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Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant in Königsberg geboren. In Zeiten neuer Kriege in Europa und in der Welt sind die Gedanken des Philosophen zu Frieden und Weltbürgertum heute aktueller denn je
Das Licht, das erlosch. So lautet ein Nachruf, mit dem der Niedergang der universalistischen Aufklärungsideale festgestellt worden ist, die sich seit dem 18. Jahrhundert durch das Bild des Hellwerdens und Aufklarens nach Zeiten der Finsternis charakterisieren ließen.
Zwar stieß die Philosophie und Politik der Aufklärung schon von Anfang an auf die Gegenwehr von Mächten, die der religiösen, geistigen, wirtschaftlichen und politischen Autonomie des Menschen keinen Wert zugestanden. Gegenwärtig sind es in globalem Ausmaß vor allem totalitäre Staatsgebilde und religiöser Fundamentalismus, die als Kräfte der Gegenaufklärung wirksam sind. Ließ vor noch nicht allzu langer Zeit der Zusammenbruch der UdSSR die Idee aufkommen, dass wir uns weltgeschichtlich am „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) befänden, weil sich die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft endgültig und weltweit durchzusetzen begannen, so hat die russische Machtpolitik Wladimir Putins mit ihrem kriegerischen Expansionsstreben das Gegenteil demonstriert. Die Hoffnungen, die mit der Öffnung Chinas gegenüber dem Westen und mit den freiheitsliebenden Rebellionen während des „Arabischen Frühlings“ verbunden waren, sind zerstört worden. Verschiedene Machtsysteme und geschlossene Gesellschaften sind totalitärer als zuvor.
Auch in Europa, in dem die Ideen der Aufklärung ihre Wurzeln haben, sind regressive Tendenzen wirksam. Immer lauter und mächtiger drohen Stimmen zu werden, die sich gegen politische Liberalität und religiöse Toleranz, geistige Offenheit und kulturelle Vielfalt, gegenseitigen Respekt und weltbürgerliche Mentalität richten. Enttäuschung ist zu einer weit verbreiteten Stimmung geworden. Kriegsängste machen sich breit. Viele junge Menschen fühlen sich nicht nur als verlorene, sondern als „letzte Generation“.
Zentralfigur der Aufklärung
Vor 300 Jahren, am 22. April 1724, wurde in Königsberg der Philosoph Immanuel Kant geboren, die Zentralfigur der Spätaufklärung in Preußen. Anlässlich dieses Jubiläums soll jetzt nicht daran erinnert werden, wie er als Erkenntnistheoretiker die Schlüsselfrage der theoretischen Vernunft „Was kann ich wissen?“ beantwortet hat, und auch nicht an seine praktische Moralphilosophie, die sich auf die Frage „Was soll ich tun?“ konzentrierte. Die weltpolitische Krisensituation lässt Kants dritte Frage virulent werden: „Was darf ich hoffen?“ Kant hatte sie zum einen religionsphilosophisch zu beantworten versucht. Was darf ich, im Hinblick auf die Existenz Gottes und eine unsterbliche Seele, hoffen, wenn ich ein gutes Leben in moralischer Hinsicht führe. Sie spielte zum anderen eine zentrale Rolle in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen. Welche Hoffnung kann der Mensch haben, wenn er nicht mehr durch die Vormundschaft der Natur instinktgesteuert ist, sich aber auch nicht mehr durch die vorgegebenen Machtstrukturen despotischer Staaten oder dogmatischer Glaubensformen gängeln lassen will, sondern einen befreienden Ausgang aus seinen erzwungenen Unmündigkeiten sucht?
Eine erste Antwort auf diese Frage, die uns heute gleichermaßen bedrängt wie zu seinen Zeiten, gab Kant 1784 mit seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. Dabei verfolgte er eine doppelseitige Argumentationslinie, die für sein ganzes Denken charakteristisch war. Er verknüpfte die empirische Feststellung von geschichtlichen Erfahrungstatsachen mit Überlegungen, die den welthistorischen Prozess nicht als ein grausames Possenspiel ohne jeden Sinn und Verstand erscheinen lassen, sondern ihn als eine Fortschrittsgeschichte mit vielen Hindernissen begreifen wollen. Im Sinne seiner Logik der Erkenntnis lässt sich sagen: Empirische Geschichtsschreibung ohne philosophische Leitlinie ist blind; philosophische Geschichtskonstruktion ohne historischen Inhalt ist leer.
Kant war Realist. Er besaß einen klaren Blick für gesellschaftliche und geschichtliche Tatsachen. Hinsichtlich dessen, was einzelne Menschen, politische Organisationen oder staatliche Gewalten tun, machte er sich keine Illusionen. Es ist ein verworrenes Spiel menschlicher Dinge, die sich dem aufmerksamen Betrachter der Weltgeschichte zeigen und Kant feststellen ließen: „Aus so krummem Holze, als woraus die Menschen gemacht sind, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Sie bieten kein besonders liebenswürdiges Bild. Oft handeln sie gegeneinander, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Auch zwischen einzelnen Bündnissen, Stämmen, Religionsgemeinschaften oder Staaten, in denen Menschen sich vergesellschaftet haben, geht es oft um Machtpolitik. Seit Anfang der Menschheitsgeschichte gibt es Eroberungen und Unterdrückungen, Ausbeutungen und Kriege. Wie oft sind Fortschritte in der Kultur durch barbarische Verwüstungen wieder zunichte gemacht worden; und wie oft haben Kriege zerstört, was zivilisatorisch mühsam aufgebaut worden war! Die Menschheit scheint die hoffnungslose Anstrengung auf sich genommen zu haben, den Stein des Sisyphos bergauf zu wälzen, um ihn immer wieder zurückrollen zu lassen.
Ideen zu Recht und Geschichte
Doch Kant wollte sich als engagierter Aufklärer nicht auf eine bloß empirische Anschauung der Menschheitsgeschichte beschränken. Als philosophischer Kopf konzipierte er eine Geschichtsidee in weltbürgerlicher Absicht, wobei er die Erfahrungstatsachen zwar nicht verdrängte, aber anders begreifen ließ. Gegen das, was tatsächlich geschah, entwickelte er die Idee eines weltumfassenden Rechtssystems, das hoffen ließ, dass sich die politische Geschichte trotz aller Stürze zum Guten wenden ließ. Gerade die traurige Erfahrung all der mörderischen Kriege und allseitigen Gewalttätigkeiten, die so viel Not und Leid für die Menschen gebracht haben, brachte Kant auf die Idee, „aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten“, der schließlich auch den kleinsten Staaten Sicherheit und Rechte zu bieten vermag.
War Kant ein schwärmerischer Träumer, der seine Ideen für die Wirklichkeit hielt? Er selbst verstand sich jedenfalls nicht als Utopist oder weissagender Prophet, sondern als ein Philosoph der Aufklärung. Ihm kam es darauf an, zukunftsorientiert in den historischen Erfahrungen etwas von dem zu entdecken, was den Gang der Geschichte als einen mühsamen langen Weg zu einem allgemeinen kosmopolitischen Zustand begreifen lasse. Und dafür gebe es schon einige Anzeichen. Bürgerliche Freiheiten, öffentlicher Verstandesgebrauch, gesetzliche Zustände, zwischenstaatliche Annäherungen, wachsende Kooperationsgefüge, Welthandel und die zunehmende Freiheit des religiösen Glaubens lassen hoffen, was vernünftigerweise erwartet und herbeigeführt werden kann. „Und so entspringt allmählich, mit unterlaufendem Wahne und Grillen, Aufklärung, als ein großes Gut.“
Notwendige Dialektik der Aufklärung
Rückschläge sind nicht zu vermeiden. Das grausame Spiel auf der großen Weltbühne ist noch nicht zu Ende. Doch trotz aller Hindernisse, Gegenbewegungen und Abstürze wird als ein großes Gut die Idee der Aufklärung lebendig bleiben, die „eine tröstende Aussicht in die Zukunft“ eröffnet, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustand emporarbeitet, der ihrer Bestimmung entspricht, selbstverantwortliche freie Bürger auf dieser einen gemeinsamen Welt sein zu können.
Dazu aber ist, wie Kant 1784 angedeutet hat, eine Dialektik der Aufklärung notwendig und wünschenswert, die philosophische Idee und praktisches Handeln miteinander verbindet. Denn der erhoffte Fortschritt der allgemeinen Menschheitsgeschichte sei nur möglich, wenn der Mensch der Aufklärung daran selbst engagiert teilnehme. So kann er dazu beitragen, das zu verwirklichen, was er in weltbürgerlicher Absicht am Leitfaden der Vernunft erkannt hat. Er kann sich selbst als Teil einer vernünftigen Entwicklung verstehen, die erst durch ihn ihre eigene Sprache und ihr anzustrebendes Ziel findet.
Während der alte Kant verstärkt über die Grundsätze republikanischer und kosmopolitischer Verfassungen nachdachte, befand sich Europa im Krieg, den Kant als „Quelle aller Übel und Verderbnis der Sitten“ verabscheute. 1792 begann der Erste Koalitionskrieg der alten feudalen Mächte gegen das revolutionäre Frankreich, in den bald fast alle europäischen Staaten verstrickt waren. Länger als zwanzig Jahre sollten diese Kriege dauern, allerdings nicht für Preußen, das am 5. April 1795 in Basel einen Sonderfrieden mit Frankreich schloss, der bis 1806 hielt. Unter dem Eindruck dieses Friedens schrieb Kant seinen Beitrag „Zum ewigen Frieden“, der gegen Ende des Jahres 1795 erschien und ein durchschlagender publizistischer Erfolg war. Er führte die geschichtsphilosophischen Gedanken weiter aus, die Kant 1784 in weltbürgerlicher Absicht entwickelt hatte, und gab ihnen eine rechtsphilosophische Wendung. In jedem Satz ist die geistige und politische Energie zu spüren, mit der er alle Formen der Despotie angriff und gegen sie eine republikanische Regierungsform stellte, die in Frankreich unter revolutionären Geburtswehen zu verwirklichen versucht wurde.
Gedanken zum ewigen Frieden
Jetzt verhandelte Kant vor dem Gerichtshof der Vernunft den großen menschheitsgeschichtlichen Fall: Unter welchen Bedingungen kann die Aufgabe gelöst werden, zwischen Staaten und Völkern einen Frieden zu schaffen, der nicht nur ein vorübergehender Waffenstillstand ist, sondern auf Dauer Schluss macht mit diesem ewigen Töten und Getötetwerden, zu dem die Menschen von ihren mächtigen Vormündern wie Maschinen abgerichtet und eingesetzt werden? Wie kann es gelingen, endlich zu einem vernünftigen Friedenszustand fortzuschreiten, der allen Menschen weltweit Freiheit und Sicherheit gewährt? Er muss „gestiftet“ werden, was nur auf gesetzliche Weise geschehen kann. Und so entwarf Kant in der Form eines Friedensvertrages mit vorläufigen Präliminar- und endgültigen Definitivartikeln sein dreistufiges Modell einer staatsbürgerlichen Ordnung, die republikanisch verfasst ist; eines föderativ strukturierten Völkerbundes souveräner Staaten, die sich nach einen gemeinschaftlich vereinbarten Völkerrecht richten; und einer weltbürgerlichen Lebensform, in der gegenseitige Gastfreundschaft herrscht und alle Menschen gemeinschaftlich so verbunden sind, „dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“.
Wie in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte ließ sich Kant auch in seiner Friedensschrift durch geschichtliche und politische Erfahrungen anregen, die enttäuschend oder desillusionierend waren. Aber er blieb dabei nicht stehen. Er konzipierte „Zum ewigen Frieden“ als einen „philosophischen Entwurf“, der zwar an den realen Verhältnissen anknüpfte, um dann jedoch über die grundlegenden Bedingungen aufzuklären, die einen dauerhaften Frieden in menschheitsgeschichtlicher Hinsicht überhaupt ermöglichen. Das war der Trost der Philosophie, den er bieten wollte, um auch in schwierigen, verworrenen oder katastrophalen Zeiten nicht zu verzweifeln und völlig die Orientierung zu verlieren.
Prof. Dr. Manfred Geier war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hannover. Er ist Verfasser zahlreicher Werke zur Geschichte der Philosophie und der Aufklärung, darunter „Kants Welt. Eine Biographie“ (2003), „Die Brüder Humboldt. Eine Biographie“ (2009) und „Aufklärung. Das europäische Projekt“ (2012, alle bei Rowohlt). Zuletzt erschien „Philosophie der Rassen. Der Fall Immanuel Kant“ (Matthes & Seitz, Berlin 2022). www.matthes-seitz-berlin.de
• Hinweis: Lesen Sie auch die Beiträge zum Kant-Jubiläum in der PAZ-Beilage „Weltbürger aus Königsberg“ aus PAZ 4/2024.