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„… eine verlässliche bürgerliche Politik“

Warum es sich für deutsche Akteure lohnt, die ungarische Regierung nicht einfach nur pauschal zu verdammen, sondern genauer auf die Ursachen des Erfolgs des Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner Partei „Fidesz“ zu schauen

Im Gespräch mit Bence Bauer
17.03.2024

Sind Ungarn und sein Regierungschef tatsächlich jene streitlustigen Störenfriede, als die sie in europäischen Debatten fast immer dargestellt werden? Dieser Frage geht ein intimer Kenner sowohl der deutschen als auch der ungarischen Verhältnisse in seinem neuen Buch nach. Ein Gespräch über ein Land, das stets mit großer Anteilnahme und Verbundenheit auf Deutschland blickt – von dort jedoch allzu oft nur Ablehnung erfährt und schroffe Belehrungen zu hören bekommt.

Herr Dr. Bauer, der Titel Ihres Buches lautet: „Ungarn ist anders“. Das wirft die Frage auf: Anders als was ober wer?
Der Titel des Buches weist darauf hin, dass in Ungarn viele Entwicklungen und Debatten anders gelagert sind als in Deutschland. Auch als Land ist Ungarn anders, als ein Großteil der deutschsprachigen Medien es beschreibt. Deshalb versuche ich, in zwei Dutzend Aufsätzen zu Themen wie Nation und Geschichte, politische Positionen oder zum Verhältnis zu den Nachbarn und zur Europäischen Union ein realistischeres Bild von unserem Land zu vermitteln.

Ein zentrales Thema sind die deutsch-ungarischen Beziehungen. Unsere Nationen verbindet eine lange Geschichte. Ungarn ist im weitesten Sinne auch Teil des deutschen Sprach-, Kultur- und Zivilisationsraumes, sodass es den Ungarn nie egal ist, was in Deutschland passiert. Und den Deutschen kann es umgekehrt auch nicht egal sein, was in Ungarn geschieht.

Ihr „kann“ klingt jedoch eher wie eine Beschwörung als eine Beschreibung. Haben die Deutschen in Bezug auf Ungarn ein Wahrnehmungsdefizit?
Durchaus. Wobei ich nicht glaube, dass Ungarn den Deutschen egal ist. Ich denke aber, dass die Deutschen noch immer zu wenig wissen – nicht nur von Ungarn, sondern auch von anderen Ländern, die früher aus westlicher Sicht „hinter dem Eisernen Vorgang“ lagen.

In den alltäglichen Debatten erleben wir, dass dieser Zustand nicht trivial ist. Im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union war die Erwartung im Grunde immer, dass sich die Neumitglieder den alten anpassen. Man wollte im Westen vielerorts nicht wahrhaben, dass einige EU-Mitgliedsstaaten zwar gern Teil der europäischen Familie sind, dies aber keineswegs bedeutet, dass sie ihre nationalen Eigenheiten aufgeben wollen.

Wo Ungarn deutlich anders ist als Deutschland, ist die politische Landschaft. Während hierzulande das bürgerliche Lager zersplittert ist, gibt es in Ungarn den starken Bürgerbund „Fidesz“ um Viktor Orbán, der gerade zum fünften Mal regiert und bei der letzten Wahl zusammen mit dem christdemokratischen Partner KDNP sogar eine Zweidrittelmehrheit erzielt hat. Was ist das Geheimnis von „Fidesz“ und Orbán?
Eine wichtige Grundlage des Erfolges ist, dass Orbán und „Fidesz“ keine unnötigen gesellschaftlichen Konfliktlinien eröffnen, sondern eine verlässliche bürgerliche Politik verfolgen, die von großen Teilen der Wähler goutiert wird – und zwar auch von nicht-konservativen. Dies gilt unter anderem für Themen wie Migration, Familie, innere Sicherheit und Wirtschaft.

Bei diesen Themen wirkt die ungarische Regierung übrigens wie ein Gegenpol zur deutschen „Ampel“. Das ist keine Kritik oder eine Lobpreisung in die eine oder andere Richtung, sondern eine Feststellung der Tatsachen. Doch während die Bundesregierung schlechte Zustimmungswerte hat, weil sie auf vielen Feldern eine andere Politik verfolgt als die Mehrheit der Deutschen, fährt Orbán regelmäßig hohe Wahlsiege ein, weil er sich daran orientiert, was seine Landsleute wollen.

Noch ein Blick auf das bürgerliche Lager. In Ungarn gibt es keine Repräsentationslücke. „Fidesz“ deckt ein breites Mitte-Rechts-Spektrum ab, das sich in Deutschland mittlerweile auf verschiedene Parteien verteilt. Das war früher, als die Union alle demokratischen Kräfte rechts der Mitte vereinte, bekanntermaßen anders.

Ungarns Politik wird in Deutschland jedoch zumeist nicht als „bürgerlich“ beschrieben, sondern in die Nähe autokratischer Regime gerückt.
Vieles von dem, was große Teile der überwiegend linksliberalen Medien in Deutschland über Ungarn sagen, trifft einfach nicht zu. Oft stimmt sogar das Gegenteil von dem, was in Deutschland behauptet wird. Ein Beispiel ist der Vorwurf, Orbán würde unser Land aus der EU steuern wollen. Dabei hat er immer wieder klar geäußert, dass er die Union keineswegs verlassen, sondern reformieren will.

Letztlich kommen jene, die Orbán kritisieren, nicht daran vorbei, dass die Ungarn ihn in freien Wahlen immer wieder im Amt bestätigen. Und wer die Debatten in Ungarn verfolgt, kann nicht behaupten, dass die hiesige Opposition und die ihr nahestehenden Medien mundtot wären. Ganz im Gegenteil gibt es zum Teil sehr scharfe Auseinandersetzungen, aus denen jedoch Orbán und seine Partei zumeist als Sieger hervorgehen.

Eine wichtige Person der ungarischen Politik ist auch das Staatsoberhaupt. Staatspräsidentin Katalin Novák ist in Ihrem Buch sogar ein Kapitel gewidmet. Allerdings ist sie unlängst zurückgetreten. Weshalb?
Präsidentin Novák ist am 10. Februar wegen ihres unglücklichen Agierens in einem Begnadigungsfall, der für große öffentliche Entrüstung sorgte, zurückgetreten. Ein stellvertretender Waisenhausleiter war zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er Opfer sexuellen Missbrauchs nötigen wollte, ihre Aussage gegen den damaligen Direktor dieses Waisenheimes zurückzunehmen. Als er nach einiger Zeit im Gefängnis in den offenen Vollzug wechselte, hat er einen Begnadigungsantrag durch seine Familie stellen lassen. Diesem Begnadigungsantrag wurde von Novák entsprochen, obwohl das Justizministerium das nicht befürwortet hatte. Die Staatspräsidentin gestand ein, dass sie die Situation falsch beurteilt hatte, und trat zurück.

Konsequenzen hatte die Affäre auch für die damalige Justizministerin Judit Varga, die das Gnadengesuch nicht unterstützt hatte, jedoch der üblichen Praxis folgend die durch die Präsidentin bewilligte Begnadigung im Nachhinein gegengezeichnete. Varga hatte bereits 2023 ihr Amt als Ministerin niedergelegt, um sich auf ihre Spitzenkandidatur für die diesjährige Europawahl konzentrieren zu können. Von dieser Kandidatur trat sie im Zuge der Begnadigungsaffäre ebenso zurück wie von ihrem Mandat als Abgeordnete der Nationalversammlung.

Sein Amt niederlegen musste auch der bisherige Präsident der Synode der Reformierten Kirche in Ungarn, Bischof Zoltán Balog, der von 2012 bis 2018 als Minister zuständig für Humanressourcen war. Balog kennt den Verurteilten persönlich und hatte sich bei der Staatspräsidentin für ihn eingesetzt.

Was bedeutet es für die ungarische Politik, wenn derartige politische Schwergewichte ihre Ämter niederlegen müssen?
Für „Fidesz“ ist vor allem der Rücktritt der beiden Damen ein großer Verlust. Obwohl die Präsidentin nicht mehr als Parteipolitikerin in Erscheinung trat, war sie eine wichtige intellektuelle Stütze des bürgerlichen Lagers in Ungarn. Auch die vormalige Justizministerin war als Spitzenkandidatin für Brüssel wichtig für das Erscheinungsbild der Partei.

Beide Damen, mit Mitte 40 noch jung, sind auch intellektuell sowie von ihrer Eloquenz her beispielhaft und vorteilhaft für das Erscheinungsbild von „Fidesz“. Ihr Verlust wird sich nicht so schnell beheben lassen.

Allerdings halte ich es für möglich, dass sie nach einigem zeitlichen Abstand wieder in die Politik zurückfinden.

Ist Regierungschef Orbán durch die Affäre beschädigt?
Ich denke nicht. Auch in Ungarn gilt, dass in jeder Krise nicht nur die Ereignisse selbst zählen, sondern auch der Umgang damit. In dieser Hinsicht haben die Rücktritte von Novák und Varga gezeigt, dass die hohen moralischen Ansprüche von „Fidesz“ auch für die eigene Partei gelten. Und mit der Wahl von Tamás Sulyok, dem bisherigen Präsidenten des Verfassungsgerichts, zum neuen Staatsoberhaupt hat Orbán bewiesen, dass er mit der schnellen Nominierung einer fachlich wie persönlich angesehenen Persönlichkeit das Heft des Handelns in der Hand behalten hat. Somit hat er die Krise vielleicht sogar in einen Erfolg ummünzen können.

Zurück zu Ihrem Buch. Mit Blick auf das Staatsverständnis bezeichnen Sie die Deutschen als relativ junge Nation, während Sie Ungarn ein altes Staatsverständnis attestieren. Wie meinen Sie das?
Die ungarische Staatlichkeit geht zurück auf die Krönung des heiligen Königs István/Stephan I. im Jahre 1000. Sie ist damit wesentlich älter als die deutsche, die sich – nach langer Vielstaaterei im alten Kaiserreich und im Deutschen Bund – im Grunde erst mit der Reichsgründung von 1871 herausgebildet hat. Und wenn man sich die Verhältnisse genau ansieht, sind viele Deutsche noch immer nicht mit ihrer Nation im Reinen.

Da Ungarn in seiner Geschichte oft fremdbestimmt war, ist „Nation“ hier keinesfalls negativ besetzt, sondern ein Synonym für das Freiheitsbewusstsein unserer Landsleute. Weshalb selbst ungarische Grüne und Sozialisten für sich in Anspruch nehmen, gute Patrioten zu sein. Anders als in Deutschland ist „Nation“ in Ungarn also kein spaltender, sondern ein integrativer Begriff, um den sich alle politischen Lager vereinen.

Zum unterschiedlichen Verständnis von Nation gehört auch, dass die ungarische größer ist als die Grenzen des heutigen Staates. Mehr als zwei Millionen Magyaren leben in Regionen, die bis zum Vertrag von Trianon zum Königreich Ungarn gehörten. Deshalb wird das Engagement der ungarischen Politik für die im Ausland lebenden Landsleute stets kritisch beäugt.
Mit Ausnahme einer kleinen rechtsradikalen Partei gibt es in Ungarn keine politische Kraft, die sich auch nur gedanklich mit einer eventuellen Revision der bestehenden Grenzen beschäftigen würde.

Allerdings ist die Tatsache, dass die ungarische Nation größer ist als die Staatsgrenzen, ein Faktum. Allein im rumänischen Siebenbürgen leben über 1,2 Millionen ungarische Landsleute in historisch gewachsenen Siedlungsgemeinschaften, die auch künftig als Minderheit bestehen bleiben wollen. Unser Staat sieht es als seine Aufgabe an, diese Gemeinschaften, auch die ungarischen Kirchengemeinden, bei der Erhaltung ihrer Sprache, in der Pflege ihrer Kultur und bei der Wahrung aller sonstigen Minderheitenrechte zu unterstützen.

Wenn dieses Engagement, das in voller Übereinstimmung mit den Regularien der Europäischen Union erfolgt, in Deutschland kritisch beäugt wird, bestätigt das wieder einmal die Erfahrung, dass viele Debatten der Deutschen über Ungarn im Grunde Debatten der Deutschen über sich selbst sind.

Ungarn übernimmt zum 1. Juli die Ratspräsidentschaft in der EU. Was ist dann von der ungarischen Politik zu erwarten?
Ungarn wird in sechs Bereichen Akzente setzen, und zwar in der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der europäischen Verteidigungspolitik sowie in der Förderung des EU-Erweiterungsprozesses und damit zusammenhängend die Gestaltung der Zukunft der Kohäsionspolitik. Außerdem wird Ungarn großen Wert auf die externe Dimension der Migration und auf die Bewältigung demographischer Herausforderungen legen.

Schon bei seiner ersten Ratspräsidentschaft 2011 hat Ungarn sich zu einem starken Europa bekannt. Dass seitdem die Macht der Brüsseler Institutionen gestiegen, zugleich jedoch der Einfluss Europas in der Welt geringer geworden ist, zeigt, dass zu einem starken Europa unbedingt auch souveräne Mitgliedsnationen gehören.

Das Gespräch führte René Nehring.

Dr. Bence Bauer ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts am Mathias-Corvinus-Collegium in Budapest.
www.mcc.hu https://magyarnemetintezet.hu/de/


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Kommentare

Kersti Wolnow am 19.03.24, 13:10 Uhr

dass viele Debatten der Deutschen über Ungarn im Grunde Debatten der Deutschen über sich selbst sind.

Die Angloamerikaner betrachten die Deutschen seit gut 100 Jahren als ihren Erzfeind. Nach 1945 müssen deutsche Politiker der von ihnen okkupierten BRD eine antideutsche Politik betreiben, seit 1990 bezieht sich diese auch auf die ehemalige DDR. Sie sind zu Selbsthaß und Selbstaufgabe gezwungen. Mit der DM gaben sie das letzte Stückchen Selbständigkeit auf.

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