16.09.2024

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Ministerpräsident mit gerade einmal 40 Jahren: Miklós Németh, hier während eines Parteitags der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im Mai 1989
Foto: action pressMinisterpräsident mit gerade einmal 40 Jahren: Miklós Németh, hier während eines Parteitags der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im Mai 1989

„Es gab nur eine Lösung – die vollständige Öffnung der Grenze“

Die Geschichte eines Mannes, der 1989 den Eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich aufriss und damit den Weg zur deutschen Einheit freimachte

Im Gespräch mit Miklós Németh
08.09.2024

Die Ereignisse von 1989/90 sind längst Geschichte. 35 Jahre später sind unzählige historische Abhandlungen und Memoiren der Protagonisten und Zeitzeugen erschienen, sodass die meisten Fakten hinlänglich bekannt sind. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet die Rolle einer der Schlüsselfiguren dieser historischen Entwicklungen der deutschen Öffentlichkeit noch immer kaum bewusst ist. Ein Treffen am Plattensee mit jenem Mann, der im Frühjahr und Sommer 1989 in mehreren Schritten den Eisernen Vorhang öffnete.

Herr Németh, bevor wir zu den Ereignissen von 1989 kommen, möchte ich gern über die Vorgeschichte sprechen. Sie wurden im November 1988 Ministerpräsident der Volksrepublik Ungarn. Sie übernahmen dieses Amt von Károly Grósz, der nur ein Jahr zuvor beide Funktionen, die Führung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei sowie der Regierung, von dem langjährigen kommunistischen Anführer János Kádár übernommen hatte. Wie kam es, dass Sie im Alter von gerade einmal 40 Jahren Regierungschef wurden?
Ungarn hatte in den 80er Jahren ähnliche finanzielle Probleme wie Polen 1981, als das Land bankrottging, dort Unruhen ausbrachen und das Kriegsrecht verhängt wurde. Die Kassen unserer Nationalbank waren leer. Und keiner der Leute auf der Apparatschik-Ebene hatte eine Ahnung, wie man den großen Abgrund vermeiden konnte.

Aber anders als in Polen waren die ungarischen Kommunisten klug genug, eine jüngere Generation in Aktion treten zu lassen, zu der auch ich gehörte. Ich hatte nicht nur in Budapest, sondern auch in den Vereinigten Staaten Wirtschaftswissenschaften studiert und kannte somit das Wesen der Marktwirtschaft, der Geld- und der Haushaltssysteme. So wurde ich zunächst Mitarbeiter der wirtschaftspolitischen Abteilung des Zentralkomitees und empfahl zusammen mit anderen Experten ein Maßnahmenpaket, das uns half, den Staatsbankrott abzuwenden. Und so wurde ich 1986 Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung des ZK und im November 1988 Premierminister von Ungarn.

Aber ein reformorientierter Premierminister allein macht noch keine neue Politik.
Das stimmt. Deshalb bin ich nach meiner Ernennung zu Grósz gegangen und habe ihm gesagt, dass ich gern eine eigene Regierung aus Experten, denen ich vertraue, bilden würde. Und er sagte: „Wenn es dir gelingt, ein ‚Ja' von der Volksfront zu bekommen“ – Ungarn wurde wie die DDR von einer Mehrparteienkoalition unter kommunistischer Führung regiert –, „werde ich das Zentralkomitee bitten, auf das Vorrecht zu verzichten, die Mitglieder der Regierung zu ernennen.“

Und Grósz hielt sein Wort. So schrieben das Zentralkomitee der kommunistischen Partei und die Volksfront im Mai 1989 offiziell einen Brief an den Parlamentspräsidenten, dass sie von nun an auf ihr Recht zur Ernennung, Auswahl und Abberufung des Ministerpräsidenten und der Minister verzichten würden. Das war der eigentliche Beginn des Übergangs, weil ich so die Nabelschnur zwischen der Regierung und der Partei durchtrennte.

Was waren Ihre Ziele, als Sie anfingen?
Neben der Lösung der wirtschaftlichen Probleme war es mein Hauptziel, zu jenem Punkt zurückzukehren, an dem Ungarn seinen Weg nach vorn verloren hatte. Das war 1948. Bis dahin war Ungarn eine Republik, doch dann übernahmen die Kommunisten die Macht und beseitigten die Demokratie. Ich wollte an diesen Punkt zurückkehren und einen neuen Weg der Freiheit und Demokratie einschlagen.

Ein großes Glück für mich war, dass Michail Gorbatschow zu dieser Zeit bereits Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war. Zuvor war er im sowjetischen Zentralkomitee für die Landwirtschaft zuständig gewesen. In dieser Funktion war er 1984 nach Ungarn gekommen, und ich hatte die Aufgabe, das Besuchsprogramm zu organisieren und den Gast aus Moskau zu begleiten. Gemeinsam besuchten wir Staatsbetriebe, Genossenschaften, Privatbetriebe und große landwirtschaftliche Fabriken.

Ich erinnere mich noch an das Gesicht von Gorbatschow. Klare Augen, ein Lächeln, kein Versuch, einen mit der Zunge zu küssen, nicht einmal eine Umarmung. Er begrüßte einen einfach auf eine zivilisierte Art und Weise. Er machte sich die ganze Zeit über Notizen und am zweiten Tag wandte er sich an mich und sagte: „Von nun an, Genosse Németh, nennen Sie mich bitte nicht mehr Genosse Gorbatschow, sondern Michail Sergejewitsch.“

Ihr erstes Treffen als Premierminister mit ihm hatten Sie dann 1989?
Ja. Am 3. März fuhr ich nach Moskau, um Nikolai Ryschkow, den Vorsitzenden des Ministerrats der Sowjetunion, zu treffen. Geplant war auch ein zwanzigminütiger Besuch bei Gorbatschow, aus dem dann zweieinhalb Stunden wurden.

Ich hatte fünf wichtige Punkte mit nach Moskau gebracht. Der erste war zu prüfen, ob die Breschnew-Doktrin über die „begrenzte Souveränität“ der kommunistischen Staaten noch galt oder nicht. Ich zitierte also einige Sätze aus vorherigen Reden Gorbatschows und fragte: „Irre ich mich, Michail, wenn ich es so interpretiere, dass ihr von nun an nicht mehr in die sozialistischen Länder eingreifen werdet?“ Und er sagte: „Jede Regierung ist für ihr Volk und ihr Land selbst verantwortlich.“ Daraufhin sagte ich: „Ich verlange nicht, dass du zustimmst, ich berichte dir nur, dass wir sehr bald den Eisernen Vorhang an der ungarisch-österreichischen Grenze niederreißen werden.“ Und er sagte lediglich: „Das liegt an euch.“

Gorbatschow war übrigens nicht der erste ausländische Politiker, mit dem ich über dieses Thema gesprochen habe. Das war der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky Ende Januar 1989. Als ich Vranitzky von meinen Plänen erzählte, war der jedoch keineswegs glücklich. Ich erklärte ihm, dass wir nicht genug Geld hatten, um den Eisernen Vorhang zu renovieren, und er sagte: „Gut, Sie haben etwas Geld in Ihrem Budget gespart, aber durch diese Ankündigung haben Sie einige Milliarden Schilling zusätzlich auf mein Budget gelegt! Denn ab jetzt muss ich die Grenztruppen auf der österreichischen Seite verstärken.“

Stimmt es, dass Sie, als Sie Premierminister wurden und sich den Haushalt für 1989 ansahen, erstaunt waren über einen riesigen Posten darin, der keinen Namen hatte?
Nur ein Codename, ja. Ich habe die Haushaltsexperten gefragt, was sich hinter diesem Code verbirgt, und die sagten mir, dass es sich dabei um die veranschlagte Summe für die Sanierung des Eisernen Vorhangs handelt. Ich sagte, dass wir uns diese Kosten nicht mehr leisten könnten und besprach das auch mit Grósz, der zustimmte, aber meinte, dass wir uns dafür mit den Russen abstimmen müssten. Also sagte ich: „Okay, ich fahre nach Moskau und trage das Gorbatschow vor.“

Mein zweiter und dritter Punkt bei meinem Treffen in Moskau waren der Abzug der sowjetischen Truppen und der Langstreckenraketen mit Atomsprengköpfen von ungarischem Boden. Mein vierter Punkt war die Wiederherstellung unserer Beziehungen zum Vatikan und einigen anderen Staaten. Der fünfte Punkt war die Finanzierung des Regimes des Warschauer Paktes. Ich sagte zu Gorbatschow, dass ich dafür von jetzt an keinen Cent mehr geben werde, weil wir diesen letzten Cent brauchen, um Ungarn am Leben zu erhalten. Er sagte: „Im Grunde hast du Recht. Aber wenn ihr keinen Beitrag in harter Währung leistet, werdet ihr von diesem Moment an unser Öl und Gas in harter Währung auf dem Weltmarktniveau bezahlen.“ Ich dachte, wenn das der Preis für mehr Souveränität ist, dann soll es so sein.

Darüber hinaus habe ich Gorbatschow auch gesagt, dass ich unser Land zu den ersten freien Wahlen und einem offenen Mehrparteiensystem führen würde. Doch damit war er nicht einverstanden. Auch er wollte zu einem Punkt zurückkehren, an dem sein Land eine falsche Richtung eingeschlagen hatte. Aber nicht, wie ich, zu dem Punkt, an dem das Land vom demokratischen Weg abgewichen war, sondern zu Lenins Neuer Ökonomischer Politik, die der Sowjetunion zwar einen gewissen Wohlstand gebracht, aber die Macht der kommunistischen Partei nicht angetastet hatte.

Bevor ich ging, sprachen wir über die Intervention in Ungarn im Jahr 1956, und am Ende hob er die Arme von seinem Stuhl und sagte: „Solange ich auf diesem Stuhl sitze, wird sich '56 niemals wiederholen.“

Sie konnten also von nun an ziemlich sicher sein, dass es kein sowjetisches Eingreifen geben würde, wenn Sie den Eisernen Vorhang einreißen würden.
Richtig. Aber natürlich konnten wir uns nicht absolut sicher sein. Deshalb haben wir Ende April 1989 mit einer offiziell geheimen, aber gut sichtbaren Aktion im Dreiländereck zu Österreich und der Tschechoslowakei begonnen. Wir begannen, den Stacheldraht vor den Augen unserer Nachbarn und der Russen aufzurollen – und es gab keinen Telefonanruf!

Die einzige Reaktion war, dass die Russen einige Tage später 10.000 ihrer Soldaten aus unserem Land abzogen. Das war ein starker Beweis dafür, dass Gorbatschow sein Wort halten würde. So konnten wir im April und Mai den Stacheldraht entlang unserer Grenze zu Österreich weiter aufrollen, und im Juni gab es praktisch keinen Eisernen Vorhang mehr zwischen unseren Ländern.

Doch die Welt nahm keine Notiz davon.
Genau. Deshalb schlug das Außenministerium in Wien eine Veranstaltung vor, bei der die österreichischen und ungarischen Minister symbolisch den Eisernen Vorhang durchschneiden sollten. So kam es am 27. Juni zu der berühmten Veranstaltung in der Nähe von Sopron zwischen Alois Mock und Gyula Horn.

Der Witz an der Sache ist, dass der Zaun zu diesem Zeitpunkt praktisch gar nicht mehr existierte. Wir mussten also 200 Meter Grenze wieder hinstellen, damit die beiden Minister etwas zum Zerschneiden hatten. Wenn man sich die Bilder genau ansieht, erkennt man, dass diese Drähte niemals eine Grenze gewesen sein können. Aber die Medien glaubten es und feierten den Tag als den Moment, an dem der Eiserne Vorhang durchschnitten wurde.

Für mich war es wichtiger, dass es immer noch keine Reaktion aus Moskau gab. So hatten wir einen weiteren Beleg dafür, dass wir unseren Weg fortsetzen konnten.

Wie waren die Reaktionen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten?
Im Juli 1989 fand in Bukarest ein Treffen des Bündnisses statt. Alle kommunistischen Führer waren anwesend. Da Honecker im Krankenhaus lag, leitete Willi Stoph die DDR-Delegation, aber während des Treffens brach er zusammen und wurde nach Berlin geschickt.

Und dann hat der Gastgeber Ceaușescu mit Unterstützung der Tschechoslowaken, der Bulgaren und der Reste der DDR-Delegation – vor unseren Augen (!) – eine Intervention des Warschauer Paktes angeregt. Natürlich sprachen sie nicht von Militär. Sie sprachen freundlich davon, den Genossen in Polen und vor allem in Ungarn „zu helfen“ ... Und Gorbatschow? Er hat mir freundlich zugezwinkert. Und als er als letzter Redner sprach, erwähnte er keine der von Ceaușescu, Husák oder Schiwkow angesprochenen Punkte.

Auf dem Weg zum Abendessen legte er mir dann den Arm um die Schulter und sagte: „Miklós, wie geht es euren Gästen am Balaton und in Budapest?“ Er hatte also Berichte über die DDR-Flüchtlinge – ich nenne sie so, weil ihre Landsleute echte Flüchtlinge waren –, die da bereits zuhauf in Ungarn waren. Mehr geschah nicht. Das war also wieder ein Beweis, dass wir Gorbatschow vertrauen konnten.

Die Flüchtlinge aus der DDR spielten eine wichtige Rolle in der Dynamik der folgenden Wochen ... Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Öffnung des Eisernen Vorhangs war das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989. Waren Sie darüber im Vorfeld informiert?
Ja. Wir wussten seit ungefähr Anfang Juli davon. Die Organisatoren baten Imre Pozsgay von unserer Regierung und auf der anderen Seite Otto von Habsburg, die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung zu übernehmen. Ich unterstützte die Idee einer symbolischen vorübergehenden Öffnung der Grenze von ganzem Herzen und empfahl Pozsgay, die Einladung anzunehmen. Aber als wir die Nachricht erhielten, dass Habsburg seine Tochter Walburga gebeten hatte, ihn zu vertreten, konnten wir keinen Minister dorthin schicken. Deshalb war unsere Regierung nicht offiziell in Sopron vertreten, jedoch verlasen die Organisatoren beim Picknick ein Grußwort von Pozsgay.

Dass das Picknick am Ende nicht nur von einigen wenigen Menschen besucht, sondern von Hunderten von DDR-Bürgern überrannt wurde, war nicht verwunderlich. Denn zu diesem Zeitpunkt waren die Flüchtlinge nicht mehr nur in der westdeutschen Botschaft, sondern in unserer gesamten Hauptstadt und im Gebiet rund um den Balaton.

Wir stellten auch fest, dass überall Flugblätter verteilt wurden, die zum Picknick einluden. Ich rief Horst Teltschik an, die Schlüsselfigur im Umfeld von Helmut Kohl, und fragte ihn, ob die deutsche Regierung etwas damit zu tun habe, und er sagte nur: „Die Geschichte wird es richten, und es ist zu früh, um etwas darüber zu sagen.“ Es war also offensichtlich, dass deutsche Behörden involviert waren, und so gab ich dem Militär und der Polizei den Befehl, dass ich keine Patrouillen rund um das Picknick sehen wollte.

Eine phantastische Aufgabe spielte in dieser Zeit die Organisation der Malteser, die erst Anfang Februar '89 offiziell in Ungarn gegründet worden war. Sie wurde von Imre Kozma, einem Priester, geleitet und versorgte die Flüchtlinge mit allem, was diese brauchten. Ich bekam Berichte über 60.000, 80.000 und mehr DDR-Bürger hier. Es war eine große Anstrengung, die notwendige Hilfe für diese Menschen zu organisieren. Aber gemeinsam haben wir es geschafft.

Wie reagierten die Kommunisten in Ost-Berlin auf diese Situation?
Sie schickten ihren Verteidigungsminister Heinz Keßler. Er sprach mit seinem Amtskollegen bei uns, Ferenc Kárpáti, und sagte: „Das sind unsere Bürger.“ – „Ja, ich weiß“, antwortete Kárpáti, „aber das ist unsere Grenze.“

Wenige Tage später kam Gerhard Schürer, ein Mitglied des Politbüros, zu mir. Parallel dazu reiste Ost-Berlins Außenminister Oskar Fischer nach Moskau. Schließlich wurde ein offizielles Schreiben des gesamten Politbüros an Gorbatschow gesandt. Aber dessen Antwort, die von Schewardnadse geschickt wurde, lautete, dass dies ein Problem zwischen Ungarn und der DDR sei.

Da ich alle Informationen aus dem Umfeld von Gorbatschow hatte, konnte ich Schürer erklären, dass ich in dieser Angelegenheit auf keinen Fall einen Rückzieher machen würde. Und er flehte mich an: „Ich kann nicht mit leeren Händen zurückgehen. Würdet ihr uns wenigstens erlauben, unsere Agenten in Ungarn zu verdoppeln und zu verdreifachen und sie in die Lager gehen zu lassen und zu versuchen, unsere guten Bürger zur Rückkehr zu bewegen?“ Ich hatte Mitleid mit ihm und seiner Situation und sagte: „Okay, ihr könnt sie schicken. Viel Glück!“

Aber es war offensichtlich, dass diese Situation kein Dauerzustand sein konnte.
Exakt. Deshalb habe ich unserer Regierung gesagt, dass es nur eine Lösung des Problems gibt – die vollständige Öffnung der Grenze. Aber wir mussten die Österreicher und Westdeutschen vorher informieren, damit sie sich auf die neue Lage einstellen konnten.

So kam es, dass ich zusammen mit Gyula Horn am 25. August nach Bonn flog, um in einem Geheimtreffen auf Schloss Gymnich Kohl und Genscher zu treffen. Als ich den Deutschen von unserem Plan erzählte, kamen Kohl die Tränen. Er fragte mich mehrmals, was wir im Gegenzug dafür haben wollten. Aber meine einzige Antwort war, dass wir Ungarn keine Menschenhändler sind.

Am nächsten Morgen rief Kohl Gorbatschow an, weil er nicht glauben konnte, dass ich mich in dieser Angelegenheit nicht mit Moskau abgestimmt hatte. Deutschen und russischen Quellen zufolge herrschte nach Kohls Frage ein etwa dreißigsekündiges Schweigen am anderen Ende der Leitung. Und dann sagte Gorbatschow: „Die Ungarn sind gute Menschen, und Sie können Herrn Miklós Németh vertrauen.“

Doch die Deutschen brauchten nicht nur Zeit, um Zelte, Lebensmittel und Gesundheitseinrichtungen zu organisieren, sondern auch Sicherheitsmaßnahmen. Denn eine offene Grenze würde nicht nur Flüchtlinge, sondern auch professionelle Stasi-Agenten passieren lassen. So vereinbarten wir mit unseren deutschen Partnern, dass wir die Grenze direkt am nächsten Morgen öffnen würden, sobald sie mir meldeten, dass sie bereit waren. Wir haben uns dann auf den 6. September geeinigt.

Allerdings wurde die Grenze dann nicht am 6. September geöffnet. Warum?
Einige Tage vor dem 6. erhielt ich gegen Mitternacht einen aufgeregten Anruf von Teltschik, dass der stellvertretende SPD-Vorsitzende Karsten Voigt der deutschen Presse mitgeteilt hatte: „Wir Sozialdemokraten mussten nach Budapest fahren, um eine Lösung zu finden. Ich bin nicht befugt, Ihnen die Lösung zu nennen, aber ...“ Teltschik sagte mir auch, dass der Kanzler sehr verärgert und sehr enttäuscht von mir sei.

Was war geschehen? Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Voigt – der mit einer Delegation seiner Partei in Budapest gewesen war, um sich mit den Führern der ungarischen Sozialisten zu treffen, nicht mit mir – während dieses Treffens von unseren Plänen zur Öffnung der Grenze erfahren hatte. Es war also klar, dass wir einen anderen Tag finden mussten.

Ich rief Teltschik erneut an, berichtete, was in Budapest geschehen war, und schlug vor, die Grenze einige Tage später zu öffnen. Während des Telefongesprächs blätterte Teltschik in seinem Terminkalender, ging die Tage durch – und fragte: „Wie wäre es mit der Nacht vom 10. auf den 11.?“ Teltschik war ein treuer Soldat Kohls. Ich wusste nicht, dass an jenem Sonntagabend der Parteitag der CDU in Bremen beginnen würde. So schaute ich nur in meinen Kalender und sagte: „Ok, am Abend des Sonntags, den 10. Prima.“ Denn in Ungarn gibt es eine beliebte Fernsehsendung, „Die Woche“, die um 19 Uhr beginnt.

Der Plan war dann, dass beide Außenminister, Horn und Genscher, die Nachricht am 10. September kommentieren sollten. Doch Kohl hatte andere Vorstellungen. Im Gegensatz zu seinen innerparteilichen Gegnern Süßmuth, Späth und den anderen wusste er, dass an diesem Abend etwas Außergewöhnliches geschehen würde. So bat er die Kongressorganisatoren um einen Aufschub nach dem anderen. Als er wenige Minuten vor sieben von der Bühne trat, hielt ihm jemand ein Mobiltelefon hin. Gegen 19.10 Uhr teilte er dem Publikum dann mit, dass er gerade die Nachricht aus Budapest erhalten habe, dass die Ungarn ab Mitternacht die Grenze öffnen würden. Mit dieser Information waren die Querelen in der CDU beendet – und der Rest ist Geschichte ...

„Der Rest ist Geschichte ...“ Wie wahr! Für Sie brachte die neue Ära den Verlust der Macht. Haben Sie jemals bedauert, wie die Entwicklung von 1988 bis 1990 für Sie und Ihr Land verlaufen ist?
Die Antwort auf diese Frage hat zwei Seiten. Auf der einen war das kommunistische System unreformierbar. Außerdem hat das ungarische Volk die politische Freiheit gewonnen, die es gewollt hatte. Auf der anderen Seite kann ich jedoch als Ökonom mit der Entwicklung nicht zufrieden sein. Das hohe Tempo der Transformation führte dazu, dass sich unsere Wirtschaft nicht ausreichend auf die neue Zeit vorbereiten konnte. Infolgedessen sind die großen Industrie- und Handelsunternehmen in Ungarn heute meist Niederlassungen ausländischer Investoren.

Das Problem war, dass von dem Moment an, wo wir den Weg zu freien Wahlen freimachten, alle Oppositionsgruppen nur noch an ihren eigenen Vorteil dachten und so schnell wie möglich an die Macht wollten. Mein Ansatz war, in Ruhe zu analysieren, welchen Vorbildern für einen erfolgreichen Regimewechsel wir folgen könnten und welche Art von Kapitalismus wir eigentlich wollten – den amerikanischen, den skandinavischen, den deutschen oder den südeuropäischen? Doch ausgerechnet mir, der zuvor persönlich mit seinem Engagement für die Freiheit unseres Landes und die Öffnung des Eisernen Vorhangs ein hohes Risiko eingegangen war, wurde dann vorgeworfen, „nicht vertrauenswürdig“ zu sein, weil ich angeblich ein Kommunist sei. Sie können sich vorstellen, dass diese Erfahrung sehr enttäuschend war.

In wenigen Tagen jährt sich der 11. September 1989 zum 35. Mal. Ärgert es Sie, dass dieser Tag kaum im öffentlichen Gedächtnis verankert ist?
Die historische Erinnerung hängt meist von der politischen Gegenwart ab. Wenn unsere Sozialisten und Liberalen eine Regierung bildeten, feierten sie immer den 27. Juni, den Tag von Mock und Horn, als Hauptereignis. Und wenn die Konservativen die Regierung führen, feiern sie das Paneuropäische Picknick. Aber was wäre gewesen, wenn diese beiden Ereignisse nicht stattgefunden hätten? Hätten Herr Németh und seine Regierung die Grenze geöffnet? Die Antwort lautet: Ja.

Ich leugne keineswegs die symbolische Bedeutung der beiden Ereignisse. Aber ich bedauere, dass der 11. September 1989 – das große Ereignis, das Zehntausenden ermöglichte, ungehindert die Grenze zu überqueren und die Freiheit zu erlangen, die sie wollten – ein wenig in Vergessenheit geraten ist.

Das Interview führte René Nehring.


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