22. März 1964. Hier wurde den polnischen Neusiedlern in den Oder-Neiße-Gebieten – bereits 1964 – die „Freiheit“ zugesichert, „im Lande zu bleiben“, auch für den Fall der Rückkehr von Ostdeutschen in die alte Heimat. Das heißt: auf keinen Fall neue Vertreibungen. Und war nicht genau das der entscheidende Punkt?
Charta der Heimatvertriebenen
Ich habe auch deshalb nie so ganz die Aufregung verstanden, die manchmal bis heute in Debatten um die Geschichte der Ostverträge Anfang der 1970er Jahre zu spüren ist. Das Prinzip des Gewaltverzichts, in den Verträgen von Moskau, Warschau und Prag schließlich bekräftigt, stand doch auch für die Vertriebenenverbände längst völlig außer Zweifel. Etwas anderes war allerdings die Frage der förmlichen Anerkennung der Grenzen, der 1945 gewaltsam veränderten Grenzen. Wie konnte eine Wiederherstellung des alten Rechtszustandes mit friedlichen Mitteln erfolgen, selbst langfristig und nach dem erhofften Fall des Kommunismus? Hätte es dazu nicht mindestens der massiven Unterstützung seitens der westlichen Verbündeten bedurft? Die gab es aber nicht, weil man von Washington bis Paris in der Oder-Neiße-Grenze weithin den Preis sah, den Deutschland für Adolf Hitlers Krieg zu zahlen habe.
Wie immer man die Ostverträge heute auch einordnen mag, es war bestimmt nicht „undemokratisch“, sie in der allzu hastig ausgehandelten Form abzulehnen, in der sie 1972 auf dem Tisch lagen. Schon wegen der unzureichenden Gegenleistungen für die in der Heimat Verbliebenen. Hätte die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes bei den Ostverträgen etwa aufhören, Opposition illegitim sein sollen? Nein, spätestens die Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben doch auch noch einmal dem letzten Kritiker demonstriert, auf welch festem völkerrechtlichen Boden BdV und Landsmannschaften mindestens mit einem Teil ihrer Kritik standen. Dazu kommt noch ein – wenn man so will – emotionaler Gesichtspunkt. Vielleicht hat ihn niemand so gut auf den Punkt gebracht – und das mag manchen überraschen – wie die ostpreußische „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff im September 1964: Man könne sich mit dem Verlust abfinden, ein Leben lang trauern, ohne auch nur einen Stein aufzuheben „gegen den, der die Heimat raubte“, so die Gräfin. Abfinden also ja, aber: Man dürfe den Vertriebenen dann nicht auch noch zumuten, diesen Verzicht auszusprechen. „Das wäre so“, ich zitiere Dönhoff, „als verlangte man von ihnen, ihre Toten zu verraten.“
So gesehen blieb der Protest der Vertriebenen gegen die neue Ostpolitik mit ein paar mittelgroßen Demonstrationen auf dem Bonner Marktplatz und einem kämpferischen Franz Josef Strauß als Redner doch mehr als gemäßigt. Bereits in den sozialpolitischen Konflikten der 1950er Jahre waren ihre Verbände nicht den Sirenenklängen des von Ost-Berlin aus gesteuerten Westdeutschen Flüchtlingskongresses gefolgt. Jetzt, in den nationalpolitischen Debatten der 70er Jahre, blieben sie weiterhin fest im demokratischen Parteienspektrum verankert. Gewiss, in zunehmender Distanz zur SPD, aber dafür in immer größerer Nähe zu den Unionsparteien. Zur NPD verirrte sich eigentlich vor allem nur ein einstmals sehr Prominenter: der in die Jahre gekommene Kather. Der hoffte 1969 vergeblich, auf diesem Wege vielleicht noch einmal Alterspräsident des Deutschen Bundestages werden zu können.
Beiträge zur Völkerverständigung
Mit den Ostverträgen hatte nicht nur die Bonner Demokratie ihren bis dahin schwersten Härtetest bestanden, sondern auch die Vertriebenenverbände. Und die Landsmannschaft Ostpreußen hatte daran in den Jahren von Rehs bis Ottfried Hennig einen maßgeblichen Anteil. Auch in der neuen Bundesrepublik, nach der Vereinigung mit den Ländern im historischen Mitteldeutschland 1990, sollte sich daran nichts ändern. Gewiss, manche hatten Mühe, sich mit den Zwei-plus-Vier-Verträgen und dem deutsch-polnischen Grenzvertrag 1990 abzufinden. Aber auch unter denen haben doch viele Tausende Jahr für Jahr die Chancen genutzt, die uns der Sieg über den Kommunismus in Europa geschenkt hat.
In Strömen sind sie über Oder, Neiße und Böhmerwald gereist und haben in tagtäglichen zwischenmenschlichen Kontakten mehr für die Völkerverständigung getan als manch einer, der in westdeutschen Sonntagsreden fast nur über besondere Nazi-Schuld im Osten geredet, aber seinen Urlaub weiterhin am liebsten in der Toskana verbracht hat. Um es klar zu sagen: Es ist auch ein Verdienst dieser ausdauernden verständigungspolitischen Arbeit an den Graswurzeln, wenn heute die demokratische politische Vernunft in den westlichen Teilen Polens, in den früheren Vertreibungsgebieten, signifikant höher ist als in östlicheren Regionen. Es ist ein Verdienst der vielen Heimatkreise und Landesgruppen der Landsmannschaften oder von Häusern wie dem Ostpreußischen Kulturzentrum in Ellingen mit ihren vielfältigsten partnerschaftlichen Aktivitäten bis hin zur Unterstützung von Kinder- und Altenheimen in der Wurzelheimat.
Aber noch aus einem weiteren, für mich zentralen Grund waren und sind die Landsmannschaften für die Stabilität der deutschen Demokratie so wichtig: Demokratie ist ja mit die anspruchsvollste Regierungsform, die man sich überhaupt vorstellen kann. Mehr als alle anderen hängt sie davon ab, dass die Bürger sich positiv mit ihr identifizieren und dass es in ihren Staatsnationen auch eine verbindende kulturelle Identität gibt.
Dazu gehört in der Bundesrepublik von Anfang an, dass wir uns als bewussten Gegenentwurf zur gottlosen Nazi-Diktatur verstanden haben – inklusive einer entsprechenden Erinnerungskultur. Dazu gehört allerdings genauso, was Golo Mann schon vor Langem in seiner „Deutschen Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts“ unterstrichen hat. Ich zitiere ihn: Die deutsche Nation wird gerade nach der durchlebten Kette von Katastrophen „ohne ein gesundes Maß von Heimatliebe und Nationalbewusstsein auf die Dauer nicht auskommen“.
Wahrer der kulturellen Identität
Ihr dieses Maß wiederzugeben, hat schon immer zu den wichtigsten Zielen der Vertriebenenverbände gehört. Nicht zuletzt indem sie immer wieder daran erinnern, wie viel in sieben, acht Jahrhunderten deutscher Geschichte im östlichen Europa vor 1933 wirtschaftlich und kulturell auch positiv geleistet worden ist. Für diese Geschichte müssen wir uns wahrlich nicht schämen. Auch sie ist Teil der historischen Identität unserer deutschen Demokratie. Und übrigens gehört das Thema natürlich dann auch zu dem, was der Ampel-Koalitionsvertrag in seiner Poesie als „Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft“ bezeichnet. Nur: Kann man, wenn man das ernst meint, gleichzeitig die Fördermittel nach Paragraph 96 Bundesvertriebenengesetz noch weiter kürzen?
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel die Landsmannschaften seit nunmehr 75 Jahren zur Stabilität unserer bundesdeutschen Demokratie beitragen, dann kann man für die Zukunft eigentlich nur eines wünschen. Und diesen Wunsch möchte ich abschließend gerne an die Landsmannschaft Ostpreußen richten: Bleiben Sie – auch in der zweiten und dritten Bekenntnisgeneration – so wie sie sind, lassen Sie sich das Denken auch weiterhin nicht von „woken“ Pseudo-Eliten abnehmen, die uns mit Hilfe bestimmter Medien vorschreiben wollen, wie wir zu schreiben und zu reden, was wir zu denken oder wie wir der Vertreibung zu gedenken haben. Bleiben Sie stattdessen bitte beides: Säule der deutschen Demokratie und Lordsiegelbewahrer der kulturellen Identität unseres Landes.
Prof. Dr. Manfred Kittel ist Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Der Text ist die leicht bearbeitete Rede zum Gedenkakt anlässlich des 75. Jahrestags der Landsmannschaft Ostpreußen.