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Eine Volkspartei am Abgrund

Wenige Tage nach den Ereignissen von Thüringen haben die Erschütterungswellen die Bundespolitik erreicht. Der Rücktritt der CDU-Vorsitzenden offenbart die tiefe Verunsicherung der größten Regierungspartei

René Nehring
13.02.2020

Die Erschütterung ist groß und nachhaltig. Seitdem in der vergangenen Woche der Liberale Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, versuchen CDU und FDP, möglichst hohe Dämme zur Alternative für Deutschland zu errichten und jegliche Zusammenarbeit mit ihr auszuschließen. Mit zum Teil schrillen Tönen weisen sie sich zudem die Schuld für die entstandene Lage zu. Mit dem Rückzug Annegret Kramp-Karrenbauers vom Amt der CDU-Vorsitzenden ist aus einem lokalen Ereignis eine veritable Krise der gesamten Republik geworden.

In der Aufregung der vergangenen Tage blieb freilich eine bedeutsame Frage unberücksichtigt: Wie konnte es überhaupt zu den Erfurter Verhältnissen kommen? Wie konnte es insbesondere dazu kommen, dass die thüringische CDU, die seit der Gründung des Freistaates 1990 lange stabil über 40 Prozent der Wählerstimmen eingefahren hatte und mit Bernhard Vogel 1999 sogar die absolute Mehrheit gewann, bei den Landtagswahlen im Herbst des vergangenen Jahres nur noch 21,8 Prozent erzielte?

Noch bei der Landtagswahl 2014 waren die Christdemokraten mit 33,5 Prozent stärkste Kraft geworden, mit über 5 Prozent Vorsprung vor den Linken. Diese Wahl fand jedoch vor der migrationspolitischen Wende von Bundeskanzlerin Merkel im Sommer 2015 statt. Seit jenen schicksalhaften Tagen hat die Union – einschließlich der CSU – bei nahezu allen Wahlen dramatisch an Zustimmung verloren: 2016 in Baden-Württemberg 12,0 Prozent, 2017 bei der Bundestagswahl 8,6 Prozent, 2018 bei den Landtagswahlen in Bayern 10,5 Prozent und in Hessen 11,3 Prozent sowie 2019 bei der Wahl zum Europäischen Parlament 7,5 Prozent, bei der Landtagswahl in Sachsen 7,3 Prozent und eben in Thüringen 11,8 Prozent.

Niedergang ohne Folgen

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Verantwortung für den Zustand der CDU keineswegs in Erfurt liegt, sondern in Berlin. Normalerweise würde eine solch verheerende Entwicklung ernsthafte Debatten über den Kurs der Partei und das Spitzenpersonal auslösen. Als die SPD im Frühjahr 2005 ihr traditionell wichtigstes Land Nordrhein-Westfalen verlor, stellte deren Bundeskanzler Gerhard Schröder sofort die Vertrauensfrage, um diese Dynamik gar nicht erst in Gang geraten zu lassen.

Nicht jedoch bei der CDU unserer Tage. Hier konnte Angela Merkel, die in den letzten 20 Jahren – zunächst als Partei- und Fraktionsvorsitzende, dann als Bundeskanzlerin – wie niemand sonst den Kurs der Partei geprägt hat, trotz aller Wahlniederlagen einfach weitermachen. Zwar legte sie vor anderthalb Jahren den Vorsitz ihrer Partei nieder, doch wagte es bisher keiner zu fordern, dass Merkel auch ihr Amt als Bundeskanzlerin niederlegen müsse, um der Union einen echten Neuanfang zu ermöglichen.

Diese Zurückhaltung ist mehr als erstaunlich. Denn die Stimmenverluste der Union unter der Ägide Angela Merkels kamen ja nicht aus heiterem Himmel, sondern gingen einher mit fundamentalen Kursänderungen auf grundlegenden Politikfeldern: zum Beispiel in der Energiepolitik, im Verkehrswesen (Stichwort: Diesel) und in der Migrationspolitik, die wiederum dramatische Folgen für die innere Sicherheit hatte. Auf diesen und anderen Gebieten gab die Partei nach und nach klassische Grundsätze auf und näherte sich – mit dem Ziel einer neuen Koalitionsoption – insbesondere den Grünen als potenziellem Partner an.

Um so bemerkenswerter ist, wie treu die CDU mit ihren hunderttausenden Mitgliedern und tausenden Mandatsträgern auf allen Ebenen des Staates der Kanzlerin auf deren Weg der programmatischen Entkernung folgte und dabei wacker eine Wahlklatsche nach der anderen erduldete. Selbst als sich nach der Bundestagswahl 2017 die Freien Demokraten einer Regierungsbeteiligung verweigerten, weil sie keine Lust hatten, nur der lästige Mehrheitsbeschaffer in einem eigentlich schwarz-grünen Bündnis zu sein, gab es keinerlei Nachdenken darüber, ob der Kurs der Partei noch der richtige ist, wenn sich der jahrzehntelange natürliche Koalitionspartner abwendet.

Ebenso folgenlos blieben lange Zeit die Gründung der AfD und deren rasante Wahlerfolge, obwohl gerade diese dokumentierten, dass sich nicht nur geringe Teile des Bürgertums von der Union abgewendet haben, sondern Millionen Wähler. Anstatt in sich zu gehen und zu fragen, wie diese verprellten Bürger wieder zurückzugewinnen wären, ließen die Kanzlerin und ihre Getreuen die Wirtschaftsliberalen und Konservativen einfach ziehen und rückten noch ein Stückchen weiter zu den Grünen und Sozialdemokraten hin-über. Solange die CDU nach den jeweiligen Wahlen noch eine Regierungsbeteiligung erreichen konnte, blieb die Welt in Ordnung.

Ende einer Entwicklung

Mit Thüringen ist dieser Weg nun an ein Ende gekommen. In einem Bundesland, in dem die CDU lange Zeit so etwas wie die Staatspartei war, ist sie nur noch hilflose Getriebene. Die Parteien links und rechts von der Mitte geben nicht nur den Ton an – sie sind inzwischen die eigentlichen Gestalter der politischen Ereignisse. Die Kraft der Union reicht offenkundig nur noch aus, um – mit der ganzen Autorität des Kanzleramtes – die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten zu torpedieren und ihn zum Rücktritt zu nötigen. Eine positive Gestaltungsoption hat sie nicht mehr.

Natürlich lässt sich einwenden, dass Thüringen nur ein einzelnes Bundesland ist. Doch zeigt das Schicksal des sozialdemokratischen Koalitionspartners, wie schnell aus einem vermeintlichen Ausrutscher ein Dauerzustand werden kann. 1999 stürzten die Genossen im Nachbarland Sachsen auf 10,7 Prozent ab, inzwischen sind sie auch auf Bundesebene fast auf diesem Niveau angekommen. Zudem zeigen auch die oben genannten Ergebnisse in den anderen Ländern einen deutlichen Trend.

Die Vorgänge in Thüringen und die Reaktionen darauf offenbaren nicht zuletzt auch die personellen Schwächen an der gegenwärtigen Spitze der Union. Natürlich sollte man sich vor historischen Vergleichen hüten, da diese zumeist hinken: Aber die führenden Köpfe von CDU und CSU vergangener Tage liefen oftmals erst richtig zu Hochform auf, wenn sie unter öffentlichem Druck standen. Als Konrad Adenauer 1952 mit den westlichen Besatzungsmächten den Bonner Vertrag über die Teilsouveränität der Bundesrepublik abschloss, erfuhr auch er von der damaligen Linken und der Presse vollen Gegenwind – und reagierte mit der legendären Formel: „Wir stehen vor der Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit. Wir wählen die Freiheit!“ Als die sozialliberale Koalition in den 70er Jahren mit den Ostverträgen eine abschließende Antwort auf die offene deutsche Frage geben wollte, zog die bayerische Staatsregierung unter Franz Josef Strauß vor das Bundesverfassungsgericht und bewirkte, dass das Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands nicht aufgegeben werden durfte. Und als 1982/83 hunderttausende gegen die Nachrüstungspolitik der NATO demonstrierten, beugte sich der frisch gewählte Kanzler Helmut Kohl (wie schon sein sozialdemokratischer Vorgänger Helmut Schmidt) keinesfalls dem enormen Druck der „Friedensbewegung“.

Geradezu legendär war auch Kohls Auftreten 1991 in Halle, als er von Jusos mit Eiern beworfen wurde und sich nicht hinter seinen Leibwächtern versteckte, sondern direkt auf die pöbelnden Demonstranten losging. Heute reichen ein paar linke Demonstranten vor dem Thüringer Landtag und ein paar Zwischenrufe des politischen Gegners – und die Kanzlerin dekretiert von Südafrika aus, dass die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten mit den Stimmen der CDU ein „unverzeihlicher“ Fehler sei und deshalb „rückgängig gemacht werden muss“, weil der Mann der Mitte Stimmen von der falschen Seite bekommen hatte.

Der Vergleich zu Kohl ist auch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Während der alte Kanzler fast jede große Rede mit den Worten „Gott schütze unser deutsches Vaterland!“ beendete – unter anderem kurz vor Weihnachten 1989 in Dresden –, nahm seine Nachfolgerin am Abend der Bundestagswahl 2013 dem braven Parteisoldaten Hermann Gröhe die Deutschlandfahne aus der Hand, die jener jubelnd über das Wahlergebnis auf die Bühne des Adenauer-Hauses mitgebracht hatte. Wohlgemerkt: die schwarz-rot-goldene Flagge, die noch immer die offizielle Flagge der Bundesrepublik Deutschland ist. Derlei Gesten sagen mehr als alle Parteiprogramme.

Ausblick

Wie sehr sich in der Ära Merkel die Koordinaten der CDU verschoben haben, zeigt nicht zuletzt der Umgang mit der Werteunion. Anstatt froh darüber zu sein, dass es nach der Gründung der AfD noch eine Gliederung gibt, die den verbliebenen Konservativen eine Heimat innerhalb der Partei bietet, wird die Werteunion verbissen bekämpft; zum Teil mit einem Vokabular („Krebsgeschwür“, Elmar Brok und Annette Widmann-Mauz), das an die schlimmsten Zeiten der jüngeren deutschen Geschichte erinnert.

Wer auch immer das Erbe von Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer antreten wird, steht vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. Er – zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe wurden nur männliche Kandidaten genannt – muss einerseits die verprellten Konservativen und Wirtschaftsliberalen zurückgewinnen und zugleich verhindern, dass auf der anderen Seite des politischen Spektrums Wähler zu den Grünen oder der SPD abwandern. Es geht also weniger darum, nach „rechts“ oder „links“ zu rücken, sondern überhaupt erst einmal wieder eine Glaubwürdigkeit zu gewinnen, die den Wählern verschiedenster Richtungen eine Orientierung bietet.

Vor allem muss der Neue schnellstmöglich einen Wechsel im Kanzleramt herbeiführen. Ansonsten wird auch er wie AKK ein König ohne Land sein, den die Kanzlerin jederzeit mit ihrer Richtlinienkompetenz in die Parade fahren kann. Dann wird für die Union alles beim alten bleiben – was bedeutet, dass es für sie weiter nach unten gehen wird.


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