02.08.2025

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Geschichte

Erinnerung an die Flucht aus Ostpreußen

Julian Patzer interviewte Zeitzeugen, die 1945 noch Kinder oder Jugendliche gewesen sind

Dagmar Jestrzemski
02.08.2025

Schätzungsweise 2,3 Millionen Menschen mussten seit 1944 aus ihrer ostpreußischen Heimat in den Westen flüchten oder wurden nach dem Kriegsende von den Polen und Sowjets vertrieben. Ungezählt sind die grausam ermordeten, vergewaltigten und verhungerten Frauen, Männer und Kinder. In der wissenschaftlichen Literatur wurden jedoch Zeitzeugenberichte bei der Aufarbeitung der Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten und aus Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa jahrzehntelang kaum in größerem Umfang berücksichtigt.

Das änderte sich in den 90er Jahren. Zeithistoriker erkannten, dass die Themen Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten vorbehaltlos und unter Einbeziehung der Erfahrungsberichte, mündlich und schriftlich, aufgearbeitet werden müssen. Die seither erschienene wissenschaftliche Literatur, die dies berücksichtigt, ist umfangreich. Traumatherapeuten wiesen nach, dass die Erfahrung von Heimatverlust und plötzlich hereinbrechender Gewalt in den Familien über Generationen hinweg nachwirken und noch Einfluss auf die Biographien der Enkelgeneration haben kann, ohne dass dieser Einfluss bewusst wahrgenommen wird. Sogar die epigenetische Regulation im menschlichen Organismus kann davon betroffen sein.

Erwähnt man jedoch Ostpreußen und Königsberg im Gespräch mit Heranwachsenden, wird deutlich, dass dazu kaum noch Kenntnisse im Schulunterricht vermittelt werden. Wenn junge Menschen ein besonderes Interesse an Ostpreußen, seiner Kultur und an den Schicksalen der einstigen Einwohner entwickeln, ist das eine seltene Ausnahme. Der im Jahr 2000 in Höxter geborene Geschichtsstudent Julian Patzer interessierte sich schon in seiner Kindheit für die Geschichte seiner Familie, deren Wurzeln überwiegend in den ehemaligen deutschen Ostgebieten liegen. Viel war es jedoch nicht, was er von seinen Eltern dazu noch in Erfahrung bringen konnte. Die Angehörigen der Großelterngeneration haben offenbar so gut wie nie über ihr Leben in den vormaligen deutschen Ostgebieten und über ihre Fluchterlebnisse gesprochen, sind wohl auch von ihren Kindern kaum danach gefragt worden. Vielleicht als eine Art von Ersatz für den Mangel an Kenntnissen zur eigenen Herkunft entschloss sich der angehende Historiker Patzer, seine Bachelorarbeit an der Universität Göttingen über Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen aus dem Blickwinkel der Erlebnisgeneration zu schreiben.

Die Enkelgeneration stellte Fragen
Dazu wurden sorgfältig Fragestellungen für Interviews mit Zeitzeugen vorbereitet, die ihre Kindheit und ersten Jugendjahre in Ostpreußen verbrachten und den plötzlichen Aufbruch, Hunger, Kälte, Gewalt und Todesangst auf ihrer Flucht in den Westen bewusst erlebt haben. Er fand fünf hochbetagte Zeitzeugen, die bereit waren, über diesen prägenden Abschnitt ihres Lebens Auskunft zu geben. 2024 reichte Patzer seine Bachelorarbeit ein, die jetzt auch als Buch vorliegt. Der Titel lautet „Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen. Erlebnisse und Nachwirkungen junger Menschen auf dem Weg in den Westen“.

Der Kontakt zu seinen Gesprächspartnern wurde über die Landsmannschaft Ostpreußen der Ortsgruppe Holzminden, Kreisstadt im niedersächsischen Landkreis Holzminden, hergestellt. Mit vier Interviewpartnerinnen und dem pensionierten Pastor Günter Grigoleit führte Patzer Interviews mit denselben vorbereiteten Fragen. Sie alle wuchsen im nordöstlichen Ostpreußen auf, in Königsberg und im Memelland in den Städten Tilsit und Heydekrug und der Ortschaft Tusseinen im Landkreis Tilsit-Ragnit.

Insgesamt haben diese Zeitzeugen viel Glück auf ihrer Flucht gehabt. Ilse Kuhrau geb. 1932 in Ragnit und aufgewachsen in Tusseinen im Kreis Tilsit-Ragnit, schilderte das grausigste aller hier geschilderten Fluchterlebnisse. Im Flüchtlingstreck zogen die Familien im Januar 1945 aus der Gegend von Braunsberg weiter. Notgedrungen nahmen sie den Weg über das zugefrorene Frische Haff zur Nehrung, um in den Danziger Werder zu gelangen. Die verzweifelten Menschen wurden von russischen Tieffliegern beschossen. Durch den Beschuss wurden Löcher in das Eis gerissen. Kuhrau sah, wie Menschen im Todeskampf und angespannte Pferde im eisigen Wasser des Haffs versanken. Wie die damals 13-Jährige diese schrecklichen Bilder, die sie nur andeutungsweise schildert, im späteren Leben verarbeitet hat, kommt hier nicht zur Sprache. Nach der Ankunft des Flüchtlingsschiffes in Kopenhagen verbrachte sie mit ihrer Familie drei Jahre in dänischen Lagern. Heute lebt sie in Uslar im niedersächsischen Landkreis Northeim.

Die Flucht von Ingeborg Eggers und Gisela Ehrenberg aus Königsberg endete im Landkreis Holzminden. Anfang März flüchteten sie auf einem Schiff von Gotenhafen nach Swinemünde, wo sie einen Tag vor dem verheerenden Fliegerangriff auf die Stadt am 12. März ankamen. Wie es auf dem mit 600 Personen überfüllten Schiff zuging, wird nicht geschildert.

Die ausführlichsten Auskünfte auf seine Fragen erhielt Patzer von Günter Grigoleit, der 1930 in Heydekrug zur Welt kam und in einer pietistisch-gläubigen Familie aufwuchs. Grigoleit verfügt noch über einen ungewöhnlich umfangreichen Schatz von Erinnerungen. Mit seiner Familie lebte er nach seiner Flucht in Elmshorn im Süden Schleswig-Holsteins. Es gelang ihm, auf dem zweiten Bildungsweg per Fernstudium Theologie zu studieren. 1970 ging sein Herzenswunsch in Erfüllung: Er wurde Pastor in Holzminden.

Inge Teiwes, eine Tante des Autors, wurde 1935 in Tilsit geboren. Dafür, dass sie im Alter von zehn Jahren auf die Flucht ging, hat sie recht konkrete Erinnerungen an die Orte entlang ihrer Fluchtlinie bewahrt. Erstaunlicherweise glaubten sie und ihr Cousin damals, dass sie verreisen würden, weil man es ihnen „eingebläut“ hatte. Über Mecklenburg gelangte die Familie nach Merxhausen in Nordhessen. Im Jahr 2024 ist sie dort verstorben.

Fragen stellte Patzer seinen Interviewpartnern auch bezüglich der im Titel seines Buches erwähnten Nachwirkungen. Den Antworten nach zu urteilen, scheinen seine Gesprächspartner ihre traumatischen Flucht- und Nachkriegserfahrungen insgesamt gut verarbeitet zu haben. Den Abschluss des sowohl im Fließtext als auch in den Interviews übersichtlich gestalteten Buches bildet jeweils eine Doppelseite mit Fotos zu jedem der Zeitzeugen.

Julian Patzer: „Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen. Erlebnisse und Nachwirkungen junger Menschen auf dem Weg in den Westen“, Fabuloso Verlag, Bilshausen 2025, broschiert, 310 Seiten, 17 Euro. Bezug über: patzer.julian@web.de, Telefon (05532) 2167


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